Auguste Comte
Isidore Marie Auguste François Xavier Comte (* 19. Februar 1798 in Montpellier; † 5. September 1857 in Paris) war ein Mathematiker und Philosoph, vor allem ist er jedoch als Begründer der Soziologie hervorgetreten.
Andere Persönlichkeiten, die wegen ihrer Folgewirkung häufig ebenfalls als wichtige Ahnherren der Soziologie genannt werden, sind Herbert Spencer, Ferdinand Tönnies, Max Weber und Emile Durkheim, doch hat Comte als erster den Begriff "Soziologie" geprägt.
Leben
Sein Vater war der Steuerbeamte Louis-Auguste-Xavier Comte, seine Mutter Félicité-Rosalie Comte, er hatte drei jüngere Geschwister.
Nach dem Besuch der Schule in Montpellier begann Auguste Comte, an dem Eliteinstitut École Polytechnique in Paris zu studieren. Die École Polytechnique widmete sich den französischen und republikanischen Idealen, vor allem dem Fortschrittsgedanken. 1816 kam es zu einer Studentenrevolte, die École schloss vorübergehend. Die Kursteilnehmer konnten eine Neuzulassung zu einem späteren Zeitpunkt beantragen. So musste Comte die École verlassen und setzte seine Studien an der medizinischen Schule in Montpellier fort. Als die École später wiedereröffnet wurde, versuchte Comte jedoch nicht, sich erneut einzuschreiben.
Bald sah er unüberbrückbare Differenzen mit seiner katholisch-monarchistisch geprägten Familie und verließ diese, um nach Paris zu gehen und sich sein Geld durch kleine Hilfsarbeiten zu verdienen, u. A. als Privatlehrer für Mathematik. Er war schnell sehr belesen, studierte weite Felder historischer und philosophischer Literatur, holte sich Anregung bei so unterschiedlichen Autoren wie dem Physiokraten Turgot, bei Condorcet, Montesquieu, bei führenden philosophischen Aufklärern wie David Hume und Immanuel Kant, aber auch bei Ultrakonservativen wie Joseph de Maistre, ja selbst klerikale Denker des Mittelalters prägten seine Lektüre. Er wurde Student, Freund und Sekretär des bedeutenden Industrie- und Sozialtheoretikers Graf Claude-Henri Comte de Saint-Simon, der seinen Schüler in intellektuelle Gesellschaft brachte. In Saint-Simons Zeitschriften publizierte Comte seine ersten journalistischen Arbeiten. 1824 verließ er Saint-Simon, wieder wegen nicht beizulegender Meinungsverschiedenheiten.
Comte wusste jetzt, was er tun wollte: er arbeitete die Philosophie des Positivismus aus. Diese veröffentlichte er 1822 als Plan de traveaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société. Aber er erhielt keine akademische Anstellung. Ein Lehrstuhl blieb ihm "wegen der unmoralischen Falschheit seines mathematisierenden Materialismus" versagt. Selbst eine bescheidene Stelle als Mathematik-Repetitor verlor er später wegen seiner verrufenen Schriften wieder. Sein Alltagsleben hing von Förderern und von finanzieller Hilfe seiner Freunde ab. In seiner Privatwohnung hielt er Vorträge, die auch von bekannten Wissenschaftlern jener Zeit besucht wurden.
Er heiratete die ehemalige Prostituierte Caroline Massin, ließ sich aber 1842 wieder scheiden. Comte war bekannt als arrogante, energische und mitreißende Persönlichkeit. 1826 wurde er in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen, welche er jedoch wieder verließ, ohne kuriert worden zu sein. Im April 1827 misslang ihm ein Selbstmordversuch. Stablilisiert durch seine Ehefrau konnte er danach wieder an seinen Plänen arbeiten, er gab auch wieder Vorlesungen. Seit April 1826 und bis zu seiner Scheidung veröffentlichte er die sechs Bände seiner Cours de philosophie positive, basierend auf seinen Vorlesungen als Privatgelehrter. Ab 1841 wohnte er dann in der Rue Monsieur-le-Prince Nr. 10, heute Sitz eines Comte-Museums. Hier referierte er auch über Astronomie.
Von 1844 an verehrte Comte die Großbürgersgattin Clotilde de Vaux, ein Verhältnis, das platonisch blieb. Nach ihrem Tod 1846 wurde diese Liebe quasi-religiös und Comte sah sich als Gründer und Prophet einer neuen "Religion der Menschlichkeit". Der ehemals vor allem den strengen "Tatsachenwissenschaften" anhängende Comte rief praktisch eine neue Theokratie aus, Kritiker sahen in seinen Bestrebungen einen "gottlosen Katholizismus". Er veröffentlichte vier Ausgaben des Système de Politique des Positivs (1851 - 1854). Auguste Comte plädierte auch für die Emanzipation der Frauen - allerdings transportierten seine Vorstellungen ein teilweise sehr traditionelles Bild: der Mann habe sich im Lebenskampf und in den Professionen zu bewähren, die Frau müßte aus dem häuslichen Kreis heraus moralisch und ethisch in die Gesellschaft hinein wirken. Es bildeten sich einzelne "comtistische" Gemeinden in Frankreich, England, Schweden und Amerika. Comte hinterließ ein etwa 500 Seiten starkes "Testament".
Seine wissenschaftlichen Theorien
Comte sah zwei Universalgesetze in allen Wissenschaften am Werk: das Gesetz der drei Phasen (Drei-Stadien-Gesetz) ("kindliche" Religion, "jungenhafte" Metaphysik, schließlich "männliche" positive Wissenschaft) sowie das enzyklopädischen Gesetz. Indem er diese Theoreme kombinierte, entwickelte Comte eine systematische und hierarchische Klassifikation aller Wissenschaften, einschließlich der anorganischen Physik (Astronomie, Geowissenschaft und Chemie), der organischen Physik (Biologie), vor allem jedoch der neuartigen "sozialen Physik", die später "Soziologie" genannt wurde und bei Comte auch proto-behaviouristische Psychologie und Ethik einschließen sollte.
Diese Idee einer speziellen Wissenschaft - weder Geisteswissenschaft, noch Metaphysik - für das Soziale war im 19. Jahrhundert weit verbreitet und ging nicht speziell von Comte aus. Die ehrgeizige - viele würden sagen überzogene - Weise, in der Comte dies vorstellte, war ihm jedoch einzig.
Comte sah diesen neuen Forschungszweig, die Soziologie, als die letzte und die größte von allen Wissenschaften, eine Disziplin, die alle weiteren Wissenschaften umfassen würde und die ihre Entdeckungen in ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes integrieren und beziehen würde. Dabei barg sein Ansatz durchaus Widersprüche: einerseits Orientierung an "harten Fakten" und nachgewiesenen wissenschaftlichen Erkenntnissen ("unwandelbare Naturgesetze"), andererseits Voraussetzung eines bald mystisch gefärbten Gemeinschaftsgeistes (esprit d'ensemble), der "Zweifelsucht", egoistischen Individualismus und Liberalismus des vorangegangenen "metaphysischen" Zeitalters durch Altruismus ersetzt.
Wirkung
Obgleich seine Theorien während seiner Lebenszeit und auch noch danach sehr einflussreich waren, sind sie doch bald umstritten gewesen. Comte prägte bereits 1838 die Bezeichnung "Soziologie"; Forschung auf "soziologischem" Gebiet gab es aber durchaus schon vorher, nur existierte bis Comte kein verbindlicher Begriff dafür. Comtes besondere Hervorhebung des gegenseitigen Verbundensein der unterschiedlichen Sozialelemente gilt heute als Vorwegnahme des modernen Funktionalismus. Dennoch: mit wenigen Ausnahmen wird seine Arbeit inzwischen als exzentrisch, mechanistisch und wissenschaftlich überholt betrachtet. Die teilweise naive Erkenntnistheorie des Positivismus, sein Verifikationismus, wurde z. B. durch den Physiker Max Planck kritisiert.
Trotzdem sollte man Comtes bleibenden Einfluss gerade in Frankreich und anderen Nationen mit industriellen und katholischen Tendenzen (Polen, Brasilien u. A.) nicht unterschätzen. Emile Durkheims objektive Methode der "sozialen Fakten", die sich doch stark von Max Webers methodologischem Individualismus unterscheidet, verdankt Comtes Positivismus wahrscheinlich einiges. Auch die Naturwissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Marie Curie begeisterte sich für Aspekte des Positivismus. Die frühe wissenschaftliche Kriminologie Italiens wurde ebenfalls stark von der "positiven Philosophie" beeinflusst, darunter der Kriminologe und Physiognomiker Cesare Lombroso, den Nietzsche so eifrig rezipierte. Selbst bei Albert Camus findet sich noch eine Unterscheidung zwischen dem eher abstrakten, idealistischen, dem Absoluten verpflichteten deutschen Denken "des ewigen Jünglings" und der "mittelmeerischen Tradition...männlicher Stärke", die sich eher der Natur und der konkreten Erfahrung als der Geschichtsphilosophie verpflichtet fühlt. Comtes Gesetz der drei Phasen klingt hier unüberhörbar an. Und auch ein bekannter Soziologe wie Pierre Bourdieu zitierte noch 1968 in einem Fachlehrbuch mehrmals Auguste Comte, dabei nicht immer nur in kritischer Absicht.
Comtes grandiose Vision der Soziologie als Königin aller Wissenschaften wurde nie verwirklicht. Dagegen gilt Comte heute vielen als typischer Vertreter des ungebrochenen und übersteigerten Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts und der frühen Moderne. Ferner wurde Comtes Wortprägung "Positivismus" von Kritikern seither zur Bezeichnung unhinterfragter Wissenschaftsgläubigkeit und zügelloser Sozialtechnologie verwendet, wobei der Begriff teilweise inflationär gebraucht wurde; der sogenannte "logische Positivismus" hat jedenfalls keine unmittelbaren Bezüge zu Auguste Comte (vgl. Positivismusstreit).
Neben seinen Theorien hat Comte außerdem verschiedene Kalender-Systeme entworfen, z. B. den Positivisten-Kalender.
Comtes Motto "Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir" (ungefähr: Wissen, um die Zukunft zu prognostizieren, prognostizieren, um handeln zu können) könnte heute noch als Motto der Wissenschaften, auch der Umfrage- und Marktforschung dienen; allerdings kann damit nicht mehr Comtes überspannter Determinismus, sein enger Instrumentalismus (beispielsweise schien ihm die Untersuchung ferner Galaxien irrelevant, da dies belanglos für menschliche Interessen sei und einfache Naturgesetze unnötig kompliziere) oder seine obskure Experten-Herrschaft gemeint sein.
Comtes Devise "Ordnung und Fortschritt" erscheint sogar in der Flagge Brasiliens.
Zitat
- "...die höchste Stufe des positiven Systems (falls dies je erreichbar wäre) würde bedeuten, alle beobachtbaren Phänomene als Teilaspekte einer einzigen allgemeinen Tatsache - wie z. B. der Schwerkraft - darstellen zu können." (Auguste Comte)
Werke
- Système de politique positive. (anonym publiziert, 1824)
- Cours de philosophie positive. (6 Bände, bis 1842)
- Traité élémentaire de géométrie analytique à deux et à trois dimensions. (1843)
- Discours sur l'esprit positif. (1844)
- Traité philosophique d'astronomie populaire, ou Exposition systématique de toutes les notions de philosophie astronomique qui doivent devenir universellement familières. (1844)
- Discours sur l'ensemble du Positivisme, ou Exposition sommaire de la doctrine philosophique et sociale propre à la grande république occidentale composée de cinq populations avancées, française, italienne, germanique, britannique et espagnole. (1848)
- République occidentale. Ordre et progrès. (1848)
- Calendrier positiviste, ou Système général de commémoration publique destiné surtout à la transition finale de la grande république occidentale composée de cinq populations avancées, française, italienne, germanique, britannique et espagnole composée par Auguste Comte, et publié au nom de la Société positiviste. (1849)
- Système de politique positive, ou Traité de sociologie, instituant la religion de l'humanité. (4 Bände,1851-1854)
- Catéchisme positiviste, ou Sommaire exposition de la religion universelle, en onze entretiens systématiques entre une femme et un prêtre de l'humanité. (1852)
- Appel aux conservateurs. (1855)
- Lettres d'Auguste Comte à Monsieur Jacques-Pierre-Fanny Valat. 1815-1844. (1870)
- Lettres d'Auguste Comte à John Stuart Mill. 1841-1846. (1877)
- Opuscules de philosophie sociale. 1819-1828. (1883)
- Testament d'Auguste Comte, avec les documents qui s'y rapportent: pièces justificatives, prières quotidiennes, confessions annuelles, correspondance avec Mme de Vaux, publié par ses exécuteurs testamentaires, conformément à ses dernières volontés. (Herausgegeben von Pierre Laffitte, 1884)
- Lettres d'Auguste Comte, fondateur de la religion universelle et premier grand-prêtre de l'humanité, à Henry Edgar et à Monsieur John Metcalf. (Herausgegeben von Jorge Lagarrigue, 1889)
- Lettres d'Auguste Comte à Henry Dix Hutton. (1890)
- Lettres inédites de John Stuart Mill à Auguste Comte, publiées avec les réponses de Comte. (zusammen mit John Stuart Mill und einer Einführung von Lucien Lévy-Bruhl, 1899)
- Lettres d'Auguste Comte à divers, publiées par ses exécuteurs testamentaires. (mehrere Bände, bis 1905)
- Correspondance inédite d'Auguste Comte. (4 Bände, 1903-1904)
- Lettres d'Auguste Comte au docteur Robinet, son médecin et l'un de ses exécuteurs testamentaires et à sa famille. (Herausgegeben von Émile Corra, 1926)
- Lettres et fragments de lettres. (Herausgegeben von F. Germano Medeiros, 1926)
- Lettres inédites à Célestine de Blignières. (Herausgegeben von Paul Arbousse-Bastide, 1932)
- Nouvelles lettres inédites. (Herausgegeben von Paulo Estavão de Berrêdo-Carneiro, 1939)
- Le Prolétariat dans la société moderne. (Mit einer Einführung von Rudolfo Paula Lopes, 1946)
- Œuvres d'Auguste Comte. (12 Bände, 1968-1971)
- Écrits de jeunesse. 1816-1826. Suivis du Mémoire sur la cosmogonie de Laplace. 1835. (Rekonstruiert und herausgegeben von Paulo Estevão de Berrêdo Carneiro und Pierre Arnaud, 1970)
- Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société. (Herausgegeben und annotiert von Angèle Kremer-Marietti, 1970)
- Sommaire appréciation de l'ensemble du passé moderne. (Herausgegeben und annotiert von Angèle Kremer-Marietti, 1971)
- La Science sociale. (Herausgegeben und eingeleitet von Angèle Kremer-Marietti 1972)
- Correspondance générale et confessions. (8 Bände, 1973-1990)
- Die Soziologie. (1992)
- Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind. (1984)
- Rede über den Geist des Positivismus. (Herausgegeben von Iring Fetscher, 1956, 1966, 1979)
Personendaten | |
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NAME | Comte, Auguste |
ALTERNATIVNAMEN | Isidore Marie Auguste François Xavier Comte |
KURZBESCHREIBUNG | Begründer der Soziologie |
GEBURTSDATUM | 19. Februar 1798 |
GEBURTSORT | Montpellier |
STERBEDATUM | 5. September 1857 |
STERBEORT | Paris |