Heilbronner Phantom
Beim Heilbronner Phantom, in der Medienberichterstattung oft auch Frau ohne Gesicht und von der Polizei Unbekannte weibliche Person (UwP) genannt, handelt es sich um einen Irrtum der Kriminalistik. Wegen verunreinigter DNA-Spuren wurde zwei Jahre nach einer unbekannten Person, welche seit 1993 mit zahlreichen Straftaten in Verbindung gebracht wurde, zuerst von einer Sonderkommission, später vom LKA Stuttgart, gefahndet. Ihren Namen erhielt die Unbekannte durch einen mit ihr in Verbindung gebrachten Mord an einer Polizistin in Heilbronn im Jahr 2007.
Der Zusammenhang zwischen der mutmaßlichen Person und den Straftaten bestand jedoch nur darin, dass in DNA-Analysen von Spuren an den Tatorten eine bestimmte weibliche DNA festgestellt wurde. Das Alter und das Aussehen der Person blieben unbekannt. Die spezifischen DNA-Spuren wurden bis März 2009 insgesamt 40-mal[1] an Tatorten in Österreich, Frankreich und Deutschland nachgewiesen. Ende März 2009 wurde bekannt, dass die Ermittlungsbehörden mittlerweile davon ausgehen, dass es sich bei den gefundenen DNA-Spuren um eine Verunreinigung der Stäbchen handelt, mit denen die DNA-Spuren an den Tatorten aufgenommen werden, und nicht um die Spuren einer konkreten Täterin.[2]
Zugeordnete Straftaten
Insgesamt wurde die DNA an Proben von 40 Tatorten insbesondere in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Österreich sichergestellt, unter anderem aufgrund von sechs Mordfällen. Die Spuren gingen bis ins Jahr 1993 zurück. [3]
Am 25. April 2007 wurden eine 22-jährige Polizistin in Heilbronn getötet und ihr 24-jähriger Kollege lebensgefährlich verletzt. Die Dienstwaffen und Handschellen der Polizisten fehlen seitdem. Der aus dem Koma erwachte Kollege der Erschossenen kann sich an die Tat selbst nicht erinnern. In Heilbronn erinnert eine Gedenktafel auf der Theresienwiese an das Verbrechen.
Anfang Juni 2007 wurde per DNA-Analyse vom Tatort in Spuren die DNA des „Phantoms“ gefunden. Diese wurde davor und danach auch in Spuren von folgenden weiteren Tatorten festgestellt:[1][4]
- an einer Tasse nach der Tötung einer 62-Jährigen am 25./26. Mai 1993 in Idar-Oberstein (DNA-Analyse 2001)
- an Küchenschubladen nach der Tötung eines 61-Jährigen am 24. März 2001 in Freiburg im Breisgau
- an einer Spritze mit Heroin im Oktober 2001 in einem Waldstück in Gerolstein
- auf einem Keksrest in einem in der Nacht zum 25. Oktober 2001 in Budenheim aufgebrochenen Wohnwagen
- auf einer Spielzeugpistole nach einem Überfall auf vietnamesische Edelsteinhändler 2004 in Arbois
- auf einem Projektil nach einem Streit zwischen zwei Brüdern am 6. Mai 2005 in Worms[5]
- bei einem Einbruch am 6. Juli 2006 in eine Elektrohandlung im österreichischen Mauthausen[6]
- an einem Stein nach einem Einbruch am 3. Oktober 2006 in ein Wohn- und Geschäftshaus im Saarbrücker Stadtteil Burbach (DNA-Analyse April 2008)
- nach einem Einbruch im März 2007 in ein Optikergeschäft in Gallneukirchen
- an einer Getränkedose nach einem Einbruch in der Nacht zum 7. Juli 2007 in eine Saarbrücker Schule durch eine Gruppe Teenager (DNA-Analyse März 2009)[7]
- nach 20 weiteren Einbrüchen und Auto- und Motorraddiebstählen von 2003 bis 2007 in Hessen, Baden-Württemberg, Tirol, Oberösterreich und im Saarland
- an einem Auto, mit dem die Leichen von drei am 30. Januar 2008 in Heppenheim getöteten Georgiern transportiert wurden (DNA-Analyse 10. März 2008)
- nach einem in der Nacht zum 23. März 2008 verübten Einbruch in ein stillgelegtes Hallenbad in Niederstetten
- nach vier Fällen von Homejacking in Quierschied (zweimal), Tholey und Riol im März und April 2008[8]
- nach einem Wohnungseinbruch in Oberstenfeld-Gronau in der Nacht zum 10. April 2008
- nach einem Überfall auf eine Frau am Abend des 9. Mai 2008 in einem Vereinsheim in Saarhölzbach[9]
- an einer Wohnungstür nach einem Streit zwischen zwei Männern am 7. Oktober 2008 in Mannheim (DNA-Analyse Januar 2009)[10][11]
- im Auto einer Pflegehelferin, die Ende Oktober 2008 bei Weinsberg tot aufgefunden wurde[12][13]
Da sich der Zeitpunkt, zu dem eine DNA-Spur hinterlassen wurde, durch die DNA-Analyse nicht feststellen lässt, ist eine direkte Tatbeteiligung durch die gefundenen Spuren nicht gesichert und in mehreren Fällen auch sehr unwahrscheinlich. Nachdem die DNA-Spur 2009 an einer Coladose nach einem Einbruch in einer Saarbrücker Schule [14] und an der Leiche eines bereits seit dem Jahre 2002 vermissten Asylbewerbers festgestellt wurden, verdichteten sich die Zweifel an dem „Phantom“.[15]
Ermittlungen
Mit der Ermittlung wurden fünf Sonderkommissionen, sechs Staatsanwaltschaften in drei deutschen Bundesländern sowie Polizisten in Deutschland, Österreich und Frankreich beschäftigt. [16]
Die österreichische Polizei hatte im November 2008 einen mit internationalem Haftbefehl gesuchter Kaukasier festgenommen, dessen DNA-Material gemeinsam mit dem der Unbekannten bei Tatorten gefunden wurde. Aufgrund von Zeugenaussagen wurde die Möglichkeit eines männlichen Erscheinungsbilds der Tatverdächtigen in Betracht gezogen. Eine in Österreich am Institut für Gerichtliche Medizin Innsbruck vorgenommene Untersuchung der mitochondrialen DNA ergab, dass die DNA Charakteristika aufweist, die gehäuft in Osteuropa und im Gebiet der angrenzenden Russischen Föderation auftreten.[17]
Bereits Anfang 2009 wurden Wattestäbchen der Firma Greiner Bio-One International AG als verunreinigte Spurenträger identifiziert. In Österreich wurde bereits zwischen 2004 und 2007 die DNA-Spur bei 16 Diebstählen festgestellt und in acht Fällen die Täter gefasst. [18]
Im Januar 2009 wurde die Belohnung für Hinweise auf den Verbleib der vermeintlichen Frau auf 300.000 Euro erhöht. Die Ermittlungen wurden zunächst von der Polizeidirektion Heilbronn in der Sonderkommission Parkplatz geführt. Die Sonderkommission wurde am 11. Februar 2009 wegen personeller Überlastung ans Landeskriminalamt Baden-Württemberg verlagert.[19]
Das Ende der Jagd
Neben der tatsächlichen Anwesenheit einer Person an den Tatorten gab es auch alternative Erklärungen für das Auffinden der DNA. Zum einen hätten bewusst falsche DNA-Spuren gelegt worden sein können. Aufgrund der Verschiedenheit der vorliegenden Spuren (Speichel, Schweiß, Blut, Hautzellen) und der Tatsache, dass dies 1993 und 2001 sehr vorausschauend gewesen wäre, war diese Möglichkeit jedoch nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen.[4]
Zum anderen war auch schon frühzeitig über eine Verunreinigung eines Teils der Ausrüstung zur Spurensicherung und -analyse spekuliert worden. Die festgestellte DNA wäre dann die einer Person, die mit dem jeweiligen Wattestäbchen schon während dessen Produktion in Kontakt kam: Dies könne [auf Wattestäbchen bezogen] theoretisch schon beim Pflücken der Baumwolle geschehen[2]. Im vorliegenden Fall wurde diese Fehlerquelle wegen der geographischen Häufung der Funde und negativ verlaufenen Blindtests ohne DNA-Material zunächst ausgeschlossen.[20][21]
Im März 2009 wurde die Verunreinigungstheorie wieder diskutiert.[22] Die Ermittlungsbehörden gingen nun der Möglichkeit der Verunreinigung nach, da einige der DNA-Spuren aus kriminalistischer Sicht nicht mehr plausibel waren.[23] Mit der Feststellung, dass vermutlich die Wattestäbchen verunreinigt waren, mit denen die DNA-Spuren an einem Tatort in der Regel aufgenommen werden, endete dann die Jagd nach dem „Phantom“.
Die zuständigen Polizeibehörden aller Orte, an denen die „Phantom“-DNA festgestellt worden war, hatten ihre Abstrichbestecke von Greiner Bio One International AG in Frickenhausen bezogen. Das erklärt auch, warum in Bayern (dessen Polizei Wattestäbchen eines anderen Herstellers bezieht) keine derartigen DNA-Spuren festgestellt wurden. Damit war das Rätsel der merkwürdigen geographischen Verteilung der DNA-Fundstellen und die Verschiedenheit der Fälle, in denen sie auftauchten, gelöst. Die DNA-Verunreinigung auf den Wattestäbchen stammte von einer Mitarbeiterin des Herstellerbetriebs.[24] In Österreich war eine solche Verunreinigung der DNA-Abstrichbestecke schon seit April 2008 vermutet worden.
Es stellte sich in diesem Zusammenhang heraus, dass es für jenen entscheidenden Baustein der juristischen DNA-Beweisführung bislang keine verbindlichen Qualitäts- bzw. Sterilitätsstandards gibt.[25] Diese Feststellungen führten zu einer Diskussion über die Qualitätsstandards von Wattestäbchen und den Bezug dieses Produktes. Das Hauptproblem hierbei ist, dass entsprechende Normen nur empfehlende Vorgaben sind. Die Behörden wollen sich künftig Garantien für die Qualität der Wattestäbchen geben lassen.[26]
Die Greiner Bio One International AG weist auf ihrer Webseite mittlerweile darauf hin, dass die von ihnen bezogenen Abstrichbestecke niemals für den Einsatz im Zusammenhang mit DNA-Spuren gedacht waren, sondern nur für Abstriche im bakteriologischen Bereich, und dass dies auch aus der Produktbeschreibung und den Beipackzetteln eindeutig hervorgehe.[27]
Einzelnachweise
- ↑ a b Orte, an denen die DNA bisher gefunden wurde, stimme.de
- ↑ a b „Das hätte nicht passieren dürfen“ - SPIEGEL-Online-Artikel über die Verunreinigung vom 26. März 2009
- ↑ Netzeitung: Der Wattestäbchen-GAU der Polizei vom 26. März 2009
- ↑ a b Christian Schüle: Die Unsichtbare, Die Zeit Nr. 18, 24. April 2008, S. 17
- ↑ Jörg Diehl: Jagd auf das Phantom, Spiegel Online, 28. März 2008, abgerufen am 7. Februar 2009
- ↑ Andreas Ulrich: Polizei untersucht neue Spur zum Phantom, Spiegel Online, 17. Juni 2008, abgerufen am 7. Februar 2009
- ↑ Heilbronner Polizistenmord: Phantom hinterlässt DNA-Spur in einer Schule, stimme.de, 18. März 2009
- ↑ Carsten Friese: Und wieder schweigen die Komplizen des Phantoms eisern. In: Heilbronner Stimme. 19. Dezember 2008 (bei stimme.de [abgerufen am 21. Dezember 2008]).
- ↑ „Phantom“ hinterlässt erneut DNA-Spur, Spiegel Online, 7. August 2008
- ↑ Die „Frau ohne Gesicht“ ist wieder da, derNewsticker.de, 6. Februar 2009, abgerufen am 6. Februar 2009
- ↑ Neue Spur vom Phantom, Spiegel Online, 7. Februar 2009, abgerufen am 7. Februar 2009
- ↑ Helmut Buchholz, Andreas Tschürtz: Phantom kehrt in die Region Heilbronn zurück. In: Heilbronner Stimme. 19. Dezember 2008 (bei stimme.de [abgerufen am 21. Dezember 2008]).
Carsten Friese, Helmut Buchholz: Was hat das Phantom mit der Pflegehelferin zu tun? In: Heilbronner Stimme. 20. Dezember 2008 (bei stimme.de [abgerufen am 21. Dezember 2008]). - ↑ Ermittler finden neue Spuren des Phantoms, Spiegel Online, 18. Dezember 2008, abgerufen am 7. Februar 2009
- ↑ Netzeitung: Heilbronner «Phantom» löst sich wohl in Luft auf vom 25. März 2009
- ↑ Netzeitung: Der Wattestäbchen-GAU der Polizei vom 26. März 2009
- ↑ Spiegel Online: Wattestäbchen hätten nicht zur DNA-Analyse eingesetzt werden dürfen vom 27. März 2009
- ↑ Carsten Friese: Haut- und Augenfarbe des Phantoms bleiben ein Geheimnis. In: Heilbronner Stimme. 28. August 2008 (bei stimme.de [abgerufen am 21. Dezember 2008]).
- ↑ Spiegel Online: Österreichische Polizei zog Wattestäbchen schon vor Wochen ein vom 26. März 2009
- ↑ Carsten Friese: Heilbronner Polizistenmord: LKA übernimmt Phantom-Fall. In: Heilbronner Stimme. 12. Februar 2009 (bei stimme.de [abgerufen am 12. Februar 2009]).
- ↑ Carsten Friese: Falsche DNA-Spuren? Polizei weist Theorie zurück. In: Heilbronner Stimme. 24. Dezember 2008 (bei stimme.de [abgerufen am 16. Februar 2009]).
- ↑ „Phantom“-Jäger schließen Laborpannen aus – Suche nach Mörderin geht weiter, Pforzheimer Zeitung, 26. Dezember 2008, abgerufen am 7. Februar 2009
- ↑ Malte Arnsperger, Gerald Drissner et al.: Rätsel um „Phantom“ gelöst?, stern.de, 25. März 2009, abgerufen am 25. März 2009
- ↑ Ist das„Phantom von Heilbronn“ nur ein Phantom? FAZ vom 26. März 2009
- ↑ Phantom-Mörderin hat nie existiert SWR Nachrichten vom 27. März 2009
- ↑ Spiegel-Online: Schwachstelle Wattestäbchen vom 26. März 2009
- ↑ Barbara-Ellen Ross/Ulrike Winter, Die Pannen im Phantom-Fall, RP-Online vom 27, März 2009
- ↑ Pressemitteilung der Greiner Bio One
Weblinks
- Fahndung nach unbekannten Polizistenmördern, Personenfahndung der Polizei Baden-Württemberg
- Heilbronner Polizistenmord, Berichte der Heilbronner Stimme zur Tat
- Heilbronn: Polizistin durch Serientäterin getötet?, ZDF heute.de, 16. Juni 2007
- Julia Giertz: Heilbronn: Polizei jagt Phantom, ZDF heute.de, 17. Juni 2007
- Markus Szumovski: Das Phantom von Heilbronn, weitergedacht.at, 27. Juni 2007
- „Dieser Fall sprengt alles Dagewesene“, Spiegel Online, 27. März 2008
- Simone Kaiser: Neue Spur des „Phantoms“ gefunden, Spiegel Online, 7. April 2008
- Ulrike Eichin, Kristina Kayatz: Der Fall: Die Frau ohne Gesicht (Dokumentarfilm), ZDF.de, 26. August 2008
- Stefan Maier: Heilbronner Polizistenmord: Die Jagd nach einem Phantom (Dokumentarfilm), DasErste.de, 5. Januar 2009
- Rüdiger Soldt: Polizistenmord: Nicht zu fassen, FAZ.net, 1. Februar 2009