Kleine-Welt-Phänomen
Das Small-World-Phänomen oder Kleine-Welt-Phänomen (engl.: Small world phenomenon) ist ein 1967 geprägter soziologischer Begriff, der innerhalb der sozialen Vernetzung in der modernen Gesellschaft den hohen Grad abkürzender Wege durch persönliche Beziehungen bezeichnet. Es bezeichnet eine Prognose, nach der jeder Mensch (soziale Akteur) auf der Welt mit jedem anderen über eine überraschend kurze Kette von Bekanntschaftsbeziehungen verbunden ist. (Dies ist erstaunlicher Weise möglich, obwohl die "Dichte" des sozialen Netzwerks aller Akteure - gemessen als das Verhältnis der realen zu den rechnerisch möglichen Kontakten der Kontaktpersonen eines jedweden Akteurs - extrem gering ist, nämlich nahe 0.)
Das Milgram-Experiment
Der Begriff geht auf den us-amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram zurück, der in den 1960er Jahren experimentell feststellte, dass beliebige Menschen durch eine Kette nur weniger miteinander bekannter Personen verbunden sind. Er gab Versuchspersonen einen Brief an eine ihnen völlig unbekannte Zielperson, den sie an einen Bekannten schicken sollten, von dem sie glaubten, dass er dem Adressaten näherstehen würde. Dieser sollte dann ebenso verfahren, bis der Brief schließlich sein Ziel erreichte. Solche Ketten bestanden durchschnittlich aus 6 Personen ("six degrees of separation"). Kritisch eingewendet werden muss allerdings, dass nur ein Bruchteil der von Milgram verteilten Briefe auch den Adressaten erreichte (0,5% in der Erststudie, 21% in einer Zweitstudie mit nicht zufällig ausgewählten Personen) und auch unklar blieb, inwiefern das Experiment die von ihm dokumentierten Bekanntschaftsnetze nicht erst selbst erzeugte, der small-world-Befund also ein Methodenartefakt darstellt.
Neuere Untersuchungen insbesondere von Duncan Watts [1] versuchen eine Replikation der Hypothesen Milgrams auch für Kommunikationswege per E-Mail, mit ähnlich geringen Zahlen erfolgreicher Vermittlungen (1,5%).
Small-World-Netzwerke
Das Small-World-Phänomen lässt sich auch auf andere Netzwerke und Graphen übertragen, wie insbesondere seit Ende der 1990er Jahre die mathematisierte Netzwerkforschung zu zeigen versucht. Das Grundprinzip ist, dass einzelne Objekte, z.B. Personen, als Knoten repräsentiert sind, zwischen denen eine Kante besteht, wenn zwischen ihnen eine bestimmte Beziehung (beispielsweise Bekanntschaft) besteht. Nach diesem Muster sind unter anderem die Erdös-Zahl und die Bacon-Zahl definiert.
In Small World-Netzwerken beobachtet man zwei Phänomene:
Transitivität
Erstens ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass zwei Knoten, die jeweils eine Kante zu einem dritten Knoten haben, auch untereinander verbunden sind. Auf soziale Netzwerke übertragen bedeutet das, dass die Freunde einer Person meistens auch untereinander bekannt sind, weil sie sich über den gemeinsamen Freund kennengelernt haben (Transitivitätsprinzip). Mathematisch wird diese Tatsache über den Clustering-Koeffizienten beschrieben, der für Small World-Netzwerke durchschnittlich sehr hoch ist. Diese Behauptung ist freilich umstritten, denn sie setzt voraus, dass die Akteure ('Knoten') keine kopfreichen (z.B. urbane) Netzwerke und selber wenig soziale Rollen haben.
Geringer Durchmesser
Zweitens ist der Durchmesser dieser Netzwerke relativ klein. Das bedeutet, dass eine Nachricht, die jeweils von einem Knoten über eine Kante zu allen seinen Nachbarknoten weitergereicht wird, in kürzester Zeit alle Knoten in dem Netzwerk erreicht hat. Von besonderer Bedeutung sind dabei sog. short chains, als Verbindungen zu einzelnen weit entfernten Knoten. Auch dies ist bestritten, weil eine 'Nähe' kraft aktivierbarer Bekanntschaften (d.h. eine geringe Kantenzahl) noch nicht bedeuten muss, dass bestimmte Nachrichten sich so schnell verbreiten, wie der geschilderte Experimental-Brief.
Beispiele für skalenfreie Netzwerke
Die mathematisierte Netzwerkforschung hat im Zuge der Beschäftigung mit small-world networks eine Pluralität von Strukturmustern festgestellt und dabei ihr besonderes Augenmerk auf sog. skalenfreie Netze gelegt. Dabei handelt es sich um Netzwerke, bei denen einige wenige Knoten (sog. hubs) potentiell unendlich viele Verbindungen aufweisen, während ein Großteil der übrigen Knoten relativ wenige Beziehungen zu anderen Knoten hat (Potenzgesetz).
Bekannte small worlds sind beispielsweise das amerikanische Stromnetz, nahezu alle Teilmengen von sozialen Netzwerken, eine Submenge der Seiten des WWW, sonstige Artikel, bspw. in einer Enzyklopädie, die miteinander durch Verweise verlinkt sind und auch die Router des Internet. Um die Störungsanfälligkeit dieser Netze zu beurteilen, ist dies ein bedeutsamer Ansatz, denn man kann eine Störung auch als eine 'Nachricht' auffassen. Allerdings ist zur Zeit noch strittig, inwieweit die genannten Netzwerke wirklich alle eine scale-free-Struktur aufweisen. (Die Systemtheorie (auch die Katastrophensoziologie) behandelt derartige Stromnetze nicht als small world, sondern als - enger oder loser - gekoppelte Systeme.)
Die spezielle Vernetzung eines skalenfreien Netzes macht ein solches robust gegen den zufälligen Ausfall einiger Knoten oder Kanten. Falls aber 'wichtige' Knoten (hubs) gezielt entfernt werden, zerfällt das Netzwerk schnell in Teilnetze. Dies ist der Grund, warum der Ausfall nur weniger Router im Internet weitreichende Auswirkungen haben kann. Umgekehrt hat die scale-free- Struktur des Internet auch die rasche Verbreitung von Computerviren zur Folge, falls diese einmal die hubs erreicht haben. Ähnliches gilt, so die Vermutung der Forschung, für die Ausbreitung von HIV in Sexualnetzwerken.
Dem Small World Phänomen wurde mit dem auch verfilmten Theaterstück "Six Degrees of Separation" von John Guare (1993) auch ein künstlerisches Denkmal gesetzt.
Modellierung
Erste Ansätze
Erste Modellierungsansätze zur Beschreibung des "kleine Welt"-Phänomens waren einerseits ein stark verbundenes Gittermodell und andererseits die Erdös-Renyi-Zufallsgraphen. Sie entstanden bereits kurz nach Veröffentlichung des Milgramschen Briefketten-Versuchs, konnten aber das soziale Netzwerk noch nicht zufriedenstellend modellieren.
- Beim stark verbundenen Gittermodell nimmt man alle ganzzahligen Punkte der Ebene und verbindet nicht nur direkte Nachbarn durch Kanten, sondern alle Punkte, bei denen sich die Koordinaten jeweils um höchstens einen festen Betrag unterscheiden (für ist ein Punkt also mit allen Punkten innerhalb eines 31x31-Karos -- insgesamt 960 Punkten verbunden).
- Erdös-Renyi-Zufallsgraphen gehen auch Gitterpunkten einer Ebene aus; hier setzt man jedoch die Kanten zwischen allen Punkten der (endlichen) Ebene entsprechend einer vorgegebenen Wahrscheinlichkeit (wobei eine recht kleine Zahl ist).
Beide Modelle können jedoch jeweils nur einen Aspekt von kleine Welt-Netzwerken darstellen: Das Gittermodell stellt die lokalen Verbindungen eines Individuums dar, während der Zufallsgraph die globalen Verbindungen modelliert.
Weiterentwicklung des Modells
Die entscheidende Weiterentwicklung wurde von Duncan J. Watts und Steven H. Strogatz (1998) vorgestellt. Der wesentliche Ansatz ist dabei, beide vorgestellte Modelle miteinander zu verknüpfen, um die verschiedenen Beziehungen in der realen Welt abzubilden.
Das Modell startet mit einem bestehenden, regelmäßig verbundenen Netzwerk. Ein kleiner Anteil der Verbindungen wird anschließend gelöst und zu zufälligen neuen Nachbarn gelegt. Das Ergebnis ist ein sogenanntes egalitäres Netzwerk, das so heißt, weil jeder Knoten etwa die gleiche Anzahl an Kanten zu anderen Knoten hat.
Ein weiterführendes Modell ist das von Albert-László Barabási und Réka Albert (1999). Hier beginnt man mit einem voll verbundenen Netz von drei Knoten und fügt dem Netzwerk nacheinander neue Knoten hinzu. Diese bilden jeweils eine bestimmte Anzahl neuer Verbindungen zum bestehenden Netzwerk aus. Hierbei ist die Wahrscheinlichkeit für einen bestehenden Knoten, als Partner gewählt zu werden, proportional zu der Anzahl der Verbindungen, die dieser bereits besitzt: Die Reichen werden immer reicher. Netzwerke dieser Struktur werden auch als aristokratisch oder hierarchisch bezeichnet.
Beide Simulationen erzeugen Netzwerke mit Small World-Effekt. Barabási-Albert-Netzwerke sind zudem skalenfrei.
Computersimulation
Die Möglichkeiten der Computerphysik erlauben es, Modelle empirisch zu überprüfen, die das Entstehen von Netzwerken mit Eigenschaften wie dem Small World-Phänomen erklären sollen.
Siehe auch: Gemeinschaft, Power law, Skaleninvarianz, Soziales Netzwerk, Kommunikationsnetzwerk, Skalenfreies Netz, geodätische Distanz
Literatur
- Stanley Milgram: The Small World Problem. In: Psychology Today, Mai 1967, S. 60-67
- Duncan J. Watts: Six Degrees - The Science of a Connected Age. W.W. Norton & Company, 2003 ISBN 0-393-04142-5
- Duncan J. Watts: Small worlds. Princeton University Press 1999. ISBN 0-691-00541-9
- Duncan J. Watts and Stephen H. Strogatz: Collective dynamics of ’small-world’ networks. Nature (1998), Juni, Nr. 393, S. 440-442
- Albert-László Barabási: Linked: How Everything is Connected to Everything Else and What It Means for Business, Science, and Everyday Life. Plume Books 2003 (vgl. auch die Homepage des Autors)
- Albert-László Barabási and Réka Albert: Emergence of scaling in random networks. Science 286, 509-512 (1999).
- Steven Strogatz Sync. The Emerging Science of Spontaneous Order, Hyperion, New York 2003 (dt. Synchron. Vom rätselhaften Rhythmus der Natur, Berlin Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-8270-0439-X)
- Mark Buchanan: Small Worlds. Campus, Frankfurt 2002, ISBN 3-593-36801-3