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Vergleichende Psychiatrie

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Vergleichende Psychiatrie (v. P.) wird als wissenschaftliche Arbeitsrichtung definiert, mit deren Hilfe psychische Krankheiten unter verschiedenen sozialen und kulturellen Bedingungen einander gegenübergestellt werden.[1] Anhand dieser Vergleiche soll nicht nur ein besseres Verständnis der untersuchten Menschengruppe, sondern auch eine bessere Einflussmöglichkeit auf das menschliche Verhalten ermöglicht werden. – Die Selbstverständlichkeiten einer einseitig sozio- und ethnozentrischen Psychiatrie werden durch den Vergleich mit den psychischen Störungen in anderen Kulturkreisen relativiert.[2] Die v. P. ist ein Teilgebiet der Sozialpsychiatrie.[1]

Formen und Untergruppen der vergleichenden Psychiatrie

Transkulturelle Psychiatrie und Ethnopsychiatrie

Vergleichende transkulturelle Psychiatrie (engl. cross cultural psychiatry) beschränkt sich gegenüber der allgemeinen vergleichenden Psychiatrie auf den Vergleich unterschiedlicher kultureller Gegebenheiten (weitgehend ohne Rücksicht auf soziale Verschiedenheiten und Gegensätze). Sie untersucht den Einfluss dieser unterschiedlichen Gegebenheiten auf Entstehung und Symptomatik einer psychischen Krankheit. – Begründer der transkulturellen Psychiatrie war Emil Kraepelin, der einen entsprechenden psychiatrischen Bericht aus Anlass der von ihm 1904 besuchten Anstalt Buitenzorg auf Java verfasste.[3] – Beide Gebiete, transkulturelle Psychiatrie und Ethnopsychiatrie, sind auch ohne vergleichende Schlussfolgerungen zur ethnozentrischen Psychiatrie dadurch erkenntnisfördernd, dass sie den Einfluss kultureller Momente auf psychisches Kranksein bestimmen. Insofern sind beide Begriffe als synonym anzusehen.[1]

Internationale Psychiatrie

Internationale Psychiatrie behandelt und vergleicht psychiatrische Fragen von allgemeiner internationaler Bedeutung. Es handelt sich dabei um Fragen der administrativen Psychiatrie, wie Organisation (Ausbildung, Behandlungsmethoden, diagnostische Richtlinien, institutionelle Neugründungen) und Bestimmung von Ausbildungsinhalten. Im Gegensatz zur transkulturellen Psychiatrie werden die besonderen kulturellen Bedingungen kaum berücksichtigt.[1]

Methodik

Georges Devereux bezeichnet die Methode seiner Ethonopsychiatrie als Komplementarität.[4] Sie besteht darin, dass ein Phänomen wie seelische Gesundheit unter zwei gegensätzlichen Gesichtspunkten besser verstanden werden kann als nur unter einem einzigen Aspekt (Ethnozentrischer versus ethnokomplementärer Standpunkt). Er gebraucht selbst den Vergleich mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Es komme auf die Sicht des Betrachters an, ob er sich bei der Unbestimmtheitsrelation Heisenberg-Bohr Wellen oder Korpuskeln vorstelle. Diese Methodik ist auch als Konvergenz bezeichnet worden. In der Ethnologie wird mit Konvergenz ebenso das Auftreten gleicher Kulturerscheinungen bei unabhängig voneinander lebenden Völkern bezeichnet.

Einige Positionen der vergleichenden Psychiatrie

Sind psychische Krankheiten vergleichbar ?

Die Frage, ob psychische Krankheiten überhaupt vergleichbar sind, erscheint als Selbstverständlichkeit, muss jedoch als definitorische Grundvoraussetzung jeder vergleichenden Psychiatrie angesehen werden, siehe die hier vorliegende, im Vorspann zu diesem Artikel wiedergegebene Definition der v.P. nach Peters.

Zur Beantwortung der Frage gibt es zwei grundlegend unterschiedliche Ansichten mit ebenso grundlegenden Auswirkungen auf die psychiatrische Symptomatologie, nämlich die von Emil Kraepelin und die von Carl Wernicke. Die Wernickesche Auffassung hat sich heute jedoch allgemein durchgesetzt und wird sogar von jüngeren Vertretern der klassischen deutschen Psychopathologie wie z.B. Gerd Huber übernommen. Kraepelin vertrat die Ansicht, dass eine gemeinsame Ursache bei verschiedenen Individuen stets das gleiche psychiatrische Zustandsbild bewirkt. Wernicke dagegen meinte, dass gleiche psychopathologische Syndrome keinen sicheren Rückschluss auf deren Ursache zulassen.[5] Es ist hier als paradox hervorzuheben, dass ausgerechnet der als Begründer der v.P. genannte Emil Kraepelin eine im Verhältnis zu den Grundzügen der heutigen Wissenschaft so entgegengesetzte Haltung vertrat. Kraepelins Auffassung ist die Grundlage der phänomenologischen Psychopathologie (vgl. die psychopathologische Methodik von Emil Kraepelin, Eugen Bleuler, Manfred Bleuler und der Heidelberger Schule bzw. deren hauptsächlicher Vertreter wie Karl Jaspers, Hans W. Gruhle und Kurt Schneider).[2] Gerd Huber als jüngerer Vertreter der klassischen deutschen Psychiatrie spricht daher eher von einer Ausdrucksgemeinschaft psychischer Krankheiten und nicht von ursächlichen Gemeinsamkeiten.[6] Psychiatrische Symptomatik ist daher prinzipiell als wandlungsfähig anzusehen (Symptomwandel). Huber erwähnt nicht nur einen Symptom- und Gestaltwandel seit dem ersten Weltkrieg, sondern behandelt in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung peristatischer und sozialer Faktoren: Die Symptome psychiatrischer Störungen werden durch die soziokulturellen Bedingungen mitgeprägt.[6]

Erich Wulf betont, die v.P. könne zeigen, dass

das Auftreten bestimmter psychischer Krankheitsformen und –symptome keine Naturtatsache ist, sondern spezifische gesellschaftliche Bedingungen verlangt: Sozialisationsformen, die von wirtschaftlichen Notwendigkeiten, kulturellen Leitbildern und sozialtypischen charakterlichen Einstellungen der Erzeihungspersonen abhängen, bringen Krankheitsdispositionen hervor; diese bevorzugen zu ihrer Manifestation wiederum bestimmte gesellschaftliche Konstellationen, ...[2]

Konsquenzen für die Schizophrenieforschung

Propädeutik: Schizophreniekonzepte, Antipsychiatrie

Mit Hilfe vergleichender Beobachtungen zu gängigen Konzepten der Psychiatrie im Falle der Schizophrenie stellt sich die Frage, ob diese Erkrankung nicht als Produkt unserer westlichen Zivilisation angesehen werden muss. Verschiedene Autoren haben z.B. festgestellt, dass Ich-Störungen in Form von Störungen des Ich-Bewußtseins in anderen Ländern der Welt nicht wie in westlichen Ländern als Krankheit wie die Schizophrenie auftreten. Erich Wulff hat entsprechende Beobachtungen in Vietnam bei etwa 2000 psychiatrischen Patienten gesammelt und diese Vergleiche aus der Perspektive des Ich- und des Kollektivbewusstseins sehr ausführlich beschrieben und gedeutet. Das Ich-Bewusstsein in der westlichen Welt resultiere aus den sehr spezifischen Strategien der Selbstverwirklichung. Wulff fand die Erkrankung in keinem einzigen Fall bestätigt.[2] Im schwarzen Afrika wurde die Erkrankung von vergelichenden Beobachtern ebenfalls ganz vermisst.[7] Pfeiffer fand die Erkrankung in Indonesien nur vereinzelt bei einigen europäisch erzogenen Angehörigen der Oberschicht.[8]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b c d Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. Bechtermünz-Lizenzausgabe, Augsburg 1997, ISBN 3-86047-864-8, Seiten 410 (a+b), 175 (c), 409 (d)
  2. a b c d Erich Wulff: Grundfragen der transkulturellen Psychiatrie. In: Psychiatrie und Klassengesellschaft. Athenäum Fischer Taschenbuchverlag, Sozialwissenschaften, Frankfurt / M, 1972, ISBN 3-8073-4005-5, Seite 96 ff. (a), 100 (b), 97 (c)
  3. Emil Kraepelin: Psychiatrisches aus Java. 1904
  4. Georges Devereux: Normal und anormal – Aufsätze zur allgemeinen Ethnopsychiatrie. Suhrkamp, Frankfurt 1 1974, ISBN 3-518-06390-1, Seite 9 (a),
  5. Rudolf Degkwitz et al. (Hrsg.): Psychisch krank; Einführung in die Psychiatrie für das klinische Studium. Urban & Schwarzenberg, München 1982, ISBN 3-541-09911-9, Teil II. Beschreibung und Gliederung psychischen Krankseins; Kap. 5.1 Begriffe aus der allgemeinen Krankheitslehre, Seite 49
  6. a b Gerd Huber: Psychiatrie; Systematischer Lehrtext für Studenten und Ärzte. F.K. Schattauer Verlag, Stuttgart 1974, ISBN 3-7945-0404-6, Seiten 40, 165, 246, 252 (a); 341 (b)
  7. Barahona-Fernandez und Mitarbeiter - in: Beiträge zur vergleichenden Psychiatrie (Hrsg. Nikolaus Petrilowitsch). Teil 1, Seite 143 ff., Karger Basel 1967
  8. Pfeiffer, W. - in: Beiträge zur vergleichenden Psychiatrie (Hrsg. NIkolaus Petrilowitsch). Teil 1, Seite 102 ff., Karger Basel 1967