Literaturen
Seit dem 19. Jahrhundert bestehendes Konzept, nach dem jede Nation eine sprachliche Überlieferung hervorbringt, die im Zentrum die Werke künstlerischer Qualität faßt – in der Regel nach den " literarischen Gattungen" unterteilet in epische, dramatische und lyrische Produktion. Mit dem Konzept der Literaturen geht die Theorie einher, daß sich die Literatur primär in nationalen Traditionslinien entwickelt. Die Wissenschaft der Komparatistik wurde geschaffen, um den Einfluß der Literaturen aufeinander zu beschreiben. Nicht national definierte Entitäten erweitern die Debatte.
Das Konzept nationaler Traditionslinien innerhalb der Literatur
Der ursprüngliche Gebrauch des Wortes "Literatur" als Synonym für Gelehrsamkeit, erlaubte es nicht, von "Literaturen" im Plural zu sprechen. Wissen verbreitete sich im internationalen Austausch ohne nationale Traditionslinien zu beanspruchen. Literaturgeschichten, wissenschaftliche Fachbibliographien, konzentrierten sich im 17. und 18. Jahrhundert jedoch bereits auf den Vergleich nationaler Leistungen – im Hintergrund stand die Einrichtung nationaler Forschungseinrichtungen wie der Academie Française. Als im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Poesie als Gegenstand der Literaturbesprechung eine Nebenrolle gewann (die auf dem Weg ins 19. Jahrhundert die Hauptrolle wurde), wurde ein Wettstreit nationaler Poesien zum eingehenden Thema – das geschah vor allem im Deutschen, dem Sprachraum der weder über eine übergreifende nationale Politik noch über eine national verbindliche religiöse Orientierung verfügte.
Die These, es entwickele sich die Poesie oder Dichtung in nationalen Traditionen stützt sich vor allem auf den Gedanken, daß Dichtung (mehr als Fachliteratur) sprachlich gebunden ist und darum primär im eigenen Sprachraum wirke. Plausibel ist das letztlich nicht. Übersetzungen aus anderen Sprachen liest der Leser neben Literatur seines Landes, es ist unklar, warum ihn als Autor die Texte des eigenen Landes mehr beeinflussen sollten als die anderer Länder, die er, ohne daß sie sprachlich minderwertiger wären, in der eigenen Sprache liest. Man ging vor dem 19. Jahrhundert nicht davon aus, daß sich die Poesie oder der Roman (der seit Mitte des 18. Jahrhunderts zur Poesie gehört), in nationalen Traditionslinien entwickelten. (Huets bahnbrechende Geschichte des Romans von 1670 ist im alten Denkmuster selbstverständlich als internationale Geschichte verfaßt).
Nationale Literaturgeschichten
Bahnbrechend für allen weiteren Umgang mit den "Literaturen" wurde im 19. Jahrhundert die deutsche Literaturgeschichtsschreibung. Mit der Geschichte der poetischen Nationalliteratur, die G. G. Gervinus in den 1830ern vorlegte, wurde das Muster geschaffen, nach dem die "kunstvolle" sprachliche Überlieferung zum Indikator für die Lage wird, in der sich ein Sprachraum respektive eine Nation in einer jeweiligen Epoche befand. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft wurde es damit, die Poesie der Nationen zu sichten und über sie Einblicke in den Zustand, das Bewußtsein, das Lebensgefühl der "Nation" oder des "Volkes" (oder im Dritten Reich: des "Stammes") zu jeweiligen Zeiten zu gewinnen.
Das Modell, nach dem Geschichte einer einzelnen Nationalliteratur geschrieben wurde, ließ sich auf andere Nationen ausdehnen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurden die wichtigsten der heute bestehenden, nach "Philologien" geordneten Wissenschaften begründet, die die einzelnen Literaturen festlegten und aushandelten, wie Einflußlinien zwischen ihnen verlaufen. Außereuropäische Nationen etablierten ihre Literaturen im eigenen Interessen daran, Identität im Blick auf eine Geschichte ihrer poetischen und fiktionalen Werke zu behaupten. Die Entwicklung gewann überall dort an Dynamik, wo nationale säkulare Schulsysteme die jeweilige Nationalliteratur zum Unterrichtsgegenstand machen konnten. Sie gewann weitere Dynamik, wo es galt, Eigenständigkeit gegenüber Europa zu behaupten.
Vertraute Traditionslinien
Für den europäischen Raum setzte sich eine Literaturgeschichtsschreibung durch, die in ihren großen Linien Huets Geschichte des Romans auf die Geschichte der Poesie und der literarischen Gattungen ausdehnte und nun die Traditionsstränge sonderte. Die Antike ging nach dieser Erzählung mit der Völkerwanderung unter. Die Völker des Nordens brachten eigene Traditionslinien ein, die ihre Sagenwelt in die Schriftkultur überführten und in den mittelalterlichen Epen französischen Stils kulminierte. Die Renaissance bot Italien eine Vorreiterstellung (Dante, Boccacio). Um 1600 nahm Spanien kurzzeitig die Position des Impulsgebers ein (Cervantes, Calderon). Frankreich nahm den Faden im 17. Jahrhundert auf mit der Traditionslinie, die über die Scudery, Molliere, Racine und die LaFayette zu Fénelon führte. England löste mit dem Aufkommen des modernen bürgerlichen Romans ab (Defoe, Richardson, Fielding, Sterne), Deutschland bestimmte kurz die Interaktion der europäischen Literaturen mit der auf Goethes Werther folgenden Phase – in Deutschland zwischen Sturm und Drang, Klassik und Romantik unterschieden, im Ausland zumeist nur als Romantik gehandhabt. Die englische und die französische Literatur übernahmen im 19. Jahrhundert neue Führungsrollen mit der Entwicklung des modernen Romans (Dickens, Balzac, Zola), die Russische Literatur übernahm im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit Dramen und Romanen (Tolstoj, Dostojewskij, Puschkin) bevor sich im 20. Jahrhundert ein internationaleres Geflecht entwickelte.
Die Literaturen außerhalb Europas werden nur bedingt in diese große Linienführung eingepaßt, den "kleineren" Literaturen Europas werden einzelne einflußreiche Namen eingeräumt. Die einzelnen nationalen Literaturgeschichten definieren Epochen im gesetzten Rahmen mit Mittelalter, früher Neuzeit und Moderne als großen Blöcken. Je nach Stil skizzieren sie Phasen des Einflusses von Außen, des Wachsens einer Epoche, der Blüte und Eigenständigkeit und des danach folgenden Verfalls. Marktgeschichten – Literaturgeschichten, die erfassen, in wie weit Leser in Hamburg, London, Amsterdam und Paris seit Jahrhunderten die wichtigsten Bücher jewils zeitgleich lasen, sind nicht geschrieben worden.
Die Ausweitung des Konzepts: Nicht national bestimmte Literaturen
Die Literaturdiskussion ist ein Bereich gesellschaftsweiter Debatten. Zum Konzept der Nationalliteraturen kamen in der Folge parallele und quer verlaufende Konzepte: Ethnische und regionale Literaturen wurden je nach politischem Interesse konstituiert, je nach dem, ob es galt, regionalen Separatismus zu legitmieren oder, ein Aufgehen in einer größeren Nation zu befürworten, oder kulturelle Eigenständigkeit innderhalb der großen Nation zu behaupten.
Jüngste Entwicklung ist auf dem Gebiet der Literaturen die Etablierung der Postcolonial Studies, mit denen es vornehmlich um die Produktion von Literatur englischer, französischer und niederländischer Sprache durch Nachfahren der kolonialisierten Nationen geht. Autoren aus Nigeria tragen unter diesem Konzept nicht allein zur Literatur Nigerias bei, sondern zur englischen - hier gilt es, mitten in der Diskussion englischer Literatur Platz für ansonsten nach außen geordnete Autoren und ihre Diskussion zu schaffen.
Das Konzept nationaler Literaturen ließ sich schließlich auch mit weder regional noch ethnisch gefaßten Kategorien ausweiten - etwa mit geschlechtsspezifischen Betimmungen: der Moment, in dem eine eigene Geschichte der Literatur schwuler Autoren oder weiblicher Autorinnen zu schreiben ist.
In jedem dieser Momente geht es darum, mit den definierten Einheiten und den behaupteten Traditionslinien Diskussionsthemen festzulegen und Diskussionsraum zu erobern - ein Handel im großen Rahmen gesellschaftsweit geführter Diskussionen, zu denen die Literaturdebatte Themen, Expertise und Institutionen beisteuert.
Links
Universalkonzepte (die immer heimlich Gewichtungen legen)
Kurze Angaben zur Literatur gibt es in folgenden Artikeln: