Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt
Film | |
Titel | Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt |
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Produktionsland | Deutschland |
Originalsprache | Deutsch |
Erscheinungsjahr | 1971 |
Länge | 67 (VHS) Minuten |
Stab | |
Regie | Rosa von Praunheim |
Drehbuch | Rosa von Praunheim, Martin Dannecker, Sigurd Wurl |
Produktion | Werner Kließ |
Musik | Archivaufnahmen |
Kamera | Robert van Ackeren, Rosa von Praunheim |
Schnitt | Jean-Claude Piroué |
Besetzung | |
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Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt ist ein im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks gedrehter provokanter Film von Regisseur Rosa von Praunheim.
In ihm wird das damalige Leben vieler Schwuler Anfang der 1970er in der Subkultur und die daraus zu ziehenden Konsequenzen behandelt. Er richtet sich nicht an die „Unterdrücker“, sondern an die Homosexuellen selbst. Die These des Films: Die schlechte Situation, in der sie lebten, sei hausgemacht. Tenor des Films ist, dass Schwule ihre unmäßige Angst überwinden und aus ihren Verstecken kommen sollen, um solidarisch und kämpferisch miteinander für eine bessere, gleichberechtigtere Zukunft anzutreten.
Dadurch wurde er zum Auslöser für die Entstehung der modernen Schwulenbewegung nach Stonewall im deutschsprachigen Raum, war gleichzeitig aber auch sehr umstritten. Die Fernsehausstrahlung wurde zum Skandal.
Aus Kostengründen wurde er als Stummfilm gedreht und nachträglich mit einer Off-Stimme versehen.
Handlung
Der junge Daniel aus der Provinz kommt nach Berlin und trifft dort auf Clemens. Beide erleben die große Liebe, ziehen zusammen und versuchen die bürgerliche Ehe zu kopieren. Nach vier Monaten trennen sie sich aber wieder, da Daniel inzwischen einen älteren, reicheren Mann kennengelernt hat, in dessen Villa er zieht.
Wenig später betrügt ihn sein älterer Freund bei einem Musikabend. Für ihn war Daniel nur ein Objekt. Daniel beginnt in einem Homosexuellen-Café zu arbeiten, kleidet sich nach der neuesten Mode und passt sich schnell an die Ideale der Subkultur an. Er lässt sich bewundern und verbringt seine Freizeit im Strandbad. Nachts geht er in Homosexuellen-Bars und wird immer mehr von den ständig wechselnden sexuellen Abenteuern abhängig.
Nach einiger Zeit entdeckt er die Reize des Cruising in Parks und auf Toiletten, wo er auch erlebt, wie ältere Homosexuelle zusammengeschlagen werden. Zu später Stunde landet er einmal in einer Transvestitenkneipe, in der sich um diese Zeit alles trifft, was bis dahin keinen Partner gefunden hat. Hier trifft er Paul, der ihn mit in seine schwule Wohngemeinschaft nimmt.
Die Gruppe diskutiert mit ihm über die Probleme des schwulen Lebens und macht ihm klar, dass er ein sehr oberflächliches Leben führt. Seine Aufgabe als emanzipierter Schwuler sei es, sich dazu zu bekennen und aktiv andere Inhalte zu schaffen als nur Mode und Sex. Man schlägt ihm vor, sich politisch zu organisieren und gemeinsam mit anderen Schwulen über menschliche Formen des Zusammenlebens nachzudenken.
Historische Bedeutung
Am 1. September 1969 trat die Liberalisierung des §175 StGB in Kraft. Praktizierte männliche Homosexualität unter Erwachsenen war fortan nicht mehr strafbar. Dadurch begann langsam ein öffentliches schwules Leben in Deutschland. Dieses war geprägt von den sich tagsüber an die Mehrheitsgesellschaft anbidernden und auf Toleranz hoffenden Homophilen und ihren seit 1969 möglichen Vereinen sowie der komerziellen Lokalszene, die von der neuen Bewegung auch als Sexghetto beschrieben wurde.
„Der Film war geprägt von Wut und Frust, die sich in meinem bisherigen schwulen Leben in Berlin aufgestaut hatten. Ich war davon überzeugt, dass wir nicht immer nur passiv auf die Nettigkeit der Gesellschaft warten könnten, damit sich für uns etwas zum Vorteil verändert. […] Unser Film sollte provozieren, Schwule und Hetis aus ihrer Ruhe und ins Gespräch bringen. Wir wollten auf keinen Fall einen Film, der die Schwulen glorifiziert oder bemitleidet. Uns war es wichtig, die beschissene Situation der Schwulen schonungslos aufzudecken, […]“
Praunheim ließ sich für diesen Film von dem Soziologen und späteren Sexualwissenschaftler Martin Dannecker beraten, der zusammen mit Reimut Reiche an einer Untersuchung über den „gewöhnlichen Homosexuellen“ arbeitete; die gleichnamige Studie erschien 1974 im S. Fischer Verlag. Dannecker ist auch einer der Drehbuchautoren und der Titel des Films ist ein Zitat aus Danneckers Buch.
Uraufgeführt wurde der Film am 3. Juli 1971 im Rahmen der Berlinale im Forum des jungen Films. Bei den Aufführungen in den Kinos kam es oft zu spontanen Diskussionen und noch im selben Jahr gründeten sich die Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW) und die Rote Zelle Schwul (ROTZSCHWUL) in Frankfurt. Dies ist der Beginn der neuen, studentischen Lesben- und Schulenbewegung im deutschsprachigen Raum. Zur alten Homophilenbewegung gibt es wenig Kontakte und des öfteren gegenseitige Animositäten. Aus der Ablehnung der bestehenden Lokalszene werden in der Folge auch mehrere alternative Begegnungsstätten und Vereinslokale geschaffen. Von Stonewall hatten damals wenige neue Aktivisten eine Ahnung. Praunheim selbst hatte kurz vor der Premiere dieses Films im Juni die zweite Demonstration in New York gefilmt, woraus dann der zwölfminütige Kurzfilm Homosexuelle in New York entstand.
Im Fernsehen wurde der Film das erste Mal am 31. Januar 1972 vom Auftraggeber WDR im 3. Programm zu später Stunde ausgestrahlt. Die vorgesehene parallele Aufführung bei der ARD wurde kurzfristig abgesagt. Gegen die Fernsehaufführung agierten auch homophile Vereine und Aktivisten, da sie negative Auswirkungen befürchteten.
In der Schweiz waren homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen seit 1942 nicht mehr strafbar. Die Zeitschrift Der Kreis war 1967 eingestellt worden und es wurden manche andere von der Homopilenbewegung beeinflusste Projekte gestartet. 1971 gründeten dann Studenten der beiden Hochschulen Zürichs das schwul-lesbische Zentrum Zabriskie Point. Im Frühjahr 1972 gelang es Praunheims Film vorzuführen. Darauf kam es am 22. März zur Gründung der Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich (HAZ). Mitglieder der HAZ organisierten im Juni 1972 Filmvorführungen unter Studierenden in Basel und Bern, was die Gründung der Homosexuellen Arbeitsgruppen Basel (HAB, später HABS, 30. Juni) und Homosexuellen Artbeitsgruppen Bern (HAB, 6. Dezember) führte. In Österreich war 1971 erst das Totalverbot abgeschafft worden und durch vier neue Paragraphen ersetzt worden. Unter anderem deshalb begann die neue Schwulenbewegung erst 1975.
Am 29. April 1972 wurde in Münster die erste Schwulendemo in der Geschichte der Bundesrepublik durchgeführt.
Die ARD strahlte den Film ein Jahr später am 15. Januar 1973 im 1. Programm aus, woraufhin sich der Bayerische Rundfunk aus dem gemeinsamen Programm ausklinkte, wie er es auch 1977 bei der Ausstrahlung von Die Konsequenz und 1990 beim ersten schwulen Fernsehkuss in der Lindenstraße praktiziert hat.
Der Filmtitel wird heutzutage mit „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Welt, in der er lebt!“ manchmal absichtlich abgewandelt oder einfach falsch zitiert, was je nach Auslegung der Intention des Films widerspricht.
Zitate und Grundaussagen
„Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Sie sind politisch passiv und verhalten sich konservativ als Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden. Schwule schämen sich ihrer Veranlagung, denn man hat ihnen in jahrhundertelanger christlicher Erziehung eingeprägt, was für Säue sie sind. Deshalb flüchten sie weit weg von dieser grausamen Realität in die romantische Welt des Kitsches und der Ideale. Ihre Träume sind Ilustriertenträume, Träume von einem Menschen, an dessen Seite sie aus den Widrigkeiten des Alltags entlassen werden in eine Welt, die nur aus Liebe und Romantik besteht. Nicht die Homosexuellen sind pervers, sondern die Situation, in der sie zu leben haben.“
„Wir schwulen Säue wollen endlich Menschen werden und wie Menschen behandelt werden. Und wir müssen selbst darum kämpfen. Wir wollen nicht nur toleriert, wir wollen akzeptiert werden.“
„Es geht nicht nur um eine Anerkennung von Seiten der Bevölkerung, sondern es geht um unser Verhalten unter uns. Wir wollen keine anonymen Vereine! Wir wollen eine gemeinsame Aktion, damit wir uns kennen lernen und uns gemeinsam im Kampf für unsere Probleme näherkommen und uns lieben lernen.“
„Wir müssen uns organisieren. Wir brauchen bessere Kneipen, wir brauchen gute Ärzte, und wir brauchen Schutz am Arbeitsplatz.
Werdet stolz auf eure Homosexualität!
Raus aus den Toiletten! Rein in die Straßen!
Freiheit für die Schwulen!“
Die Formulierung „Raus aus den Toiletten! Rein in die Straßen!“ ist eine Anpassung der in den USA verwendeten Fomulierung „Out of the closet and into the street!“, da im deutschsprachigen Raum die Formulierung „coming out of the closet“ („aus dem Versteck herauskommen“) noch nicht bekannt war.
Kritiken
- Vincent Canbys, New York Times: Ein militant marxistischer Aufruf für ein Ende der Schwulenunterdrückung.
- queerfilm.de, 2001: Ganz im Stile der 70er Jahre ist dieser Film inzwischen ein filmisches Dokument der Schwulenbewegung und seiner Zeit. Wobei die filmische Experimentierfreudigkeit so manchen Aufführer verwirrt, da der u.a. eine 10-minütige stumme Szene hat! Auch als Dokument der Szene Anfang des siebten Jahrzehnts ist der Film bemerkenswert. Ohne Tabus zeigt er damals ungesehene Bilder von Schwulen auf Klappen oder im Park. „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ ist ein Zeitdokument, dessen Mut und Kraft auch heute noch beeindrucken.
Weitere Filmdaten
- Englischer Titel: „It Is Not the Homosexual Who Is Perverse, But the Society in Which He Lives“
- Russischer Titel: „Извращенец не гомосексуалист, а общество“
- Italienischer Titel: „Non è l'omosessuale ad essere perverso, ma la situazione in cui vive“
- Produktionsfirmen: Bavaria Atelier GmbH, Westdeutscher Rundfunk (WDR)
- Produktionskosten: ca. 250.000 DM
- Erstaufführung: Forum des jungen Films, Berlinale, 3. Juli 1971
- Erstausstrahlung: WDR III, 31. Januar 1972
- Verleih: Freunde der Kinemathek
- Als DVD erhältlich (Auf der Webseite von Praunheim)
Weblinks
- Vorlage:IMDb Titel
- Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt auf rosavonpraunheim.de
- Filmplakat beim Deutschen historischen Museum
- Detlef Grumbach: Bürger wider Willen - die Schwulenbewegung zwischen Revolte und Integration. Ein Portrait Martin Danneckers, Deutschlandfunk (Abschrift), 13. Juni 1998, Redaktion: Karin Beindorff
- Dietrich Kuhlbrodt: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt - Rezension aus 1984