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Frühkindlicher Autismus

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Frühkindlicher Autismus (auch als Autistische Störung, Frühkindliche Psychose, Infantiler Autismus oder Kanner-Syndrom bezeichnet) einschließlich seiner Variante des hochfunktionalen Autismus wird in der Medizin eine tiefgreifende Entwicklungsstörung genannt, die schon vor dem dritten Lebensjahr auftritt. Er ist ein Zustand im Autismusspektrum, zu dem außerdem der atypische Autismus und das Asperger-Syndrom gehören.

Der Begriff „Autismus“ (v. gr. αυτός: selbst) wurde 1911 durch den schweizer Psychiater Eugen Bleuler geprägt. Autismus nannte er ein Grundsymptom der Schizophrenie, das die Zurückgezogenheit in die innere Gedankenwelt bei an Schizophrenie erkrankten Menschen meinte. Der austro-ammerikanische Psychiater Leo Kanner Vorlage:Lit beschrieb 1943 elf Fälle des heute sogenannten frühkindlichen Autismus, den er „autistische Störung des affektiven Kontakts“ nannte. Im Unterschied zu Menschen mit Schizophrenie, die sich aktiv in ihr Inneres zurückziehen, beschrieb Kanner Menschen, die primär, also von Geburt an, in einem Zustand der inneren Zurückgezogenheit leben. Damit unterlag der Begriff „Autismus“ einem Bedeutungswandel.

Symptome und Beschwerden

Die beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme für Krankheiten, ICD-10 und DSM-IV, nennen vier diagnostische Kriterien für frühkindlichen Autismus:

  1. Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion,
  2. qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation,
  3. repititive und stereotype Verhaltensmuster und
  4. Manifestation vor dem 3. Lebensjahr.

Darüber hinaus nennt ICD-10 noch unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlafstörungen, Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen und selbstverletzendes Verhalten (Automutilation).

Üblicherweise geht mit dem frühkindlichen Autismus eine Intelligenzminderung einher. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen keine Intelligenzminderung auftritt. Diese Variante des frühkindlichen Autismus wird als hochfunktionaler Autismus (engl. high-functioning-autism) bezeichnet. Er ähnelt sehr dem Asperger-Syndrom. Eine Differenzierung kann nur anhand der Entwicklung in der frühen Kindheit vorgenommen werden, insbesondere anhand des Beginns der Sprachentwicklung. Teilweise werden die Begriffe hochfunktionaler Autismus und Asperger-Syndrom auch synonym verwendet. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass beide Störungen sich in ihrem Auftreten ähneln, ignoriert jedoch, dass es sich letztlich um zwei verschiedene Störungen handelt.

soziale Interaktion

Eine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion zeigt sich als extreme Kontaktstörung, die sich schon in den ersten Lebensmonaten durch fehlende Kontaktaufnahme zu den Eltern, insbesondere der Mutter bemerkbar macht. Kinder mit frühkindlichem Autismus strecken der Mutter die Arme nicht entgegen, um hochgehoben zu werden. Sie lächeln nicht zurück, wenn sie angelächelt werden und nehmen zu den Eltern keinen angemessenen Blickkontakt auf. Dem gegenüber steht eine starke Objektbezogenheit, die häufig beschränkt ist auf eine bestimmte Art von Gegenständen. Ihre Aufmerksamkeit ist auf wenige Dinge, wie Wasserhähne, Türklinken, Fugen zwischen Steinplatten oder kariertes Papier gerichtet, die sie magisch anziehenen, sodass alles andere an ihnen vorbei geht. Oft finden sie in Gegenständen einen für andere fremden Zweck, sortieren beispielsweise die Einzelteile einer Spielzeugeisenbahn nach Größe und Farbe, oder ihr einziges Interesse an einem Spielzeugauto ist es, die Räder unablässig zu drehen.

Kommunikation

Bei Menschen mit frühkindlichem Autismus fehlt bei etwa der Hälfte der Patienten eine Sprachentwicklung ganz. Bei der anderen Hälfte der Patienten kommt es zu einer Verzögerung der Sprachentwicklung. Anfangs fehlt der Sprache die kommunikative Funktion. Wörter oder Sätze werden einfach wiederholt (Echolalie). Im Kindesalter vertauschen die Patienten oft die Pronomina. Sie reden von anderen als ich und von sich selbst als du oder in der dritten Person. Diese Eigenart bessert sich überlicherweise im Laufe der Entwicklung. Wortneuschöpfungen (Neologismen) treten häufig auf. Menschen mit frühkindlichem Autismus haften an bestimmten Formulierungen (Perseveration). In der Kommunikation mit anderen Menschen haben sie Schwierigkeiten, Gesagtes über die genaue Wortbedeutung hinaus zu verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen. Ihre Stimme klingt eintönig (fehlende Prosodie).

Probleme in der Kommunikation äußern sich außerdem in Schwierigkeiten in der Kontaktaufnahme zur Außenwelt und zu anderen Menschen. Manche Autisten scheinen die Außenwelt kaum wahrzunehmen und teilen sich ihrer Umwelt auf ihre ganz individuelle Art mit. Deshalb wurden autistische Kinder früher auch Muschelkinder oder Igelkinder genannt. Die Wahrnehmungen im visuellen und auditiven Bereich sind oft deutlich intensiver als bei neuralgisch typischen Menschen, daher scheint eine Abschaltfunktion im Gehirn die Reizüberflutung als Selbstschutz auszublenden. Autisten haben ein individuell unterschiedlich ausgeprägtes Bedürfnis nach Körperkontakt. Einerseits nehmen manche mit völlig fremden Menschen direkten und teils unangemessenen Kontakt auf, andererseits kann auch jede Berührung für sie aufgrund der Überempfindlichkeit ihres Tastsinns unangenehm sein.

Vor diesem Hintergrund gestaltet sich eine verstehende Kommunikation mit einem Autisten als schwierig. Emotionen werden oft falsch gedeutet oder gar nicht erst verstanden. Diese möglichen Probleme müssen bei der Kontaktaufnahme berücksichtigt werden und verlangen ein großes Einfühlungsvermögen.

repititive und stereotype Verhaltensmuster

Veränderungen ihrer Umwelt, wie zum Beispiel umgestellte Möbel oder ein anderer Schulweg, führen bei Autisten zu Beunruhigung und Verunsicherung. Manchmal geraten Betroffene auch in Panik, wenn sich Gegenstände nicht mehr an ihrem gewöhnlichen Platz oder in einer bestimmten Anordnung befinden. Die Tatsache, dass Autisten eine intensive Wahrnehmung für Details haben und daher auch kleine Veränderungen bemerken, verschlimmert dieses Problem. Handlungen laufen aufgrund der Probleme bei Unregelmäßigkeiten stark ritualisiert ab.

Die Interessen von Autisten sind meist auf bestimmte Gebiete begrenzt. Menschen mit hochfunktionalem Autismus können in einem Bereich ihres besonderen Interesses ein enormes Wissen ansammeln. In Ausnahmefällen zeigen autistische Menschen außergewöhnliche Begabungen in einem sehr begrenzten Gebiet, etwa im Rechnen, Malen, in der Musik oder in der Merkfähigkeit (Inselbegabung).

Einteilung nach ICD-10 und DSM-IV

Der frühkindliche Autismus wird in der ICD-10, dem Klassifikationssystem für Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, unter dem Schlüssel F84.0 aufgeführt. Das DSM-IV, die US-amerikanische Klassifikation psychischer Störungen, führt den frühkindlichen Autismus unter der Bezeichnung „autistische Störung“ unter dem Schlüssel 299.0 auf.

Ursachen

Frühkindlicher Autismus ist eine neurologische Störung und hat organische Ursachen. Fest steht, dass er nicht durch lieblose Erziehung, mangelnde Zuwendung durch die Eltern, Traumen o.ä. hervorgerufen wird. Die genauen Ursachen indes sind noch nicht geklärt. Als wahrscheinlich gelten:

  1. genetische Faktoren,
  2. Hirnschädigungen,
  3. biochemische Faktoren sowie
  4. affektive und kognitive Defizite.

Bei Familienstudien wurde festgestellt, dass es eine familiäre Häufung von Autismus gibt. Genetische Faktoren sind daher als Ursache für frühkindlichen Autismus sehr wahrscheinlich.

Verschiedene Studien haben ergeben, dass Hirnschädigungen Ursache für frühkindlichen Autismus sein können. Festgestellt wurden insbesondere eine Funktionsstörung der linken Gehirnhälfte, abnorme Veränderungen des Stammhirns in Kombination mit Aufmerksamkeitsdefizit sowie Störungen in der sensorischen Reizverarbeitung. Jedoch besteht in diesem Bereich noch weiterer Forschungsbedarf.

Bei Untersuchungen von Menschen mit frühkindlichem Autismus wurden Besonderheiten im biochemischen Bereich festgestellt. Teilweise weisen sie einen erhöhten Dopamin-, Adrenalin-, Noradrenalin- und Serotoninspiegel auf. Jedoch sind die Befunde in diesem Bereich uneinheitlich und lassen keine allgemeingültigen Schlüsse zu.

Kanner selbst ging davon aus, dass Kinder mit frühkindlichem Autismus Defizite im affektiven Kontakt aufweisen, also ihre Fähigkeit, anhand der Körpersprache anderer Menschen deren Gefühle zu erkennen, eingeschränkt ist. Dies wird auf kognitive Defizite zurückgeführt. Kinder mit frühkindlichem Autismus haben Schwierigkeiten zu verstehen, dass Menschen unterschiedliche Empfindungen haben. Außerdem wurde festgestellt, dass Autisten im Gegensatz zu neuralgisch typischen Menschen Objekte und Menschen in der gleichen Gehirnregion wahrnehmen.

Vermutlich stehen die genannten Ursachen in Wechselwirkung zueinander. Genetische Faktoren können zu Hirnschädigungen führen, die wiederum Wahrnehmungsdefizite verurachen können.

Verlauf und Behandlung

Folgen und Komplikationen

Der Frühkindliche Autismus führt zu einer weitesgehenden Isolierung des Patienten von der Umwelt und den Mitmenschen und zu erheblichen Verständigungsproblemen. Manche Autisten sind so stark betroffen, dass sie kaum noch am Umweltgeschehen teilnehmen können, sich wenig verständigen können und auch im Erwachsenenalter in speziellen Einrichtungen untergebracht werden müssen. (In vielen großen Städten gibt es Autismus-Ambulanzen, in Berlin, Bremen und Hamburg (?) auch stationäre Zentren.)

Die Stereotypien und die Angst des autistischen Patienten vor Veränderungen sowie die Wutausbrüche können die ganze Familie stark belasten.

Auch für die Eltern ist die Erkrankung eine schwere Belastung; häufig werden ihre Kinder als "ungezogen" angesehen (weil sie äußerlich "normal" wirken). Teilweise hält sich immer noch das Vorurteil, Autismus entstehe durch eine lieblose Erziehung durch die Eltern.

Eine Vorbeugung des frühkindlichen Autismus ist bislang nicht möglich.

Behandlung

Bei Frühkindlichem Autismus gibt es verschiedene Versuche einer Behandlung mit Sprach- und Verhaltenstherapie, wobei auch die Eltern und Geschwister des Kindes miteinbezogen werden. Der Erfolg hält sich meist in engen Grenzen, meist bleibt eine lebenslange Behinderung.

In einigen Fällen wird bei der Behandlung des Frühkindlichen Autismus das therapeutische Reiten eingesetzt.

Seit kurzer Zeit wird von guten Erfolgen mit einer Delfintherapie berichtet. Bei dieser Art von tiergestützter Therapie wirken die Medien warmes Wasser und Delfin zusammen. Im warmen Wasser kann der Patient sich entspannen. Es wird vermutet, dass die (gezähmten) Delfine sehr feine Sinnesempfindungen haben und die Emotionen des Patienten spüren. Wenn der Patient z. B. Angst hat, ziehen die Tiere sich zurück, wenn er Vertrauen findet, kommen sie auf ihn zu etc.

Die Delfintherapie wird (noch) nicht von den Krankenkassen bezahlt und sie ist sehr teuer. Bislang wird sie hauptsächlich im US-Bundesstaat Florida angeboten.

Differentialdiagnose

Frühkindlicher Autismus muss sowohl zu anderen Zuständen innerhalb des Autismusspektrums als auch zu anderen Krankheitsbildern abgegrenzt werden.

innerhalb des Autismusspektrums

Eine Differenzialdiagnose zwischen atypischem und frühkindlichem Autismus kann überlicherweise problemlos vorgenommen werden, da der atypische Autismus aufgrund seiner Unterschiede zum frühkindlichen Autismus definiert ist. Eine Differenzierung zum Asperger-Syndrom ist über die Bereiche Beginn der Auffälligkeiten, Sprache und Intelligenz möglich (s. Tabelle). Schwierig werden kann eine Differenzierung zwischen frühkindlichem Autismus und Asperger-Syndrom, wenn der frühkindliche Autismus in der Form des hochfunktionalen Autismus auftritt, da sich beide Zustände sehr ähneln. Eine Differenzierung kann nur anhand der Entwicklung in der frühen Kindheit vorgenommen werden.

Übersicht über die wichtigsten Unterschiede zwischen frühkindlichem Autismus und Asperger-Syndrom
frühkindlicher Autismus Asperger-Syndrom
erste Auffälligkeiten erste Lebensmonate ab 3. Lebensjahr
Blickkontakt selten, flüchtig selten, flüchtig
Sprache in der Hälfte der Fälle Fehlen einer Sprachentwicklung; ansonsten verzögerte Sprachentwicklung, anfangs keine kommunikative Funktion, Vertauschen der Pronomina keine bedeutsamen Auffälligkeiten, evtl. etwas verfrüht oder verzögert; grammatisch und stilistisch hoch stehende Sprache
Intelligenz meist erhebliche Intelligenzminderung; in der Variante des hochfunktionalen Autismus normale Intelligenz normale bis hohe Intelligenz, teilweise Hochbegabung
Motorik keine Auffälligkeiten, die auf den Autismus zurückzuführen sind motorische Störungen, Ungeschicklichkeit, Koordinationsstörungen

zu anderen Krankheitsbildern

Autistisches Verhalten kann auch vorkommen insbesondere bei Schizophrenie, psychischem Hospitalismus (Deprivation, Deprivationssyndrom), Kindesmisshandlung, Verwahrlosung, schizoider Persönlichkeitsstörung, Fragilem X-Syndrom und Mutismus.

Unterscheidungskriterium bei Schizophrenie sind das Auftreten von Halluzinationen und Wahn, das beim frühkindlichen Autismus nicht gegeben ist. Frühkindlicher Autismus unterscheidet sich von autistischem Verhalten bei psychischem Hospitalismus, Kindesmisshandlung und Verwahrlosung dadurch, dass Autisten autistisches Verhalten primär, also von Geburt an, an den Tag legen; es wird bei ihnen nicht durch falsche Erziehung, mangelnde Liebe, Misshandlung oder Verwahrlosung ausgelöst. Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus tritt bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung keine Intelligenzminderung auf. Eine Abgrenzung zum hochfunktionalen Autismus kann im Einzelfall schwierig sein. Hierbei ist die Anamnese wichtig. Der genetische Defekt, der das Fragile X-Syndrom auslöst, kann mit entsprechenden Analysemethoden nachgewiesen werden, sodass eine Unterscheidung vom frühkindlichem Autismus eindeutig erfolgen kann.

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Autismus, Liste der Krankheiten, Liste psychischer Störungen