Geistige Behinderung
Der Begriff geistige Behinderung meint eine langandauernde Schädigung kognitiver Fähigkeiten eines Menschen sowie damit verbundene Einschränkungen seines affektiven Verhaltens.
Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition ist jedoch schwierig. Eine medizinische Definition von geistiger Behinderung lautet, dass sie eine Minderung oder Herabsetzung der maximal erreichbaren Intelligenz ist. Die "International Classification of Diseases" (ICD-10) bezeichnet dieses Phänomen als "Intelligenzminderung" (F70-79). Es gibt jedoch noch mehrere andere Definitionen die auch die Interaktion des Betroffenen mit seiner Umwelt in den Blick rücken.
Im Gegensatz dazu wird mit Demenz der Verlust einer einmal besessenen Fähigkeit bezeichnet.
Synonyme und Sprachgebrauch
In der veralteten Fachsprache wurden früher synonym zu geistiger Behinderung unterschiedlicher Ausprägung Schwachsinn, Debilität, Imbezillität und Idiotie gebraucht. Diese Bezeichnungen sind vollständig aus der Fachsprache verschwunden, und werden häufig als Schimpfwörter gebraucht. Lediglich Schwachsinn findet sich noch im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland.
Auch der Sprachgebrauch im Umgang mit Menschen die diese Behinderung haben hat sich deutlich gewandelt. So wurde in den 1960er Jahren noch von "Geistig Behinderten", bzw. "Schwachsinnigen" gesprochen. Dies verallgemeinert jedoch die Behinderung auf den ganzen Menschen und stigmatisiert ihn. Deshalb wurde später vom "Menschen mit geisitger Behinderung" gesprochen. Dies macht die geistige Behinderung zu einem (von vielen) Eigenschaften des Menschen. Daneben wird auch seit mitte der 1990er Jahre unterschieden zwischen der reinen Schädigung, der Behinderung und dem durch Interaktion mit der Umwelt entstandenen Behinderungszustand.
In den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1994 und 1998 wird vom Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gesprochen, wobei damit das Zielgebiet der Sonderpädagogen angesprochen ist. Als Bezeichnung für die Schüler wird weiterhin Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung verwendet, es tauchen jedoch vereinzelt schon Bezeichnungen auf wie Kinder und Jugendliche mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung.
Von einigen Autoren und zunehmend auch Vertretern verschiedener pädagogischer Richtungen wie Sonderpädagogik, Spezialpädagogik oder Heilpädagogik wird der Begriff Kognitive Behinderung bevorzugt, da er den qualitativen Unterschied zwischen Geist und Gehirn bzw. den qualitativen Unterschied der jeweiligen Fähigkeiten (geistige Fähigkeiten gegenüber kognitive Fähigkeiten) herausstelle.
Auch das Netzwerk People First lehnt den Ausdruck "Geistige Behinderung" komplett ab und setzt sich für seine Abschaffung ein, da er von vielen Menschen als diskriminierend empfunden wird. Als Alternative haben sie den Ausdruck "Lernschwierigkeiten" vorgeschlagen, welcher allerdings wegen seiner ursächlichen anderen Bedeutung (siehe Lernbehinderung) keinen Eingang in die Fachwelt gefunden hat. Einige Ortsverbände der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung haben, aufgrund ihrer Öffnung für anderen Behindertenrichtungen, den Begriff "geistige" aus ihrem Namen gestrichen.
Symptome, Ursachen und Beschwerden
Am auffälligsten sind die Lernschwierigkeiten in der Schule, die Verzögerung der kognitiv-intellektuellen Entwicklung im Kindesalter und das herabgesetzte Abstraktionsvermögen (z.B. Hängenbleiben am Detail bzw. am sinnlich Wahrgenommenen, Leichtgläubigkeit). Nicht nur die durchschnittlich maximal erreichbare Intelligenz, sondern teilweise auch das Anpassungsvermögen und die soziale und emotionale Reife sind beeinträchtigt.
Ursachen für eine geistige Behinderung können sein:
- endogene Intelligenzminderungen, beruhend auf erblicher Grundlage (Erbkrankheiten) oder Chromosomenbesonderheiten wie z.B. Down-Syndrom oder Rett-Syndrom.
- exogene Intelligenzminderungen, beruhend auf erworbenen cerebralen Schädigungen (z.B. durch Unfall, Sauerstoffmangel während der Geburt, Gehirnentzündung / Hirnhautentzündung, Nikotin- oder Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, Strahlung).
- Unbekannte Ursachen wie etwa bei Autismus
Eine geistige Behinderung ist häufig mit anderen Besonderheiten verbunden (z.B. Autismus, Fehlbildungen des Gehirns, Lernstörungen, Beeinträchtigung der Motorik und der Sprache). Sie beeinflusst nicht die Fähigkeit, Gefühle wie z.B. Freude, Wut oder Leid zu empfinden (vgl. kognitive Behinderung), jedoch zum Teil die Fähigkeit, mit diesen Gefühlen umzugehen und sie zu kommunizieren.
In der Regel ist die Lebenserwartung von Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht geringer als die von Menschen ohne eine geistige Behinderung. Die einzige Ausnahme, die jedoch die größte Gruppe unter diesen Menschen trifft, ist das Down-Syndrom. Hier ist die durchschnittliche Lebenserwartung, aufgrund einer schnelleren Alterung, gemildert. Durch eine bessere medizinische Versorung (z.B. Operationen von Herzfehlern) erreichen heute aber mehr als 2/3 das 40. Lebensjahr.
Beschreibung der Intelligenzquotienten, Grad der Behinderung
Der Schweregrad der Intelligenzminderung wird mit Hilfe standardisierter Intelligenztests festgestellt.
Der Grenzfall gilt als grenzwertige Intelligenz (manchmal auch: Lernbehinderung): IQ von 70 bis 89
1. Grad: Leichte Intelligenzminderung, IQ von 69 bis 50
2. Grad: Mittelgradige/mäßige Intelligenzminderung, IQ von 49 bis 35
3. Grad: Schwere Intelligenzminderung, IQ von 34 bis 20
4. Grad: Schwerste/sehr schwere Intelligenzminderung IQ von 19 bis 0
Daneben gibt es in der ICD-10-Klassifikation auch noch die Intelligenzminderung ohne nähere Angaben. Sie wird nur dann kodiert, wenn der Intelligenzquotient wegen körperlicher Behinderung, Sinnesbeeinträchtigungen oder Verhaltensstörung nicht feststellbar ist.
Ist die Durchführung eines Intelligenztests z. B. wegen einer körperlichen Behinderung oder einer Verhaltensstörung nicht möglich, werden andere Tests durchgeführt (zum Beispiel selbstständiges Essen und Trinken, Arbeitsproben, selbstständiges Ankleiden).
Diese starre Sichtweise ist heute allerdings sehr umstritten. Mittlerweile ist sie einer individuellen Einzelfallbeschreibung im Rahmen einer systemischen Analyse der Mensch-Umfeld-Verhältnisse gewichen.
siehe Intelligenzminderung
Erziehung
Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung haben sowohl ein Schulrecht als auch eine Schulpflicht. Die Schulpflicht beträgt wie bei allen Schülern in Deutschland insgesamt 12 Jahre (inklusive Berufsschulstufe). Diese kann jedoch aufgrund besonderer Umstände (z.B. noch zu erwartender Leistungsentfaltungen) um 1 Jahr verlängert werden.
Sprach man bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ihnen noch die Fähigkeit zur Bildung ab, so entstanden im Laufe der Jahre ab etwa 1960 mehr und mehr Sonderschulen. Man versuchte sie so über einen "Schonraum" zu schützen und sie so zu stärken. Von dieser Idee kam man ab den 1990er Jahren ab, da so die Schüler von den "normalen" Schüler getrennt werden und sie in eine (negative) Sonderrolle gedrängt werden. So erhoben sich immer mehr Stimme die für eine Integration der Kinder und Jugendlichen in die Regelschulen plädieren.
Wie die gesamte Sonderpädagogik ist auch das Schulsystem aktuell im Wandel begriffen. Nicht nur die frühere Bezeichnung Schule zur individuellen Lebensbewältigung wurde zugunsten von Schule für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung geändert, auch das frühere 4 gliedrige System von Unterstufe Mittelstufe, Oberstufe und Werkstufe wurde in eine Grundschulstufe, eine Hauptschulstufe und eine Werk- oder Berufsschulstufe geändert.
Ziel der heutigen Sonderpädagogik ist es die Menschen ein möglichst autonomes und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Es wird angestrebt die Schüler in eine Arbeitsstelle des ersten Arbeitsmarktes zu vermittlen. Jedoch gelingt dies selten und ein Großteil bekommt in Werkstätten für behinderte Menschen einen Arbeitsplatz.
siehe auch: Sonderschule, Förderschule, Heilpädagogik, Geistigbehindertenpädagogik
Unterbringung und Wohnmöglichkeiten
Menschen mit leichter und auch mittelgradiger geistiger Behinderung können durchaus selbständig am Leben in der Gesellschaft teilhaben, z.B. durch Besuch der Regelschule, Arbeiten, etc.
Dabei wird auch ein individuelles Maß an Unabhängigkeit erreicht. Mit zunehmendem Schweregrad der Behinderung wächst auch der Bedarf an Unterstützung in verschiedenen Lebensbereichen. Bei schwerster Behinderung können Mobilität, Kontinenz oder Kommunikation bis hin zur erheblichen Pflegebedürftigkeit beeinträchtigt sein.
Menschen mit geistiger Behinderung werden i. d. R. nicht mehr in Anstalten, Krankenhäusern untergebracht was früher zur Ausgrenzung und regelmäßig zu Symptomen wie Hospitalismus führte.
Moderne Wohnformen sollen nur die jeweils notwendige Unterstützung bieten und die Autonomie fördern, so etwa das Betreute Wohnen in der eigenen Wohnung oder der Wohngemeinschaft, oder das Wohnheim für behinderte Menschen mit individueller Betreuung und Assistenz.
Mittlerweile gibt es integrative Therapieprogramme wie zum Beispiel der Stiftung Alsterdorf in Hamburg, wo geistig Behinderte und Nicht-Behinderte in einer Dorfanlage zusammen leben. Von Geel aus (im Nordosten Belgiens) verbreitet sich die Unterbringung von geistig Behinderten und psychisch Kranken in Pflegefamilien. Seit einiger Zeit gibt es solche integrativen Therapiemodelle wie in Geel auch in Deutschland, in der Schweiz und in Frankreich.
Rechtslage von Menschen mit geistiger Behinderung
Menschen mit leichter geistiger Behinderung können durchaus am öffentlichen Leben teilnehmen. Wenn sie volljährig sind, können die Eltern für sie die Bürgerrechte (Wahlrecht etc.) beantragen. Voraussetzung dafür ist die Geschäftsfähigkeit, d.h. das ihnen eine gewisse Einsichtsfähigkeit in die eigenen Fähigkeiten gegeben ist und sie keinen ständigen Vertreter zugewiesen bekamen.
Geistige Behinderung und Sexualität
Menschen mit geistiger Behinderung dürfen, wenn sie geschäftsfähig sind heiraten. Das Thema der Familiengründung (Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung) ist ein in der Fachwelt noch sehr wenig erforschtes Gebiet. Das gesamte Feld Geistige Behinderung und Sexualität ist ein auch heute noch sehr sensibles Feld, welches sich erst langsam der gesellschaftlichen Tabuisierung entzieht..
Seit 1992 sind zwangsweise Sterilisationen von Menschen mit geistiger Behinderung (wie früher zum Beispiel in der Nazi-Zeit üblich) in Deutschland verboten. Ohne ihre (bzw. bei nicht einwilligungsfähigen Menschen ihr Vormund) Zustimmung dürfen Menschen nicht mehr sterilisiert werden. Dies wäre nach § 1905 BGB eine Körperverletzung.
Anliegen für die Zukunft
Die Anliegen, deren Realisierung ein Ziel von Menschen mit unterschiedlichen kognitiven Behinderungen und deren Familien und Freunden ist, lassen sich zusammenfassen in den Leitgedanken:
- Soziale Teilhabe statt Pflege.
- Überlegte Planung statt Barrierenerrichtung.
- Achtung und Respekt statt Diskriminierung.
- Integrierte Teilhabe statt vorgeburtliche Selektion und gesellschaftlich-institutionelle Ausgrenzung.
Siehe auch
- kognitive Behinderung
- Pseudodebilität
- Liste der Syndrome
- Behinderung
- Körperbehinderung
- Sinnesbehinderung
Literatur
- Feuser, Georg: Geistigbehinderte gibt es nicht! Projektionen und Artefakte in der Geistigbehindertenpädagogik. (in: Geistige Behinderung, 1/1996, Seite 18 – 25)
- Speck, Otto: System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. München, Basel 1998
Kinder- und Jugendliteratur zum Thema geistige Behinderung allgemein
- Gilmore, Rachna (1997): Eine Freundin wie Zilla
- Jaeckel, Karin (1990, Jugendalter): Mitleid? Nein danke!
- Laird, Elizabeth (1999, ab 14 Jahre): Ben lacht
- Randsborg-Jenseg, Grete (1997, ab 14 Jahre): Lieber Niemand
- Obermayer, Inge: Georgie
Weblinks
- Georg Feuser, u.a. Geistigbehinderte gibt es nicht!
- Matthias Fallenstein: Geistigbehinderte gibt es nicht!
- Abschied von der Klassifikation von Menschen mit geistiger Behinderung
- Der Paradigmenwandel in der Diagnostik und seine Konsequenzen
- Geistige Behinderung: Ein Begriff auf dem Prüfstand
- Neuer Begriff für "Geistige Behinderung"? Ansätze und Meinungen
- Kongress der Lebenshilfe: "Schritt in die richtige Richtung"
- Geistige Behinderung - Formierungsprozesse und Akte der Gegenwehr
- Über die Wichtigkeit von Freundschaften zwischen Menschen mit und ohne geistige Behinderung
- Sexualität und geistige Behinderung
- Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung
- Geistige Behinderung und die Grundlagen menschlichen Seins
- Geistige Behinderung und Integration
- Eltern mit Behinderung
- Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.
- Unterrichtsentwürfe und Unterrichtsmaterialien für Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
- Kunstwerke von Schülern mit geistiger Behinderung