Staat und Gesellschaft
Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wurde in der deutschen Staatsrechtslehre zeitweise sehr kontrovers diskutiert.
Sie geht auf Lorenz von Stein zurück und prägte zunächst die Periode der deutschen konstitutionellen Monarchie.
Unter dem Grundgesetz konnte diese Ordnungsidee nicht ganz reibungslos übernommen werden. Anders als in der konstitutionellen Monarchie, steht die Gesellschaft unter dem Grundgesetz nicht mehr dem Staat gegenüber, sondern ist selbst Inhaber und Schöpfer der Staatsgewalt. Es kann daher nicht mehr von einem Dualismus von Staat und Gesellschaft im Sinn einer völligen Trennung von Staat und Gesellschaft ausgegangen werden.
Mit den Augen der soziologischen Systemtheorie betrachtet ist sogar jede begriffliche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft hinfällig. In der Systemtheorie ist die Sozialordnung differenziert zu betrachten. Der neuzeitliche Staat bzw. das politische System ist nach Niklas Luhmann daher nur als ein Untersystem der Gesellschaft anzusehen.
Ein anderer, von Horst Ehmke vorgebrachter Einwand gegen eine Unterscheidung von Staat und Gesellschaft baut darauf auf, dass die Gesellschaft als Verband pragmatisch gesehen den Staat ausmacht, es handele sich also bei Staat und Gesellschaft um denselben Verband. Es wäre so gesehen von wenig Sinn von einer Intervention des Staates in die Wirtschaft, welche als Teil oder „Herzstück“ der Gesellschaft gesehen wird, zu sprechen. Da alle, die dem Staat angehörten, auch irgendwie in der Wirtschaft stünden, dann gleichsam in sich selbst intervenieren würden. Ehmke will daher diese Begriffe überwinden und im Anschluss an amerikanisches Staatsdenken von den Begriffen „civil society“ und „government“ ausgehen.
Konrad Hesse fragt daran anschließend kritisch an, welche Bedeutung die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft hat; denn ohne eine konkrete und differenzierte Zuordnung, was dem Staat und was der Gesellschaft zuzuordnen wäre, hätte die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nicht mehr als Nicht-Identität zum Inhalt.
Josef Isensee hält hingegen die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nach wie vor für sinnvoll und bringt als verfassungsrechtlichen Scheide- und Grenzlinie das Subsidiaritätsprinzip an, das er für einen Grundsatz des deutschen Verfassungsrechts hält. Das Grundgesetz habe eine Ordnungsentscheidung getroffen, die die Subsidiarität des Staates gegenüber den gesellschaftlichen Kräften vorgesieht. Demzufolge ist es immer noch nötig, begrifflich zwischen Staat und Gesellschaft zu unterscheiden.
Auch Ernst-Wolfgang Böckenförde tritt nachdrücklich für eine begriffliche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ein. Das Individuum als Teil der Gesellschaft stehe nach dem Grundgesetz einem Staat gegenüber, vor dem es zu schützen und daher auch zu unterscheiden ist. Er bezeichnet die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung individueller Freiheit. Dies setze voraus, dass Staat und Gesellschaft sich nicht beliebig gegenseitig durchdringen dürfen.
Heute wird die diesbezügliche Diskussion auch unter dem Aspekt gesehen, dass sich in dieser Debatte zwei gegensätzliche Rechtsschulen gegenüberstanden. Die Smend-Schule um Hesse und Ehmke war im Sinne der Smendschen Integrationslehre gegen jede strikte Differenzierung. Die Schmitt-Schule um Böckenförde und Ernst Forsthoff setzte sich demgegenüber für ein axiomatischeres juristisches Denken ein und bemühte sich um eine schärfere Herausarbeitung der Gegensätze.
Literatur
- Hans Heinrich Rupp: "Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft", in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 31, S. 879 ff.
- Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.): Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976.
- Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, Opladen 1973.
- Horst Ehmke: Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961.
- Konrad Hesse: Bemerkungen zur heutigen Problematik der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Die öffentliche Verwaltung, Jahrgang 1975, S. 437 ff.
- Josef Isensee: Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl., Duncker & Humblot, Berlin 2001. ISBN 3428106326
- Frieder Günther: Denken vom Staat her, Oldenbourg, München 2004. ISBN 3486568183