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Windscale-Brand

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Am 10. Oktober 1957 kommt es in einem britischen Kernreaktor in Windscale (heute Sellafield, Großbritannien) zu einem Brand, in dessen Folge eine Wolke mit erheblichen Mengen radioaktiven Materials freigesetzt wird, die sich über Großbritannien und über das europäische Festland ausbreitet. Der Unfall wurde auf der siebenstufigen International Nuclear Event Scale als Ernster Unfall (Stufe 5) eingestuft, d. h. ein Unfall mit Auswirkungen außerhalb des Betriebsgeländes und schweren Schäden am Reaktorkern (wie z. B. der von Three Mile Island).

Hintergrund

Nachdem die USA nach Ende des zweiten Weltkrieges darum bemüht waren, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, wurde anderen Ländern durch den 1946 beschlossenen und am 1. Januar 1947 in Kraft getretenen MacMahon Act der Zugang zu Nukleartechnologie verwehrt. Die ehemaligen Aliierten trieben jedoch nationale Nukleartechnologieprogramme voran, sodass Großbritannien ab 1952 über eigene Atomwaffen verfügte, die Sowjetunion sogar schon ab 1949.

Um eine britische Bombe zu bauen, hatte die Plutoniumproduktion höchste Priorität. Als Standort wurde das Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik in Windscale an der irischen See (Cumbria, Nord-West England) ausgewählt, das über genügend Kühlwasser aus den Wastwater und Ennerdale Seen verfügte und aus Sicherheitsgründen weit weg von Gebieten mit dichterer Besiedelung gelegen war.

Trotz der Nachkriegssparmaßnahmen wurde im Herbst 1947 mit dem Bau des Meilers Pile Nr. 1 begonnen, der bereits im Oktober 1950 in Betrieb genommen wurde. Der baugleiche Pile Nr. 2 ging acht Monate später in Betrieb. Zugleich wurde die erste Wiederaufbereitungsanlage B204 errichtet, um das Plutonium zu extrahieren.

Im Februar 1952 wurden die ersten Plutoniumstücke in die Aldermaston Fabrik bei Oxford geliefert und im Oktober explodierte die erste britische Atombombe Hurricane vor der Küste Australiens.

Die Reaktoren

Datei:Windscale-Reaktor.jpg
Schema des Reaktors

Um möglichst schnell Plutonium aus natürlichem Uran zu erzeugen, werden graphitmoderierte, luftgekühlte Reaktoren mit einer Leistung von 180 MW verwendet. Der Reaktorkern besteht aus 1.966 t Graphitblöcken mit 3.444 horizontalen Kanälen, die in einem achteckigen Bereich in der Mitte des Kerns angeordnet sind. Der Kern hat einen Durchmesser von 15 m, ist 7,5 m dick und von zwei Meter dickem verstärktem Beton als Strahlungsabschirmung umgeben. Als Brennstoff dient metallisches, natürliches 238Uran, das in 28,5 cm lange, 2,5 cm dicke Aluminiumkapseln eingeschlossen ist. In jeden Kanal des Reaktors werden von der Vorderseite her 21 solcher Brennelemente geladen. Außerdem sind weitere Kanäle für Isotopenkapseln und Steuerstäbe vorhanden. Verbrauchte Brennelemente werden von Stahlstangen nach hinten aus dem Kern hinausgeschoben, wo sie in Kübel in einem Wasserkanal fallen und über einen durch 1 m dicke Betonwände abgeschirmten Wasserkanal zu dem gemeinsam für Pile 1 und 2 genutzten Abklingbecken B29 gebracht werden. Die Kühlung erfolgt durch zwei Gebläsehäuser, die durch Schächte mit der Vorderseite des Reaktorkerns verbunden sind. Die Abluft wird über einen 125 m hohen Schornstein an die Umwelt abgegeben, der oben mit Filtern versehen ist, um radioaktive Partikel zurückzuhalten. Der gesamte Reaktoraufbau hat eine Masse von etwa 57.000 t.

Die zwei Reaktoren produzierten etwa 35 kg waffenfähiges Plutonium pro Jahr. Im Zeitraum von 1951 bis 1957 wurde in der B23 Aufbereitungsanlage etwa 385 kg Plutonium erzeugt.

Der Moderator

Als die Reaktoren 1946 geplant wurden, wusste man nur, dass sich der Graphitmoderator im Reaktor bei niedrigen Temperaturen ausdehnt, was als Wigner-Effekt bezeichnet wird, sonst war jedoch kaum etwas über das Verhalten von Graphit unter Neutronenbeschuss bekannt.

Zwei Jahre nach Inbetriebnahme des Pile 1 wurde festgestellt, dass es immer wieder zu spontanen Temperaturanstiegen im Kern kommt, was schließlich darauf zurückgeführt wird, dass das Graphit des Moderators, wenn er sich durch Neutronenbeschuss ausdehnt, Wigner-Energie speichert, die später unkontrollierbar spontan freigesetzt wird. Da höhere Temperaturen wegen der Feuergefahr für das luftgekühlten Graphit als auch für die Isotopen- und Brennelemente gefährlich sind, beginnt man 1952, den Kern in regelmäßigen Abständen auszuheizen, um die Wigner-Energie abzubauen. Dazu wird die Kerntemperatur über die normale Betriebstemperatur hinaus langsam erhöht. Bis zum Oktober 1957 war dieser Prozess bereits 15 Mal erfolgreich an Pile 1 und 2 durchgeführt worden, er gestaltete sich aber zunehmend schwieriger und erforderte manchmal ein erneutes Aufheizen des Kerns, um die Wigner-Energie freizusetzen. Im Oktober 1957 kam es beim neunten Ausheizen von Pile 1 zur Katastrophe.

Der Reaktorbrand

Am 7. Oktober 1957 beginnen die Techniker mit dem Ausheizvorgang, der nach drei Tagen abgeschlossen sein sollte. Der heruntergefahrene Reaktor von Pile 1 wird bei abgeschalteten Ventilatoren um 19:25 angefahren und bei 250° C stabilisiert. Durch die freigesetzte Wigner-Energie soll die Temperatur auf den vorgesehenen Höchstwert von 350° C steigen.

Am 8. Oktober deuten die Anzeigen darauf hin, dass die vorgesehene Temperatur nicht erreicht wurde. Da das Ausheizen bei der Planung nicht berücksichtigt wurde, fehlen in beiden Reaktoren Temperaturmessstellen, um den noch nicht vollständig verstandenen Ausheizvorgang ausreichend überwachen zu können. Das Bedienpersonal ist daher auf Erfahrungswerte und die für den Normalbetrieb vorgesehenen Temperaturmessstellen angewiesen. Obwohl einige Messstellen steigende Temperatur anzeigen, entscheidet der Operator um 10:30, den Reaktor weiter anzuheizen. Um 11:05 kommt es zu einem sprunghaften Temperaturanstieg um 80° C, ansonsten bleibt über die nächsten 1 1/2 Tage alles ruhig, obwohl das Graphit des Reaktorkerns vermutlich schon brennt.

Um 5:40 am 10. Oktober zeigen Messgeräte am Schornstein und am Betriebsgelände an, dass der Reaktor Radioaktivität freisetzt. Außerdem steigt die Kerntemperatur stark an. Zuerst geht man noch davon aus, dass eine mit Lithium und Magnesium gefüllte Isotopenkapsel geborsten sei und versucht, das Problem mit einem ferngesteuerten Messgerät zu lokalisieren, dessen Betätigungsgestänge sich durch die Hitze aber bereits verklemmt hat.

Erst um 15:00 alarmiert die Bedienmannschaft die Fabriksleitung. Da bis 16:30 keine Anweisungen ergehen, öffnet ein Techniker im Schutzanzug einen Schacht an der Vorderseite des Reaktorkerns und sieht die rot glühenen Brennelemente. Es ist klar, dass der Reaktor gekühlt werden muss. Die Ventilatoren können zur Kühlung nicht verwendet werden, da sie dem Graphitbrand noch zusätzlich Sauerstoff liefern würden und wegen der durch das Feuer beschädigten Brennelemente und Isotopenkapseln noch mehr radioaktive Stoffe an die Umwelt freigesetzt würden. Wasser kann auch nicht verwendet werden, da es mit dem geschmolzenen und brennenden Uran, den anderen Metallen und dem Graphit zu Wasserstoff und Azetylen reagieren würde und eine Explosion auslösen könnte. Daher versucht man, den Brand mit 25 t flüssigem Kohlendioxid zu löschen, was aber keinerlei Wirkung zeigt. Durch die Inspektionsluken im Dach des Reaktorkerns wird um 20:30 beobachtet, dass blaue Flammen aus dem Kern schießen. Die Temperatur steigt jetzt um 20° C pro Minute, am 11. Oktober um 1:53 werden 1.300° C erreicht. Inzwischen ist am Fabriksgelände Alarm ausgelöst worden. Obwohl schon den ganzen Tag lang Radioaktivität freigesetzt wurde, wird die Öffentlichkeit immer noch nicht unterrichtet. Zum Glück weht der Wind die radioaktive Wolke auf die Irische See hinaus.

Trotz der Gefahr einer Knallgasexplosion, die den gesamten Reaktor zerstören und das radioaktive Material des Kerns großräumig freisetzten könnte, versucht man schließlich am 11. Oktober um 8:55, den Brand mit Wasser zu bekämpfen, doch nichts passiert. Über die Inspektionsluken stellen die Techniker fest, dass das Wasser wirkungslos durch die Kanäle des Kerns schießt. Erst als um 9:56 der Wasserdruck reduziert wird, fließt das Wasser in den Kern hinein und kühlt ihn ab, die dabei entstehende riesige Dampfwolke setzt jedoch weitere Mengen an Radioaktivität frei. Das Feuer erlischt jedoch erst, als um 10:10 auch die Luftzufuhr zum Reaktor unterbrochen wird. Um den Rektor bildet sich aus den 9.000 m³ Löschwasser ein radioaktiver See.

Freisetzungen

Die beim Brand freigesetzte Wolke zieht über Großbritannien bis über das europäische Festland. Während des Brandes kommt es zu zwei Freisetzungen, zunächst durch das brennende Uran, später durch den Wasserdampf beim Löschvorgang.

Die Bevölkerung wurde jedoch erst am Tag nach den Ende des Brandes gewarnt und die Milch von 17 umliegenden Farmen wird eingesammelt und in die Irische See verklappt.

Am 12. Oktober wird auch Milch aus einem 500 km² größen Gebiet, die einen Grenzwert von 3.700 Bq überschreitet, eingesammelt und vernichtet. Obwohl auch Milch weiter entfernter Farmen durch 131Iod kontaminiert ist, wird sie verkauft und Aufzeichnungen darüber von der Regierung unter Verschluss gehalten, um die Bevölkerung nicht "unnötig" zu beunruhigen. Insgesamt wurden etwa 2 Millionen Liter 131Iod kontaminierte Milch verklappt.

Man geht davon aus, dass durch den Brand insgesamt 600-1000 TBq 131Iod, 450-600 TBq 132Tellur, 20-45 TBq 137Cäsium, etwa 200 GBq 90Strontium und 1,4 TBq 210Polonium freigesetzt wurden.

Schließung

1958 - 1961

Das Gelände rund um Pile 1 wird dekontaminiert und die unversehrten Brennelemente aus dem Kern entfernt. Soweit möglich werden die Steuer- und Kontrollstäbe in den zerstörten Kern eingefahren und die Zusatzeinrichtungen am Reaktor abmontiert. Eine 80 cm dicke Zementschicht wird über die mechanischen Durchführungen in der Strahlungabschirmung gelegt, um den Kern zu versiegeln. In den etwa 20 % des Kerns, die zerstört wurden, befinden sich noch etwa 6700 durch das Feuer beschädigte Brennelemente und 1700 Isotopenkapseln. Weiterhin wurden die Gebläse und Filter der Luftkühlung aus den Gebäuden B3, B4, B13 und B14 entfernt und die Luftschächte zu den Reaktoren zugemauert.

Pile 2 wurde nach dem Brand aus Sicherheitsgründen außer Betrieb genommenen und die Brennelemente entfernt.

Bis Mitte der 1980er Jahre wurde der immer noch aktive Kern von Pile 1 lediglich überwacht. Die Strahlung ist 2005 auf etwa 1 % des Wertes nach dem Brand abgeklungen.

Phase 1

Mit der Planung der erste Phase des Abbaues wurde Ende der 1980er begonnen und 1993 die Arbeit aufgenommen. Dabei wurden die Abschirmung um den Reaktor abgedichtet, die kontaminierten Zu- und Abluftschächte geschlossen und die Wasserkanäle, die verbrauchte Elemente zum Abklingbecken B29 transportierten, versiegelt. Zudem wurden der radioaktive Schlamm aus den durch den Brand stark kontaminierten Wasserkanälen zum Abklingbecken entfernt. Dabei fand man noch 210 alte Brennelemente in den Kanälen.

Diese Phase wurde 1999 abgeschlossen, sodass der Reaktorkern nun vollständig von den Zu- und Abluftanlagen und den Kanälen zum Ablinkgbecken getrennt ist.

Der Abluftschornstein von Pile 2 wurde im Zuge dieser Arbeiten bereits entfernt.

Phase 2

Derzeit werden Anstrengungen unternommen, das 1948 angelegte Abklingbecken B29 und das 1960 angelegte Becken B30, die beide mit radioaktivem Schlamm kontaminiert sind, zu reinigen. Da das Wasser nicht einfach abgelassen werden kann, sollen Unterwasserroboter zum Einsatz kommen, die den Schlamm in Behälter füllen und die Wände der Becken und Kanäle reinigen sollen.

Der Reaktorkern soll vollständig abgebaut und für die sichere Endlagerung vorbereitet werden. Die zweite Phase soll 2012 abgeschlossen sein und beinhält den Abbau des Schornsteins von Pile 1, Abbau des Graphitmoderators und der verbliebenen 17 t an Radionukliden.

Siehe auch