Sein und Zeit
Das zuerst 1927 erschienene Sein und Zeit (ISBN 3-484-70122-6) gilt als Hauptwerk der (frühen) Philosophie von Martin Heidegger und als eines der einflussreichsten Werke der Philosophie im 20. Jahrhundert.
Ziel und Methode
Ziel der Untersuchung ist die Frage nach dem Sinn von Sein, die nach Heidegger in der abendländischen Philosophie nicht wirklich gestellt worden ist. Die Antwort wäre die äußerste Differenzierung der Frage selbst. Die Arbeit daran bestimmt Heideggers Lebenswerk auch über "Sein und Zeit" hinaus.
Dem ursprünglichen Plan zufolge sollte Sein und Zeit aus zwei Bänden bestehen, die sich wiederum in je drei Teile gliederten:
- Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sinn von Sein
- Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins
- Dasein und Zeitlichkeit
- Zeit und Sein
- Grundzüge einer phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie [...]
- [zu Kant]
- [zu Descartes]
- [zu Aristoteles]
Das schließlich veröffentlichte Buch umfasst nur eine Einleitung und die ersten beiden Teile des ersten Bands, mehr wurde von Heidegger zunächst nicht ausgearbeitet. Zur Zeit der „Kehre" in den 30er Jahren gab Heidegger diese Arbeit ganz auf und suchte einen anderen Zugang zur „Seinsfrage“. Ein später veröffentlichtes Werk „Zeit und Sein“ hat mit dem gleichnamigen Teil dieses Buches wenig zu tun.
Aus dieser Gliederung erkennt man, wie die Untersuchung grob verläuft: Heidegger versucht zuerst (Teil 1.1.) eine „Fundamentalanalyse des Daseins“ (auch „Fundamentalontologie“ genannt), in der die sogenannten „Existenzialien“ des Daseins freigelegt werden. Daraus schließt Heidegger das Sein des Daseins, das er „Sorge“ nennt. Indem er nun (Teil 1.2.) diese „Sorge“ interpretiert, zeigt er ihren „Sinn“ auf: die „Zeitlichkeit“. Der nächste Teil (1.3.) hätte nun den Bogen von der Zeitlichkeit zur Zeit und von dieser zum Sein selbst spannen sollen, um zur Ausgangsfrage zurückzukehren. Mit der nun gewonnenen Erkenntnis hätten andere Philosophien „destruiert“ werden sollen. Dazu ist es allerdings, wie oben dargelegt, nicht gekommen.
Inhalt
Der vielleicht wichtigste Begriff des Werks ist Dasein; so nennt Heidegger das Sein, das „je ich selbst bin“. Den naheliegenden Ausdruck „Mensch“ vermeidet er, weil er sich von der traditionellen Philosophie und ihren Urteilen abgrenzen will. Zudem soll man sich unter Dasein eben nicht die allgemeine Kategorie „Mensch“ vorstellen, über die wir bereits Vorurteile mit uns herumtragen, sondern von uns selbst und dem, was wir direkt erfahren, ausgehen. In gewisser Weise ist dies ein solipsistischer Ansatz.
Heidegger beginnt seine Untersuchung zum Sein mit dem Dasein, weil dieses es ist das die Frage nach dem Sein stellt. Um diese Frage überhaupt stellen zu können, muss das Dasein über ein bestimmtes Vorverständnis von Sein verfügen - sonst wüsste es nicht einmal wonach es fragen soll (vgl. Platons Dialog Menon). Wir glauben ja ungefähr zu wissen, was „Sein“ heißt, und sagen „ich bin“ und „das da ist“. Das Dasein kann darüber staunen, dass es „überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.“ Es ist geworfen in das „Da-sein“ und muss sich zu seinem Sein und zum Sein als Ganzem verhalten, ob es will oder nicht. Das Dasein wird nun von Heidegger mit Methoden der Phänomenologie analysiert und seine „Existenzialien“, die so etwas wie wesentliche Bestandteile des Daseins sein sollen, freigelegt. Im Gegensatz zur traditionellen Philosophie bekommen hier und im folgenden die („ontischen“) Stimmungen und Befindlichkeiten des Daseins Erkenntnischarakter. Allerdings müssen die Befindlichkeiten vom Philosophen („ontologisch“) interpretiert werden, damit man sie begreifen kann. Als vorläufiges Ergebnis der Analyse ergibt sich: Das Dasein ist sowohl
- „schon in“ einer Welt (Geworfenheit) als auch
- „sich vorweg“, indem es diese Welt versteht und Möglichkeiten darin ergreift (Entwurf) und drittens
- „bei“ allem innerweltlich Seienden, den Dingen und Menschen (Verfallenheit an die Welt).
In der Einheit dieser drei Punkte sieht Heidegger das Sein des Daseins. Er nennt es abkürzend „Sorge“.
Um das Dasein als ganzes in den Blick zu bekommen, betrachtet Heidegger nun den Tod. Der Tod ist die ausgezeichnete Möglichkeit des „vorweg“. Denn er ist die Unmöglichkeit jedes weiteren Verhältnisses zu sich selbst und zur Welt. Er vereinzelt das Dasein, denn vor dem Tod kann sich keiner vertreten lassen. Was das Wort „Tod“ bedeutet, kann aber nicht durch Nachdenken, sondern allein in der Stimmung der „Angst“ erfahren werden. „Dasein ist Sein zum Tode“ und „Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst“.
Der Tod und die Angst sind dabei nicht negativ zu sehen. Sie „vereinzeln“ das Dasein und machen ihm die unwiderrufliche Einzigartigkeit jedes Augenblicks klar. Das „Vorlaufen zum Tod“ wird so zum Ausgangspunkt für ein wesentliches, intensives und „eigentliches“ Leben, das sich nicht von der „Verfallenheit“ an das alltägliche „Man“ (vgl. „das macht man nicht“) bestimmen und leben lässt.
Im weiteren zielt Heidegger auf die Herausstellung der „Zeitlichkeit“ als Sinn der Sorge. Dabei entsprechen die oben genannten drei Punkte genau den drei Dimensionen (Heidegger nennt sie „Ekstasen“) der Zeitlichkeit, nämlich Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Diese entspringen aus dem Dasein selbst. An dem Punkt, wo Heidegger aus ihnen einen allgemeinen Begriff der Zeit herleiten will, bricht das Buch ab.
Hinweise zur Lektüre
Heideggers Sprache ist gewöhnungsbedürftig. Er benutzt altertümliche Satzkonstruktionen, viele Neologismen und „Bindestrich-Wörter“, (Beispiele: „In-der-Welt-sein“, „Zeugganzes“). Dies entspringt Heideggers Vorhaben, sich von der bisherigen Philosophie zu lösen und Wörter neu zu gebrauchen, um ausgetretene Denkpfade zu verlassen. Hinzu kommt, dass Heidegger viele Worte benutzt, die aus der Alltagssprache bekannt sind, aber er damit etwas ganz anderes zu bedeuten gibt (Beispiele: „Sorge“, „Angst“). Ferner ist zu gewärtigen, dass in den 20er Jahren der Expressionismus blühte und eine Rhetorik entwickelte, die inzwischen oftmals komisch bis idiosynkratisch und über die Maßen pathetisch wirken kann. Dies hat auch auf die philosophische Prosa ausgestrahlt. Philosophie strapaziert die gewöhnliche Sprache, man muss sich einlesen. Es kann fruchtbar sein, zugleich verschiedene Dichtungen von George, Rilke, Trakl zu lesen.
Mit der Phänomenologie sollte man sich ebenfalls vertraut machen (siehe Literatur: Waldenfels). Heidegger entwickelte seinen Ansatz im Durchgang durch die Phänomenologie seines Lehrers Edmund Husserl. Allerdings sind die Unterschiede gravierend (s.u.: Kritik). Heidegger selbst verstand sein Buch ferner in scharfem Kontrast zur Philosophischen Anthropologie, die in etwa zeitgleich (Weimarer Republik) in Gestalt von Max Scheler und Helmuth Plessner in Erscheinung getreten ist. Indes sind stilistische Ähnlichkeiten oft sehr auffällig (siehe Literatur: Safranski).
Ergänzend zur Einleitung kann Heideggers frühe Schrift (1922) Anzeige der hermeneutischen Situation (etwa in: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Reclam 2002, ISBN 3-15-018250-6) gelesen werden, in der die Richtung der Untersuchung vorweggenommen und einige spätere Gedanken, teilweise noch mit anderem Vokabular, dargelegt werden.
Wirkung
Das Buch war in philosophischen Kreisen eine Sensation und machte Heidegger schlagartig berühmt, weil es eine neue Sicht auf den Menschen zu eröffnen schien. Heideggers Sprache (s.o.) wurde kurzzeitig Mode und von vielen verwendet. Eine mögliche politische Interpretation einiger Tendenzen des Buches (siehe Kritik) ließ Heidegger als einen Vertreter der Konservativen Revolution erscheinen.
Der Existenzialismus, insbesondere Jean-Paul Sartre, sah sich in direkter Nachfolge des Werks. Heidegger hat die existenzialistische Interpretation abgelehnt; dass der Existenzialismus aber grundlegende Thesen aus diesem Buch übernommen hat, kann kaum bezweifelt werden.
Wirkungsgeschichtlich bedeutsam war auch Heideggers im Buch angeschnittener Versuch, die Geschichtswissenschaft neu zu begründen, sowie sein Hinweis auf den hermeneutischen Zirkel: das Dasein (der Mensch) hat immer schon ein gewisses Verständnis von sich, dem Sein und dem Seienden; er kann, platt gesagt, nicht bei Null anfangen. Heideggers Schüler Hans-Georg Gadamer baute darauf seine Hermeneutik auf. Weitere von Sein und Zeit angeregte Philosophen sind etwa Karl Jaspers und Karl Löwith.
Kritik
Verschiedene Kritiker machen Heidegger die schlechte Verständlichkeit des Werks zum Vorwurf. Einige meinen, das Werk sage im ganzen recht wenig, jedenfalls wenig neues, und verschleiere dies mit vielen Worten.
Gegenstand dauernder Auseinandersetzung ist die Frage, ob sich in der frühen Philosophie Heideggers, deren Hauptstück Sein und Zeit ist, Tendenzen zeigen, die in Zusammenhang mit Heideggers späterem Engagement für den Nationalsozialismus stehen. Auffällig ist hier zunächst das Fehlen jeglicher Ethik in dem Buch. Auf den zweiten Blick ist jedoch bemerkbar, dass eine Reihe von Passagen sich auch gut im Rahmen des Gedankenkreises, der in den 20er Jahren als Konservative Revolution Einfluss erlangte, lesen lassen. In seinem Zurückgehen auf „Ursprüngliches“, bei dem er oft Metaphern aus dem bäurischen Leben benutzt, sei Heideggers Konservativismus erkennbar. Zwar betont Heidegger immer wieder, dass seine Sätze und Begriffe nicht wertend gemeint seien; aber es fällt leicht, Teile des Werks - Passagen gegen die „Verfallenheit“ an das „Man“, gegen das „Gerede“ des „Alltäglichen“ und die Aufrufe zur „Eigentlichkeit“ im Gegensatz zum „uneigentlichen“ Alltag - auch politisch zu lesen und im Kontext der Kritik an der Moderne, der Anonymität in der Massengesellschaft und an der liberalen Demokratie zu lesen. Dies wurde dann auch getan.
Der erste Kritiker der Sprache Heideggers war Walter Benjamin, der schon 1914 den Gebrauch von Neologismen in der Philosophie ablehnte. Adorno kritisierte viel später, aber daran anschließend, den Jargon der Eigentlichkeit, wie er Heideggers Stil nannte. Begriffe der Umgangssprache würden hier suggestiv umgedeutet, um eine bestimmte Art des Denkens zu popularisieren.
Weitere Kritik richtete sich gegen Heideggers Vorliebe für im klassischen Sinn negativ besetzte Begriffe wie Tod, Sorge, Angst. Im ganzen Buch kommen Bereiche wie Liebe, Lust oder Freude so gut wie nicht vor. Kritiker nannten Heidegger polemisch einen „Todesphilosophen“, Heideggers Schülerin Hannah Arendt entwarf eine Philosophie der „Gebürtlichkeit“ im Gegensatz zu Heideggers „Todesphilosophie“.
Auch Husserl begegnete dem Werk von Anfang an mit einer gewissen Skepsis. Er sah darin eine „anthropologische Regionalontologie“ und vermisste die Linientreue zu seiner Methode, „zu den Sachen selbst“ zurückzukommen. Später kritisierte auch er die zentrale Rolle, die der Tod bei Heidegger spiele. Husserl hielt Heideggers Denkansatz für inkompatibel mit der phänomenologischen Methode; insbesondere seine Phänomenologie der Lebenswelt unterscheidet sich erheblich von Heideggers Konzept des In-der-Welt-Seins, es ist konkreter und leiblicher, auch sozusagen soziologischer im Bemühen, die "Klippe des Solipsismus" (Sartre) zu umschiffen - während Heidegger aufs vereinzelt Geistige, "Wesentliche" abhebt. Maurice Merleau-Ponty folgte in dieser Hinsicht dem Husserlschen Modell. Sartre pendelt in dieser Hinsicht zwischen beiden.
Heidegger selbst wandte sich Mitte der 30er Jahre mit der „Kehre“ von seiner bisherigen Philosophie ab. Zwar war die Seinsfrage weiterhin sein größtes und einziges Interesse, er hielt aber den Zugang über das Dasein, den er in Sein und Zeit gewählt hatte, für verfehlt. Insofern könnte man Heideggers "Denk-Weg" als Selbstkritik auffassen. Andererseits konnte man ihn noch im hohen Alter vor seiner Hütte in Todtnauberg antreffen, "Sein und Zeit" lesend - weil dies doch etwas "Vernünftiges" sei.
Sonstiges
Die ersten Auflagen von „Sein und Zeit“ enthielten eine Widmung Heideggers an seinen Lehrer Edmund Husserl, der Jude war. In der fünften Auflage von 1941 fehlte diese Widmung; Heidegger zufolge geschah dies auf Druck des Verlegers Max Niemeyer. In allen Auflagen nach der Zeit des Nationalsozialismus ist die Widmung wieder enthalten.
Zitate
Kursivdruck aus dem Original
- "Das „Wesen“ des Daseins liegt in seiner Existenz." (§9, Seite 42)
- Dieser Satz wurde vom Existenzialismus als Kernthese übernommen. Heidegger verwahrte sich gegen diese Interpretation im Brief über den Humanismus.
- "Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. [...] Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit. Nicht nur das; mit dieser Seinsentlastung kommt das Man dem Dasein entgegen, sofern in diesem die Tendenz zum Leichtnehmen und Leichtmachen liegt. Und weil das Man mit der Seinsentlastung dem jeweiligen Dasein ständig entgegenkommt, behält es und verfestigt es seine hartnäckige Herrschaft." (§27, Seite 127f.)
- "wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst. [...] Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der Welt und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. [...] Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein" (§40, Seite 187)
- "Als Seinkönnen vermag das Dasein die Möglichkeit des Todes nicht zu überholen. Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit. So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit. (§50, Seite 250)
- "Damit aber das Dasein mit einem Zeugzusammenhang soll umgehen können, muß es so etwas wie Bewandtnis, wenngleich unthematisch, verstehen: es muß ihm eine Welt erschlossen sein." (§69, Seite 364)
Literatur
Allgemein: siehe Hauptseite Heidegger, Literatur. Folgende Schriften von Heideggers letztem Schüler, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, sind als Einführung zwar völlig ungeeignet und auch sonst eher von zweifelhaftem Wert, seien aber aufgeführt:
- Einleitung: die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein. - 1987. - XXXVI, 408 S. - ISBN 3-465-01738-2, 3-465-01739-0
- Subjekt und Dasein : Grundbegriffe von "Sein und Zeit" - Frankfurt am Main : Klostermann, dritte, erweiterte Auflage 2004
- Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl- Frankfurt a.M. : Klostermann, 1981
Instruktiv zur allgemeinen Einordnung:
- Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie, München : Fink, 1992 (ISBN 3-7705-2790-9)
Brauchbar hinsichtlich biographischer Zusammenhänge sowie insbesondere zum Verhältnis zur Philosophischen Anthropologie Plessners:
- Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München/ Wien : Hanser, 1994 (ISBN 3-446-17874-0)