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Rechtmäßiges Alternativverhalten

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Unter Rechtmäßiges Alternativverhalten werden im Recht Fälle behandelt, bei denen zwar unrechtmäßig gehandelt wurde und hierdurch ein Schaden eingetreten ist, aber der Schaden auch bei rechtmäßigen Verhalten eingetreten wäre oder hätte eintreten können. Ein Beispiel ist der sogenannte Radfahrer-Fall: Ein LKW-Fahrer hatte zu einem Fahrradfahrer nicht ausreichend Abstand gehalten und der Fahrradfahrer wurde überfahren. Der Unfall wäre allerdings auch passiert, wenn der Abstand eingehalten worden wäre.[1]


Strafrecht

Rechtmäßiges Alternativverhalten meint im Strafrecht im Bereich der objektiven Zurechnung eine Konstellation, bei der sich das durch das pflichtwidrige Täterverhalten begründete Risiko deshalb nicht im konkreten tatbestandlichen Erfolg niederschlägt, weil auch bei einen pflichtgemäßen Verhalten des Täters der Erfolg gleichwohl oder jedenfals mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eingetreten wäre.

Rechtliche Behandlung

Liegt ein Fall des rechtmäßigen Alternativverhaltens vor, so entfällt eine Strafbarkeit mangels objektiver Zurechnung. Für die objektive Zurechnung ist erforderlich, dass der Täter eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, die sich im konkreten tatbestandlichen Erfolg realisiert. Da bei einem pflichtgemäßen Täterverhalten der Erfolg ebenfalls eingetreten wäre, kann dem Täter der Erfolg als solcher nicht angelastet werden. Demnach hat sich auch nicht zwangsläufig das pflichtwidrige Verhalten, d.h. die rechtlich missbilligte Gefahr im konkreten Erfolg niedergeschlagen.

Beispiel

A fährt seinen PKW mit erhöhter Geschwindigkeit durch eine geschlossene Ortschaft. Plötzlich taumelt ihm der betrunkene B vor das Fahrzeug. B kommt durch den Unfall zu Tode. A hätte auch bei Einhaltung der richtigen Geschwindigkeit nicht rechtzeitig bremsen können. Da sich das Risiko des zu schnellen Fahrens nicht im Erfolg niedergeschlagen hat, kann A nicht nach § 222 StGB bestraft werden.

Anwendung des in dubio pro reo Grundsatzes

Die herrschende Meinung wendet in Fällen des rechtmäßigen Alternativverhaltens auch den Grundsatz in dubio pro reo an. Dies bedeutet, wenn bereits konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass es bei pflichtgemäßen Verhalten möglicherweise zum gleichen Erfolg gekommen wäre, eine Strafbarkeit zu Gunsten des Täters entfällt.

Diesen Grundsatz wandte auch der Bundesgerichtshof im folgenden Fall an:

Der Radfahrer R kommt zu Tode, als ihn der LKW-Fahrer L mit zu geringem Seitenabstand überholt. Da R (für L nicht erkennbar) erheblich angetrunken war, besteht Grund zu Annahme, dass er auch dann unter den Anhänger geraten wäre, wenn L den erforderlichen Sicherheitsabstand eingehalten hätte. Auf Grund der verbleibenden Zweifel am Pflichtwidrigkeitszusammenhang ist L der Tod des R nicht zuzurechnen.[2]

Bedeutung bei Fahrlässigkeitsdelikten

Bedeutung hat die Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens vor allem bei Fahrlässigkeitsdelikten im Rahmen des so genannten Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Bei einem Fahrlässigkeitsdelikt ist stets erforderlich, dass sich zwischen dem pflichtwidrigen Täterverhalten einerseits und dem Taterfolg andererseits gerade diejenige rechtlich missbilligte Gefahr verwirklicht hat, die durch die Sorgfaltspflichtverletzung des Täters geschaffen worden ist. Dieser Zusammenhang fehlt, wenn der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten ebenso eingetreten wäre.[3]

Problem der unterschiedlichen Maßstäbe

In bestimmten Fällen ist fraglich, auf welches konkrete Alternativverhalten für die Vermeidbarkeit bzw. Unvermeidbarkeit des Erfolges abzustellen ist. Es können unterschiedliche Maßstäbe herangezogen werden, an welchen sich das rechtmäßige Alternativverhalten bemisst, wodurch dementsprechend unterschiedliche Ergebnisse entstehen. Dies wird an folgendem Beispiel deutlich:

A fährt mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Ein Kind springt vor das Fahrzeug, weshalb es zu einem Unfall kommt und dieses tödlich verletzt wird. Ein Sachverständigengutachten ergibt, dass A zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 1,1 ‰ aufwies. Zwar hätte A bei der Geschwindigkeit von 50 km/h das Geschehen auch im nüchternen Zustand nicht verhindern können. Jedoch wäre der Unfall nicht passiert, wenn er mit der für seinen Trunkenheitsgrad angemessenen Geschwindigkeit von 20 km/h gefahren wäre.

Die Rechtsprechung meint, das maßgebende Alternativverhalten bestehe im Fahren im alkoholisierten Zustand mit entsprechend angepasster Geschwindigkeit.[4] Demnach ist darauf abzustellen, ob der Unfall vermieden worden wäre, wenn der Fahrer seine Geschwindigkeit seinem trunkenen Zustand mit der damit verbundenen verminderten Reaktionsfähigkeit entsprechend verringert hätte. Da A im Beispielsfall nicht entsprechend langsamer gefahren ist, wie es von ihm zu verlangen gewesen wäre, kann ihm der Tod des Kindes zugerechnet werden. Als Argument wird vor allem § 3 Abs. 1 StVO herangezogen, wonach ein Fahrer eben nur so schnell fahren darf, als er sein Fahrzeug beherrscht.

Allerdings steht dem das normierte Fahrverbot gem. § 316 StGB und § 24a StVG entgegen. Es wäre in sich widersprüchlich in diesem Falle eine angepasste Geschwindigkeit für einen betrunkenen Fahrer aufzustellen und damit einen anderen Maßstab für das Alternativverhalten anzulegen, denn ein Betrunkener darf gar nicht fahren, auch nicht mit angepasster Geschwindigkeit. Dementsprechend stellt die herrschende Literaturmeinung darauf ab, ob der Unfall in der konkreten Situation vermeidbar gewesen wäre. Ausgangspunkt ist damit eine Fahrt in nüchternem Zustand. Nach diesem Maßstab wäre der Unfall und der Tod des Kindes auch bei pflichtgemäßem Handeln, d.h. bei rechtmäßigem Alternativverhalten (Fahren ohne Alkohol) nicht verhindert worden. Daraus folgt, dass der Pflichtwidrigkeitszusammenhang und damit auch die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit (gem. § 222 StGB) entfällt.[5]

Zivilrecht

Im Zivilrecht spielt das rechtmäßige Alternativverhalten bei der Haftung in Schadensersatzfällen eine Rolle. Rechtmäßiges Alternativverhalten wird dabei einem Schadensersatzanspruch entgegengehalten. Es kann dabei in jedem Haftungsprozess aufgegriffen werden, besondere praktische Bedeutung hat die Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens aber vor allem in Fällen der Arzt- und der Amtshaftung.

Dogmatischer Ansatz

Die Fachliteratur ist uneinheitlich, unter welchen grundsätzlichen Gesichtspunkten das rechtmäßige Alternativverhalten zu behandeln sein soll. Teilweise wird vertreten, dass es eine Frage der hypothetischen Kausalität sei[6], teilweise als Frage des Rechtswidrigkeitszusammenhangs behandelt,[7] teilweise auch als Frage des Schutzzwecks der verletzen Rechtsnorm betrachtet[8]. Auch die Rechtsprechung ist bezüglich des rechtsdogmatischen Ansatzes uneinheitlich.[9]

Beachtlichkeit des Alternativverhaltens

Unabhängig davon, in welchem Zusammenhang das rechtmäßige Alternativverhalten rechtsdogmatisch geprüft wird wird darauf abgestellt, welchen Zweck die verletzte Norm hatte. Es wird damit nach dem Schutzzweck der Norm gefragt, um zu bestimmen, ob der Einwand beachtlich oder unbeachtlich ist.[10][11][12][13] Richtet sich der Schutzzweck der verletzten Norm nicht darauf den fraglichen Schaden ganz oder teilweise abzuwenden, dann handelt es sich nicht um den zulässigen Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Grundsätzlich soll sich dabei derjenige, der einen anderen geschädigt hat, nicht darauf berufen können, er hätte ja auch rechtmäßig handeln können und dann hätte der Schaden auch eintreten können, wenn auch nicht unbedingt müssen.[14]

Amtshaftung

Grundsätzlich ist der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens auch bei staatlichen Akten und Entscheidungen relevant. auch bei rechtmäßigem Verhalten soll der Bürger grundsätzlich nicht besser dastehen, als er bei rechtmäßigem Verhalten stünde.[15] Dies ist unproblematisch, wenn nur eine Handlung rechtmäßig gewesen wäre, etwa eine unzuständige Behörde Lebensmittel beschlagnahmte, die auch die zuständige Behörde wegen Salmonellenbefall beschlagnahmt hätte.[16] In Fällen, in denen Behörden Ermessen eingeräumt wurde ist dabei zu unterscheiden: War das Ermessen auf Null reduziert, also nur eine Entscheidung der Behörde rechtmäßig möglich, oder bestand eine Verwaltungspraxis der Behörde vergleichbare Fälle stets in gleicher Weise zu behandeln, dann kann der Einwand erheblich sein.[17] Bei der Frage, wie Behörden entschieden hätten kommt es im wesentlichen auf die Festellungen des Richters im Prozess an. Diese Festellungen richten sich darauf, wie eine tatsächliche Entscheidung ausgesehen hätte, nicht welche Entscheidung rückblickend sinnvoll gewesen wäre.[18] Allerdings ist zu berücksichtigen, dass bei der Verletzung wesentlicher Verfahrens- und Schutzvorschriften der Einwand nicht durchgreifen kann. So ist das Unterlassen der Beantragung eines Haftbefehls oder ein unterlassenes Enteignungsverfahren auch dann nicht beachtlich, wenn dies ordnungsgemäß hätte erledigt werden können.[15]

Arzthaftung

Bei Arzthaftungsprozess spielt das rechtmäßige Alternativverhalten im Zusammenhang mit unzureichenden oder unterlassenen Patientenaufklärungen eine Rolle. Grundsätzlich kann der Arzt sich darauf berufen, dass der Patient sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in derselben eise entschieden hätte. Allerdings genügt es nicht, dass hierbei ein vernünftiger Patient oder auch nur die Mehrzahl der Patienten sich trotz Aufklärung entsprechend entschieden hätten.[19] Grund hierfür ist, dass die Entscheidungsfreiheit des Patienten geachtet werden muss, was auch das Recht zu irrationalen Entscheidungen umfasst. Entscheidend ist daher, ob der konkrete Patient in seiner Situation dem Eingriff bei ausreichender ärztlicher Aufklärung zugestimmt hätte.[20] Danach muss der Patient im Arzthaftungspozess auf die begründete Einwendung rechtmäßigen Alternativverhaltens durch den Arzt seinerseits plausibel darlegen, dass er bei erfolgter Aufklärung sich in einem Konfliktfall befunden hätte.[21]Referenzfehler: Es fehlt ein schließendes </ref>.n Unzureichend ist jedenfalls ein rein spekulativer Sachvortrag zu möglichen Verhaltensweisen des Geschädigten bei alternativen rechtmäßigem Verhalten.[22]

Belege

  1. BGHSt 11, 1.
  2. Radfahrerfall des BGH in BGHSt 11, 1.
  3. Vgl. Wessels, Johannes/Beulke, Werner: Strafrecht Allgemeiner Teil, 37. Auflage, C.F. Müller Verlag, 2007 Heidelberg, Rn. 675f.
  4. Vgl. BGHSt 24, 31 (34).
  5. Eisele, Jörg, Juristische Arbeitsblätter 2003, S. 40ff.
  6. Oetker, Münchner Kommentar, Band 2 (Schuldrecht Allgemeiner Teil), Verlag C. H. Beck, München , ISBN 978-3-406-54842-0, § 249 RdNr. 211.
  7. Esser/Schmidt, Schuldrecht I, § 33 III 2 b.
  8. Medicus, Bürgerliches Recht , 21. Aufl., Carl Heymanns Verlag, Köln/Berlin/München, 2007, ISBN 978-3-452-26430-5, RdNr. 852.
  9. Vgl. die Übersicht bei Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., Mohr-Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-147984-X, § 4 XII 3.
  10. BGH NJW 1986, 576.
  11. Roland Rixecker in: Geigel/Schleglmilch, Der Haftpflichtprozess, 24. Aufl., Verlag C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-50596-1, § 1 Rdn.47.
  12. Medicus, Bürgerliches Recht , 21. Aufl., Carl Heymanns Verlag, Köln/Berlin/München, 2007, ISBN 978-3-452-26430-5, RdNr. 852.
  13. Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., Mohr-Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-147984-X, § 4 XII 5.
  14. Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., Mohr-Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-147984-X, § 4 XII 5 b.
  15. a b Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., Mohr-Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-147984-X, § 4 XII 5 e.
  16. BGH NJW 1971, 239.
  17. Roland Rixecker in: Geigel/Schleglmilch, Der Haftpflichtprozess, 24. Aufl., Verlag C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-50596-1, § 1 Rdn.47.
  18. Kunschert in: Geigel/Schleglmilch, Der Haftpflichtprozess, 24. Aufl., Verlag C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-50596-1, §20 RdNr. 24.
  19. Kunschert in: Geigel/Schleglmilch, Der Haftpflichtprozess, 24. Aufl., Verlag C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-50596-1, §20 RdNr. 24.
  20. Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., Mohr-Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-147984-X, § 4 XII 6.
  21. Kunschert in: Geigel/Schleglmilch, Der Haftpflichtprozess, 24. Aufl., Verlag C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-50596-1, §20 RdNr. 24.
  22. BGH,Az. II ZR 276/02, Urteil vom 13. September 2004, RdNr. 37.