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Giorgio Agamben

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Giorgio Agamben (* 1942 in Rom) ist ein italienischer Philosoph, Jurist und Schriftsteller. Er lehrt als Professor für Philosophie an der European Graduate School in Saas-Fee und seit 2003 als Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti della IUAV in Venedig. Von 1986-92 war er Directeur de Programme am Collège International de Philosophie in Paris; seit 1988 erfüllte er assozierte Professuren an den Universitäten von Macerata und seit 1993 Verona in Italien) sowie seit 1994 regelmäßig Gastprofessuren in den USA.


Internationale Wirkung

Agamben gilt heute als einer der meist diskutierenden Philosophen der Gegenwart. Dabei hat er erst seit Mitte der 1990er Jahre international große Aufmerksamkeit erzielt. Polarisierend und medienwirksam ist sein direkter Zugriff auf aktuelle rechtlich-politische Fragen in einer ansonsten weitgehend erlahmten Debatte. In der Rezeption erscheint er mal als neue Leitfigur, mal als suspekter Außenseiter der traditionellen akademischen Welt.

Die Kritiker Agambens sehen in seinem Werk Ekklektizimus, Gedankendichtung, wenn nicht affirmatives Denken. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass Agamben, darin ganz philosophe-écrivain, sich nicht auf eine Position festlegen lässt, sondern aus der Auseinandersetzung heraus schreibt.

Man kann diese Rolle eher mit der des akademischen Kritikers als mit der des terminologisch und thetisch vergleichenden Philosophen oder Literaturwissenschaftlers vergleichen. Das Verfahren lässt sich als das einer bezeugenden und hinweisenden "re-création" im Sinne des Schweizer Romanisten Theophil Spoerri bezeichnen:

Le critique n'a d'autre moyen pour arriver à une connaissance de l'œuvre que celui de la re-création.

("Die Kritik hat kein anderes Mittel, um zur Erkenntnis des Werks zu gelangen als das seiner Wieder-Erschaffung.")

Gelebte Literatur

Das geistige Milieu, in dem Agamben schreibt, ist von Anfang an wenig akademisch. Prägender war das literarische und intellektuelle Leben in den Weltstädten Rom, Paris und London. Seit seinem Studium hat Agamben sich bis in Darstellungsweisen hinein an Schriftstellern und Philsoophen geschult und sich in der Auseinandersetzung mit ihnen weiter entwickelt.

Bemerkenswert ist der weite Horizont eines literarisch-intellektuellen Milieus, das sich von einem kultivierten romanischen Neo-Marxismus über Debatten der Weimarer Republik und des Exils bis hin zur Antike erstreckt.

Agambens Anfänge liegen im studienbegleitenden freundschaftlichen Umgang mit den SchriftstellerInnen Elsa Morante, Alberto Moravia und Ingeborg Bachmann sowie mit dem Regisseur Pier Paolo Pasolini, in dessen Film Il vangolo secondo Matteo (Das 1. Evangelium - Matthäus, Italien/Frankreich 1964) er die Rolle des Apostels Filippo spielt.

Bei Heidegger

Den entscheidenden Impuls für die Philosophie gaben ihm nach dem Studium zwei privaten Seminare mit Martin Heidegger in Le Thor (Provence) über Herkalit und Hegel (1966 und 1968). Heidegger war zu dieser Zeit in der Bundesrepublik wegen seiner Rolle im Nationalsozialismus mit Lehrverbot belegt worden. Seinen Niederschlag findet die Begegnung mit Heidegger in Agambens erstem Buch L'uomo senza contenuto ("Der Mensch ohne Inhalt", Rizolli 1970). Diese Schrift hat durchaus die force initiale eines Frühwerks, auf das die späteren Werke, bereichert durch neue Erfahrungen und Auseinandersetzungen, zurückgreifen. Ausgehend von Hegels Ästhetik konstatiert er darin einen offene Wunde zwischen Kunstwerk und ästhetischer Wahrnehmung. Durch die Reflexion auf Kunst entstehe eine nicht mehr überbrückbare Trennung des Produzenten, der zum Künstler-Genie im emphatischen Sinne wird, vom Rezipienten, der auf die Kriterien der Kunstphilosophie und Kritik zurückfällt.

Die Bewegung des Gedankens erinnert an Heideggers Klage über die vermeintliche Entfremdung zwischen "Sein" und "Seiendem"; und auch Stil und Methode sind an Heidegger geschult, vor allem das etymologische Zurückwenden von Begriffen der modernen Ästhetik auf die Begriffe der griechischen Philosophie. Agamben stellt sich mit diesem Buch noch ganz unbefangen in die Tradition der deutschen Kunstreligion: Phänomene der zeitgenössischen Kunst und Alltagskultur erwähnt er gar nicht erst. Später erst entdeckt er Benjamin und Foucault - und liest die Fundamentalontologie Heideggers gegen den Strich; mithilfe von Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus, in der sie die Konzentrationslager als "Laboratorien für das Experiment der totalen Herrschaft" auffasst. Das anonyme "Sein" Heideggers erhält erst seinen unverechselbaren Sinn in der Art, wie sich die jeweilige Macht zum einzelnen Menschen - und der einzelne Mensch zum anderen verhält.

Warburgs Bildatlas

Inzwischen folgten für Agamben weitere Forschungsaufenthalte und Lehraufträgte in Paris und London. Aus der Zeit am Londoner Warburg Institute datiert sein zweites wichtiges Buch: Stanze, La parola e il fantasma nella cultura occidentale (Einaudi 1977).

Agamben versucht in dieser Studie, die Imagination und die Urerfahrungen des Menschen mit Hilfe der Montage von Bildern zu bewahren - analog zu Aby Warburgs Bilder-Atlas Mnemosyne, Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance (1924-1929). Bei Agamben wie bei Warburg ist unterstellt, dass der Gebrauch der Sinne zunehmend pragmatisch diszipliniert wird.

In seinem Essay Noten zur Geste aus dem Buch Mezzi senza fine (Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik), der heute in der internationalen Filmkritik und im Tanztheater stark diskutiert wird, greift Agamben auf Warburg zurück. Die Geste gilt seit Warburg zurecht als verkörpertes Archiv. Ihr Volzug zeigt die Teilhabe an einem kollektiven Symbolbestand an. So wie Agamben sich mit seinem performativen Stil als Teilhaber der Formgesinnung klassischer Moderne zu erkennen gibt. Allerdings deutet er die Geste als Befreiung des Bildes aus seiner Zuordnung zu einem Sinn, den es dann zu repräsentieren hat.

Herausgeber Walter Benjamins

1978 bis 1986 war Agamben, im Auftrag des Verlegers Einaudi, Herausgeber der italienischen Ausgaben der Schriften von Walter Benjamin, wobei er seinerzeit unbekannte Manuskripte Benjamins wieder entdeckte.

Agamben bezieht sich nicht zuletzt auf Benjamin, und mehr noch auf seinen melancholischen Gestus, wenn er sich auf die Spracharmut der Gegenwart bezieht:

Dem Überangebot an begrifflichen Analysen unserer Zeit steht eine einzigartige Armut an phänomenologischen Beschreibungen gegenüber. Es ist eigenartig, dass eine kleine Gruppe philosophischer und literarischer Werke, die zwischen 1915 und 1930 entstanden sind, noch immer den Schlüssel zur Sensibilität unseres Zeitalters fest in Händen hält.” (Idea della Prosa)

Mit Benjamin verbindet Agamben auch eine (in dieser Zeit der Klassischen Moderne wie im ästhetischen Neomarxismus verbreitete) Scheu vor vergleichender Begriffsbildung und vor widerspruchsfreien Behauptungen. Beide vermuten in den Formen von Staatsrecht, Kunst und Leben ein mimetisches Derivat von Gewalt, das sich bis in die Sprache der arbeitsteiligen Gesellschaft und in die Formation von Schulsprachen niederschlägt.

Agamben selbst begründet die poetische Melancholie seines eigenen Formbewusstseins in einer Reflexion über "Die Idee des Studiums", einer Würdigung des talmudischen Judentums:

Nichts ist dem Zustand des Studierenden ähnlicher als derjenige, den Aristoteles dem Akt gegenüberstellte und Potenz, Vergnügen nannte. Potenz ist eineseits 'potentia passiva', Passivität, reine Leidenschaft und virtuell unendlich, andererseits 'potentia activa' unaufhaltsame Spannung, die zur Vollendung drängt, Impuls des Akts. [...] Auch die Trauer des Studierenden findet so ihre Erklärung: denn wenig ist bitterer als der allzu lange Aufenthalt in der Sphäre der reinen Potenz.

Hauptwerk "Homo sacer"

Seit Ende der achtziger Jahre greift Agamben dezidiert politische und staatsrechtliche Fragen auf. Er zeichnet ein Bild des heutigen Menschen in seiner Lebensform, das das euphemistische Bild des globalen Dorfs konterkariert: Für Agamben sind die Konzentrations- und Flüchtlingslager Paradigma und Konsequenz der westlichen Politik seit der Antike.

Im Zentrum seiner jüngeren Schriften steht die Kulturgeschichte der politischen Ein- und Ausschließung. In seinem Hauptwerk, der Trilogie "Homo sacer" (Einaudi 1995ff.) geht Agamben aus von einer rechtlich verfaßten Spaltung der Identität in ein politisches Wesen (zoon politikon) und "bloßen Leben" (Il potere sovrana e la vida nuda), die er auf Aristoteles' folgenreiche Unterscheidung zwischen "bios" und "zoé" in der Nikomachischen Ethik zurückführt und im politischen Denken des Westens bis heute aufzeigt.

Ausgehend von so unterschiedlichen Ansprechpartnern wie Walter Benjamin und Carl Schmitt, Martin Heidegger, Hannah Arendt und Michel Foucault entwickelt Agamben eine Philosophie von rechtsfreien Räumen und der Reduzierung von Menschen auf ihr "nacktes Leben" (als Beispiel dienen ihm vor allem die nationalsozialistischen Konzentrationslager). Demnach streben die Mächtigen seit der Antike nicht nur die Kontrolle der Individuen als gesellschaftliche Wesen an, sondern auch die Vereinnahmung ihres biologischen Lebens.

Die Figur des Homo sacer aus dem römischen Recht dient als Konfiguration dieser Unterscheidung. Wie der ständige Begleiter des christlichen Abendlandes, der "Ewige Jude" (antisemitisch eingeführt bei Joh. 18,22-23), wandert der homo sacer hier durch die Jahrhunderte westlicher Geschichte. Agamben hält sich an den Doppelsinn des Worts sacer: heilig und ausgestoßen (vogelfrei) und erkennt in diesem Konzept einen rechtsfreien Raum, der nicht erst mit der Ausstoßung des "blossen", des fremden und des anderen Lebens beginnt, sondern in die Geschichte der westlichen Selbsterfahrung eingeschrieben ist.

Diese Entwicklung bezeichnet Agamben in Anlehnung an Michel Foucault als Biopolitik: Es entsteht ein totalitärer Zugriff auf jeden Einzelnen, wovor auch Demokratien nicht gefeit sind. Im Gegenteil: Als Antwort auf globale Fluchtbewegungen und Terror werden Grund- und Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt. Als Beispiel dafür sieht Agamben die Flüchtlings-Camps in der Europäischen Union und das amerikanische Gefangenenlager in der Guantanamo-Bucht auf Kuba. Agamben zufolge wird hier der permanente Ausnahmezustand zum neuen Regulator des politischen Systems - nach dem Zeitalter der Kriege zwischen souveränen Staaten. Er wird in diesem Schreckens-Szenario neben Staat, Territorium und Nation zum vierten Element der politischen Ordnung. Im Jahr 2003 lehnt er aus diesem Grund einen Ruf an die New York University ab.

Die Rezeption in Deutschland

Auffälligerweise setzt die deutsche Rezeption Agambens, der zuvor als Geheimtip galt, ab 2002 mit einer plötzlichen Fülle von Übersetzungen ein: In einer Zeit, als sich hinter einer öffentlichen Bearbeitung der Erfahrung vieler Deutscher im Bombenkrieg eine kollektivierende Bereitschaft zu einer Identifikation mit den Opfern der Bush-Administration offenbar wurde.

Tatsächlich geben Agambens Gedankendichtung und sein Verfahren der Genealogie Anlass zu Missverständnissen, die er in Diskussionen und Interviews aber erklären kann: Es geht ihm nicht etwa darum, Ereignisse mit den Ortsnamen Auschwitz oder Guantanamo gleichzusetzen, sondern Ereignisse und Gegebenheiten der Gegenwart auf ihre historische Genese zurückzuführen. Agamben hat mit seiner Kritik des westlichen Rechtsstaats auch nicht vor, den Terrorismus zu verherrlichen und Anti-Amerikanismus zu predigen. Im Gegenteil: Für ihn hat der Westen die Falle, die ihm der Terrorismus gestellt hat, noch gar nicht erkannt, wenn er die gültige Rechtsordnung aufheben will, um eben diese Ordnung zu sichern.

Zeugen suchen, Zeuge sein

Agamben betrachtet das "blosse Leben" zuallererst von seiner formalen - und damit auch ästhetischen - Seite her: also nicht als zivilisatorisch unterentwickelt, nicht als freigegeben zur Vernichtung, sondern als wesentliche Voraussetzung kultureller Selbstbestimmung. Gegen den Totalitarismus der Bio-Politik sucht Agamben Zeugen, die er in den Künsten, aber auch im Poetischen selbst findet: Sein Anspruch ist es, Zeugen zu finden und als Schriftsteller selbst Zeuge zu sein für das "blosse Leben".

Von Walter Benjamin übernimmt Agamben die Gattung des erzählerischen Denkbilds. Ein Beispiel für viele aus den Miniaturen der Idea della Prosa (Feltrinelli 1985):

"Ein schönes Gesicht ist vielleicht der einzige Ort, wo wahrhaft Stille ist. Während der Charakter durch ungesagte Worte und unverwirklicht gebliebene Absichten in das Gesicht Spuren eingräbt, während ein Tier immer so blickt, als wolle ihm eben ein Wort entfahren, öffnet die menschliche Schönheit das Antlitz dem Schweigen. Aber das Schweigen, das hier statthat, ist nicht nur Aussetzung der Rede, sondern Schweigen des Wortes selbst, Sichtbarwerden des Wortes: Idee der Sprache. Darum ist das Schweigen des Gesichts wahrhaft die Heimat des Menschen."

Mit seiner stark individualisierten Schreibweise klagt Agamben das Recht des "blossen Lebens" auf Selbstbehauptung ein. Wenn er seine Texte teilweise als "Noten" (zur Politik oder zur Geste) bezeichnet, knüpft er deutlich an Adornos "Noten zur Literatur" an: Der Philosoph als Interpret im musikalischen Sinn. Die Form des Essays erlaubt Agamben im Horizont der Künste eine mutige Verschränkung von historischer Vergegenwärtigung und politischen Schreckens-Bildern, Prognosen und dezidierte Wünsche. Dazu kommt eine Vernetzung der Philosophie mit der Entwicklung der Wissenschaften und der Künste. In Homo sacer III erinnert er an Hölderlins Vers: "Was aber bleibet, stiften die Dichter"

Siehe auch: Bio-Macht, Genealogie

Werke

  • L’uomo senza contenuto, Milano : Rizzoli, 1970 (Macerata : Quodlibet, 1994)
  • Stanze: La parola e il fantasma nella cultura occidentale, Torino : Giulio Einaudi, 1977 (engl.: Stanzas: Word and Phantasm in Western Culture, 1992)
  • Infanzia e storia, Torino : Giulio Einaudi, 1979 (dt.: Kindheit und Geschichte : Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte. Frankfurt am Main 2004)
  • Il linguaggio e la morte, Torino : Giulio Einaudi, 1982
  • La fine del pensiero, Paris, Le Nouveau Commerce, 1982
  • Idea della prosa, Milano : Feltrinelli, 1985 (Macerata : Quodlibet, 2002; dt.: Die Idee der Prosa. Frankfurt am Main 2003)
  • La comunità che viene, Torino, Giulio Einaudi, 1990 (engl.: The Coming Community, 1993; dt.: Die kommende Gemeinschaft. Berlin 2003)
  • (con Gilles Deleuze) Bartleby, la formula della creazione, Macerata, Quodlibet, 1993
  • Homo Sacer, Torino, Giulio Einaudi, 1995 (engl.: Homo sacer. Sovereign Power and Bare Life (1998)(dt.: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt Main 2002)
  • Mezzi senza fine, Torino, Bollati Boringhieri, 1996 (dt.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Berlin 2001)
  • Categorie italiane, Venezia, Marsilio, 1996
  • (Homo Sacer II)Quel che resta di Auschwitz, Torino, Bollati Boringhieri, 1998 (dt.: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main 2003)
  • Potentialities: Collected Essays in Philosophy
  • Il tempo che resta, Torino, Bollati Boringhieri, 2000
  • L’aperto, Torino, Bollati Boringhieri, 2002 (Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt am Main 2003)
  • (Homo Sacer III) Stato di eccezione, Torino, Bollati Boringhieri, 2003 (dt.: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main 2004)
  • Profanazioni, Roma, edizioni nottetempo 2005 (Lob der Profanierung. Über das Angesicht der Menschheit. Frankfurt/Main 2005)

Videos

Sekundärliteratur

  • Eva Geulen: Giorgio Agamben zur Einführung. Hamburg : Junius 2005. ISBN 3-88506-304-1
  • Gert Mattenklott: Kunstreligion, in: Sinn und Form 54. Jahr/2002/1. Heft, S. 97-108