Corpus iuris civilis
Das Corpus Iuris Civilis ist ein Gesetzeswerk, das von 528 bis 534 n. Chr. im Auftrag des oströmischen Kaisers Justinian I. aus älteren Kaisererlassen (Codex Iustinianus, veröffentlicht 529), älteren Juristenlehrbüchern (Institutionen, veröffentlicht 533), Kommentaren (Digesten oder auch Pandekten, veröffentlicht 533), und neuen Gesetzen (Novellae, veröffentlicht 534) unter Leitung des Hofjuristen Tribonianus zusammengestellt wurde. Eine Neuausgabe des Codex Iustinianus wurde 534 veröffentlicht. Es handelt sich dabei um die uns bekannte Fassung.
Der Name Corpus Iuris Civilis ist nicht zeitgenössisch; er wurde erst im Mittelalter geprägt (wohl um die Mitte des 13. Jahrhunderts, vergleiche dazu P. Weimar, Corpus Iuris Civilis, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, Sp. 270-277).
Die Neukodifikation des Römischen Rechts stellte eine Meisterleistung dar, besonders in der Kürze der Zeit. Ältere Codizes wurden obsolet, und die Überarbeitung des Rechts erleichterte in Zukunft die Prozessführung ganz erheblich. In mancher Hinsicht (beispielsweise hinsichtlich der Rechtsstellung von Frauen und Sklaven) handelte es sich bei dem CIC um ein für damalige Vorstellungen fortschrittliches Gesetzeswerk.
Die Neukodifikation wurde notwendig, weil man erkannte, daß die römische Kultur an Kraft verlor. Man beschloß deshalb, das hochdifferenzierte römische Recht, das in einer verwirrenden Vielzahl an Rechtsquellen (alte Gesetze, Kaisersprüche, Schriften von Juristen etc.) verstreut existierte, in einem Werk zusammenzufassen und zu bewahren. Dabei sollte dasjenige Recht ausgeschieden werden, das nicht mehr galt, und zudem wurden die alten Rechtsquellen teils verändert und auf die neue Rechtslage angepaßt. Dies geschah, indem man bestimmte Regelungen wegließ oder die alten Rechtstexte etwas anders formulierte.
Aufbau des Werks und Abfassungszeit
Die Teile des Corpus Iuris Civilis sind:
- Digestae oder Pandectae, 533/534
- Codex Iustinianeus
- Institutiones (= ein juristisches Lehrbuch zur Einführung in Codex und Pandekten, das vom Gesetzgeber gleich mit veröffentlicht wurde und somit besondere Autorität hat.)
- Novellae, nach 534. (= kaiserliche Gesetze, die nach dem Jahr 534 erlassen wurden (meist in griechischer Sprache), sie wurden in verschiedenen Novellensammlungen gesammelt und veröffentlicht. Im Mittelalter war das so genannte Authentikum verbreitet, eine Novellensammlung mit 126 Novellen. Heute ist eine Novellensammlung mit 136 Novellen die übliche.)
Die einzelnen Teile des Corpus Iuris Civilis sind in Bücher eingeteilt und jedes Buch wiederum in Titel. Jeder Titel wiederum ist in Leges (Einzahl: Lex, deutsch Gesetz) unterteilt, die manchmal noch eine Untergliederung in Paragraphen aufweisen können.
Die Pandekten haben zum Beispiel 50 Bücher. Das 50. Buch zudem 17. Titel. Jeder Titel hat einen Namen. Buch 50 der Pandekten Titel 17 hat zum Beispiel den Namen: De regulis iuris (= Über die Rechtsregeln).
Zitierweise D. 50.17.1 - das heißt, Digesten, Buch 50, Titel 17, Lex 1. Das Zitat D.50.17.1 bezeichnet also die allererste Regelung, die in Buch 50 Titel 17 verzeichnet ist.
Geschichte des Corpus Iuris Civilis in der Spätantike
Die Rezeption des antiken Rechts im Mittelalter sollte sich als ein wichtiger Aspekt bei der Entwicklung des modernen Rechts erweisen. In der Spätantike zerfiel das Römische Reich in mehrere Reichsteile. Der Reichsteil im Westen ging in der Völkerwanderung unter, währenddessen sich das Oströmische Reich noch jahrhundertelang halten konnte. Kaiser Justinian I. hatte das Ziel, das alte Römische Reich wiederherzustellen. Er begann Eroberungszüge gegen Westrom und konnte dort teilweise auch Fuß fassen. In dieser Zeit wurde das Corpus Iuris Civilis geschaffen und wurde demnach also auch in Westrom in Kraft gesetzt. Jedoch konnte das Oströmische Reich seine Gebiete in Westrom nicht lange gegen die anrückenden Germanen halten. Das Corpus Iuris Civilis galt dort zwar für die römischen Bürger weiter, doch war es von der Rechtsentwicklung weitgehend abgeschnitten. Diese erfolgte nur noch durch die Novellen der Oströmischen Kaiser in Ostrom. Das ist übrigens auch ein Grund, warum die meisten Novellen der Novellensammlungen (s.o.) in griechischer Sprache sind.
Für das christliche Abendland ist aber die Geschichte des ehemaligen Weströmischen Reiches von großer Bedeutung. Das Corpus Iuris Civilis blieb dort noch eine zeitlang bekannt. Jedoch sank dort beeinflußt durch die sich niederlassenden Germanenvölker, die auf geringerer kultureller Stufe standen, das allgemeine kulturelle Niveau. Das hochentwickelte Corpus Iuris Civilis wurde nicht mehr verstanden. Man beschäftigte sich demzufolge auch immer weniger mit dem Gesetz. Der umfangreichste Teil des Corpus Iuris Civilis, die Pandekten, gerieten Anfang des 7. Jahrhunderts völlig in Vergessenheit. Sie wurden erst im 12. Jahrhundert wohl von Irnerius in Bologna wiederentdeckt.
Wiederentdeckung und Rezeption
Die Wiederentdeckung der Digesten machte den Weg frei für die Entstehung der modernen Jurisprudenz. Irnerius war der erste, der die Digesten wissenschaftlich bearbeitete. Er war wohl Rhetoriklehrer, also jemand, der sich mit antiken Texten (u.a. auch Rechtstexten) beschäftigte. In der Zeit des Irnerius waren Rechtstexte nicht von einem so hohen Niveau wie das, was in den Digesten stand. Man nimmt an, dass Irnerius über die Güte der Digesten erstaunt gewesen sein muss und interessiert, sich in die unbekannte Materie einzuarbeiten. Weiter scheint er darüber Unterricht gegeben hat. Erst wohl zu weiterführenden rhetorischen Zwecken, bald aber auch, um das Recht selbst, das in den Digesten niedergelegt ist, zu unterrichten.
Aus ersten Schülern, die die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Digesten und dann auch den anderen Teilen des Corpus Iuris Civilis fortsetzten (vgl. Glossator), entstand eine Rechtsschule in Bologna. Bald war das Studium dort von so hoher Attraktivität, daß Studenten aus ganz Europa nach Bologna pilgerten, um dort zu studieren. Später entstanden auch an anderen Orten zunächst Oberitaliens, dann in ganz Europa Universitäten mit wissenschaftlichem Rechtsunterricht (vgl. Gemeines Recht).
Nach dem Studium gingen die Studenten als gelehrte Juristen wieder in ihre Heimatländer zurück, um dort zunächst hohe Ämter in der kirchlichen und in der weltlichen Verwaltung zu übernehmen. In der Ausübung ihrer Aufgaben konnten die Juristen ihre am römischen Recht erlernten Fähigkeiten anwenden, teils wendeten sie auch Rechtsinhalte des Corpus Iuris Civilis praktisch an. Später übernahmen gelehrte Juristen auch Ämter in der Rechtsprechung und verdrängten dort allmählich sog. ungelehrte Richter, die nicht das römische Recht studiert hatten, sondern das Recht aufgrund lokaler Rechtsgewohnheiten sprachen. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Schaffung des Reichskammergerichts, des höchsten Gerichts im Römischen Reich Deutscher Nation, in dem die Hälfte der rechtsprechenden Assessoren gelehrte Juristen sein mußten.
Das Corpus Iuris Civilis bildete im kontinentalen Europa viele Jahrhunderte lang die maßgebliche Rechtsquelle (vgl. Gemeines Recht). Mit der Epoche des Naturrechts wurde es in vielen Ländern Europas von nationalen Rechtskodifikationen abgelöst, die jedoch auf dem wissenschaftlich bearbeiteten Recht des Corpus Iuris Civilis aufbauen und in seiner Tradition stehen (z.B. der französische Code Civil, das preußische Allgemeine Landrecht, das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch). In Deutschland galt das Corpus Iuris Civilis in manchen Gebieten bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs am 1. Januar 1900. Auch das BGB hat seine Wurzeln im wissenschaftlich bearbeiteten (vgl. Pandektenwissenschaft) Corpus Iuris Civilis.
Mehr zu diesem Thema: siehe auch unter Rezeption des römischen Rechts und Gemeines Recht.
Ausgaben des Corpus Iuris Civilis
- Theodor Mommsen, Paul Krüger (Hg.): Corpus Iuris Civilis, Hildesheim 1988, ISBN 3296121013
- Okko Behrends, Rolf Knüttel und andere (Hrsg.): Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, Heidelberg 1995 ff., ISBN 3811491946
Siehe auch
- Portal und Themenliste Rom
- Pandekten
- Römisches Recht
- Römisches Eherecht
- Codex Iustinianus
- Marcus Antistius Labeo
Literatur
- Mario Bretone: Geschichte des Römischen Rechts, München 1992, ISBN 3406365892