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Wahlpflicht

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Die allgemeine Wahlpflicht verpflichtet die Wahlberechtigten zur Stimmabgabe bei einer Wahl, beispielsweise zu einem Parlament oder zu einem Gremium an einer Universität. Ein Nichtbefolgen dieser gesetzlichen Vorschrift kann zu hohen Strafen führen. Im Allgemeinen werden bei solchen Gelegenheiten Wählerlisten geführt, die eine Kontrolle der Stimmabgabe ermöglichen.

Wahlpflicht in Österreich

In Österreich gab es zwischen 1929 und 1982 eine Wahlpflicht bei der Bundespräsidentenwahl (vgl. Art. 60/1 B-VG). Seither bestand sie nur in denjenigen Bundesländern, die dies durch Landesgesetze eingeführt haben. Eingeführt wurde eine entsprechende Wahlpflicht in Kärnten, der Steiermark, Tirol, Vorarlberg und Oberösterreich. In Kärnten und der Steiermark wurden diese Gesetze 1993 aufgehoben und der Vorarlberger Landtag hat in seiner Sitzung vom 28. Januar 2004 die Wahlpflicht bei Bundespräsidentenwahlen und bei Landtagswahlen aufgehoben. In Oberösterreich galt dieses Gesetz bis 1982. Der Tiroler Landtag folgte im Juni 2004 der vorarlbergerischen Entscheidung. Mit der zum 1. Juli 2007 wirksam werdenden Wahlrechtsreform wurde diese Verfassungsbestimmung gestrichen und damit die Wahlpflicht bei der Wahl zum Bundespräsidenten abgeschafft.

Von 1949 bis 1992 bestand Wahlpflicht auch bei den Nationalratswahlen (Art. 26/1 B-VG) in denjenigen Bundesländern, die dies durch Landesgesetze eingeführt hatten. In der Steiermark, Tirol und Vorarlberg wurden entsprechende Landesgesetze erlassen. 1986 verordnete diese auch Kärnten. Im Jahr 1992 wurde diese Verfassungsbestimmung aufgehoben und damit die Wahlpflicht bei Nationalratswahlen abgeschafft.

Historisch gesehen resultiert die Wahlpflicht aus der Angst der Christlichsozialen Partei vor dem 1918 eingeführten Frauenwahlrecht. Sie wollte dadurch vermeiden, dass konservative Frauen ihr Recht nicht ausüben und die für das Frauenwahlrecht eintretenden sozialdemokratischen Frauen dadurch die Mehrheitsverhältnisse verändern würden.

Staaten mit Wahlpflicht

In Deutschland besteht keine Wahlpflicht, sie besteht aber zu Parlamentswahlen unter anderem in folgenden Staaten:

Land Strafe für Nichtwählen
Ägypten Geldstrafe, Gefängnis möglich
Argentinien Geldstrafe von $500
Australien $20 beim ersten Mal, bei wiederholten Fernbleiben von der Wahl bis zu Gefängnisstrafen
Belgien Geldstrafen von 50 Euro, Nichtwähler werden aber von der Staatsanwaltschaft nicht verfolgt. Der König und die Königin dürfen nicht wählen.
Bolivien Geldstrafe von 150 Bolivianos (etwa ein halber Monatslohn eines Arbeiters), auch sofortigen Einzug der Personalausweise bis zur Sperrung der Bankkonten sind möglich
Brasilien[1] geringe Geldstrafe, jedoch muss zur Bezahlung lange angestanden werden
Chile Geldstrafe, Gefängnis möglich
Ecuador Geldstrafe
Fidschi Geldstrafe, Gefängnis möglich
Griechenland Geldstrafe; regelmäßiges Wählen (nachgewiesen durch ein Wählerbuch) ist Voraussetzung für das Erteilen eines Reisepasses
Italien Geldstrafe vorgesehen, wird in der Praxis aber regelmäßig nicht durchgesetzt
Kuba vor der kubanischen Revolution von 1959 durch Armee und Polizei überwacht, nach 1959 stehen Kinder symbolisch vor den Wahllokalen Wache
Libanon (für Männer)
Libyen (für Männer)
Liechtenstein Geldstrafe
Luxemburg Geld- und Freiheitsstrafe vorgesehen, wird aber nicht angewandt
Nauru Geldstrafe
Neuseeland (Eintragung in die Wählerlisten ist verpflichtend, die Wahl selber nicht)
Paraguay Geldstrafe
Peru Geldstrafe umgerechnet ca. 40 Euro
Schweiz, Kanton Schaffhausen[2] Geldbuße von drei Franken
Singapur Nichtwähler werden aus den Wählerlisten entfernt, bis sie einen Grund angeben, warum sie wieder wählen wollen
Türkei Geldstrafe von ca. 130 Euro
Uruguay Geldstrafe

Argumente für die Wahlpflicht

  • Die Wahlpflicht soll verhindern, dass eine zu geringe Mehrheit aus der Bevölkerung zu viel Einfluss auf das Gesamtergebnis von Wahlen erhält. Bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent besteht die Hälfte der Stimmen (also die theoretische absolute Mehrheit aus der Wahl) aus nur 35 Prozent aller Wahlberechtigten.
  • Zudem wird argumentiert, dass das Wählen eine demokratische Pflicht sei, vergleichbar mit der Entrichtung von Steuern, dem Wehrdienst und der Einbeziehung von Bürgern in die Rechtsprechung in einigen Staaten. Ferner ist von unterschiedlichen Seiten auch die Rede von einer moralischen Pflicht.
  • Mit einer höheren Wahlbeteiligung soll der finanzielle Aufwand für Wahlkampf-Kampagnen reduziert werden und damit auch der Einfluss derjenigen, die den Parteien durch Spenden ihre Mittel zur Verfügung stellen.
  • Das Abklingen der Wahlbeteiligung in großen Teilen der westlichen Welt hat zu verstärktem Zuspruch für die Einführung allgemeiner Wahlpflichten geführt. Die Motivation ist dabei, dem öffentlichen Desinteresse an Politik entgegenzuwirken. Die so genannte Politikverdrossenheit stelle demnach eine potenzielle Bedrohung für die Demokratie dar und könne in einer Regierungsinstabilität resultieren.
  • Bei einer Wahlpflicht machen sich vor den Wahlen auch viele Politikverdrossene Gedanken darüber, welche Parteien sie wählen wollen oder zumindest, welche nicht. Dadurch wird populistischen oder extremistischen Parteien entgegengewirkt, welche oft nur durch eine unzufriedene Minderheit gewählt werden. Ein Beispiel sind die französischen Präsidentschaftswahlen 2002, als sich der Politiker der extremen Rechten, Jean-Marie Le Pen (FN), mit 16,86 % und einer sehr geringen Wahlbeteiligung, überraschenderweise gegen den aussichtsreichsten Kandidaten, Lionel Jospin (PSF), für die Stichwahl qualifizierte. Daraufhin kam es zu landesweiten Protesten, die meisten linken Parteien unterstützten nun sogar den späteren Amtsinhaber Chirac und es kam zu einer der höchsten Wahlbeteiligungen in der französischen Geschichte. Im zweiten Wahlgang verlor Le Pen deutlich mit 17,94 % zu 82,06 % gegen Jacques Chirac (UMP), dessen Chancen nach Umfragen gegen den zuvor ausgeschiedenen Jospin schlecht standen.
  • In Australien geht die Einführung der Wahlpflicht ursprünglich auf die enormen Verluste während des Ersten Weltkriegs zurück. Nachdem im Krieg 60.000 Australier gefallen waren (von allen Staaten prozentual am meisten), wurden Stimmen laut, dass die Australier eine Verpflichtung hätten, die mit einem so hohen Preis erkämpfte Freiheit auch wahrzunehmen. Seit den Parlamentswahlen von 1955 mit ungefähr 88 % wurde die Wahlbeteiligung von 94 % nicht unterschritten.

Argumente gegen die Wahlpflicht

  • Einige Bürger lehnen es ab, sich den Urnengang vorschreiben zu lassen, da sie generell kein Interesse an Politik zeigen oder ihnen das Hintergrundwissen zu den Kandidaten fehlt. Andere sind zwar informiert, haben jedoch keine Präferenz für eine bestimmte kandidierende Partei. Diese teilnahmslosen Wähler wären dann gezwungen, nach dem Zufallsprinzip vorzugehen, nur um ihre Verpflichtung zu erfüllen. Im englischen Sprachraum wird dieses Phänomen als "donkey vote" („Eselsstimme“) bezeichnet und kann Schätzungen zufolge in einem pflichtgebundenem Wahlsystem 1% der Wahlbeteiligung ausmachen.
  • Insbesondere Libertäre sind der Ansicht, dass die Wahlpflicht einen Eingriff in den persönlichen Freiheitsbereich und damit eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts darstelle. Demnach sollten freie Individuen die Entscheidung wählen zu gehen für sich selbst treffen.
  • Einige Gruppen verweisen darauf, dass eine niedrige Wahlbeteiligung von einem weit verbreiteten generellen Unmut über die politische Führungselite eines Staates zeuge – eine Botschaft, die bei einem erzwungenen Urnengang nicht in dieser Deutlichkeit vermittelt werden kann.
  • Politikexperten geben zudem zu bedenken, dass sich der Wahlkampf im Falle einer Wahlpflicht noch stärker auf das Anwerben der unentschlossenen, wankelmütigen Wähler konzentriert als auf das Mobilisieren der Stammwählerschaft.
  • Bei geheimen Wahlen ist nicht nachzuprüfen, ob ein Stimmzettel auch korrekt ausgefüllt wurde, sodass die Gefahr besteht, dass viele Wähler ungültige Wahlzettel abgeben.

Referenzen

  1. Timothy J. Power: Compulsory for Whom? Mandatory Voting and Electoral Participation in Brazil, 1986-2006, in: Journal of Politics in Latin America 1/2009. S. 97-122
  2. Schaffhauser Rechtsbuch, SHR 160.100: Gesetz über die vom Volke vorzunehmenden Abstimmungen und Wahlen sowie über die Ausübung der Volksrechte (Wahlgesetz) vom 15. März 1904, Art. 9