Selenmangel
Klassifikation nach ICD-10 | |
---|---|
E59 | Alimentärer Selenmangel |
E64.8 | Folgen sonstiger alimentärer Mangelzustände |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Bei Selenmangel fehlt es dem Körper an dem essentiellen Spurenelement Selen. Das Gegenteil, eine Überversorgung mit Selen wird als Selenose bezeichnet.
Selenhaushalt des Menschen
Selen findet sich in allen Geweben des menschlichen Körpers. Sein Gesamtgehalt an Selen beträgt etwa 10 bis 20 mg. Davon finden sich etwa 60 % in Nieren, Leber und Muskulatur sowie weitere etwa 30 % im Skelettsystem.[1]
- Aufnahme
Die Aufnahme von Selen über den Magen-Darm-Trakt ist nur abhängig von der chemischen Verbindung in der es zugeführt wird, nicht vom Versorgungszustand des Körpers. Die Aufnahmerate liegt zwischen 50 und 100%.[2] Als tägliche Zufuhr für Erwachsene werden von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung 30 bis 70 µg (Mikrogramm) empfohlen.[3] In den USA werden 55 µg für Frauen und 70 µg für Männer empfohlen[4] und bei Kindern liegt er altersabhängig zwischen und 10 und 60 µg täglich.[5] Bei den Empfehlungen handelt es sich um Schätzwerte, die aufgrund der der Aktivität eines Enzyms, das zwingend Selen benötigt (Glutathionperoxidase s.u.) erstellt wurden.[2] Gesichert ist das Auftreten von Mangelerscheinungen bei einer Aufnahme von unter 10 µg täglich auf, ein Selengehalt von über 2 µg pro Gramm Nahrung wirkt toxisch.[5][1][2]
Selenreiche Lebensmittel sind Meeresfrüchte[4], Fleisch, Innereien (Niere 1200 µg/100 g, Leber 800 µg/100 g), Fisch, Käse (60 µg/100 g), Milch (10 µg/1000 g), Eier (40 µg/100 g), Getreideprodukte (40 µg/100 g) und Hülsenfrüchte.[6] Der Selengehalt von Getreide hängt von der Konzentration im Boden ab.[4][7]
Regionen mit niedrigem Gehalt von Selen im Boden sind Teile von Skandinavien, China und Neuseeland.[4]
In Deutschland gilt die Versorgung als weitgehend gesichert[2], es gibt jedoch auch Hinweise, dass etwa 70 % der Bevölkerung zu wenig Selen aufnehmen (im Median 40 µg).[8] Die Aufnahme in den USA liegt bei 60 bis 200 µg täglich.[5]
- Speicherung
Selen wird als Selenomethionin im Körper gespeichert und daraus bei Bedarf mobilisert. Selenocystein hingegen ist die biologisch aktive Form. Ungebunden kommt Selen im Körper nicht vor.[2]
- Ausscheidung
Die Ausscheidung von Selen ist abhängig vom Selenstatus (vermehrt bei Überversorgung) des Körpers. Sie erfolgt in erster Linie über den Urin, aber auch über die Atmung. Dabei wird es als Dimethylselenid (C2H6Se) abgeatmet, wobei ein knoblauchähnlichen Geruch entsteht.[1][2]
Physiologie

Die Aufnahme von Selen aus der Nahrung ist abhängig von der chemischen Verbindung, in der es vorliegt. Beispielsweise wird er aus Selenomethionin (C4H9NO2Se) zu 98 % und aus Selenit zu 84 % resorbiert. Im Blut wird es an Plasmaproteine gebunden transportiert. Auf diesem Weg gelangt es in alle Gewebe (einschließlich Haare und Knochen).[9][1]
- Antioxidative Enzyme
Selen ist zur Bildung der Glutathionperoxidasen (GPX 1-4) notwendig. Sie tragen zur Verminderung oxidativer Zell- und Gewebeschäden bei.[1]
Die klassische GPX 1 ist insbesondere für den Stoffwechsel der Erythrozyten bedeutsam. Sie reduziert Wasserstoffperoxid (H2O2) zu Wasser (H2O). Dabei oxidiert sie Glutathion. Bei dieser chemischen Reaktion handelt es sich um einen sogenannten "antioxidativen Schutzmechanismus", weil im Körpergewebe vorhandene Peroxide OH--Radikale freisetzen, die zu Schädigungen von Zellen und Gewebe führen.[5] Diese Reaktion spielt eine bedeutsame Rolle bei Zellalterung, Schädigung der Leber (durch Alkohol und Tetrachlorkohlenwasserstoff) und ist notwendig, die Integrität der roten Blutköperchen aufrecht zu erhalten, indem sie deren Membranlipide vor Peroxidation schützt. Weitere Glutathionperoxidasen finden sich in gastro-intestinalen Zellen (GPX 2), dem Blutplasma (GPX 3) und an Membranoberflächen unterschiedlicher Zellen (GPX 4).[9][1]
Eine weitere Beteiligung von Selen an antioxidativen Mechanismen konnte bislang nicht nachgewiesen werden.[5]
- Dejodasen
Selen-abhängig ist die (Typ 1-)Thyroxin-5'-Dejodase. Sie kommt vornehmlich in Leber, Nieren und Muskulatur vor. Ihre Aufgabe ist die Dejodierung des Schilddrüsenhormons Thyroxin (T4) zu Trijodthyronin (T3). Analoge Dejodasen finden sich im "Zentralen Nervensystem" und fetalem Gewebe.[1][2]
- Proteine
Im Blut findet sich das Selenoprotein P, an das dort über 60% des Selens gebunden sind. In der Muskulatur findet sich Selenoprotein P, von dem angenommen wird, dass es (mit-)verantortlich für bei Selenmangel auftretende Muskelerkrankungen ist.[1]
Pathopysiologie
Es gibt Hinweise, dass bei Selenmangel Gehirn, endokrine Drüsen und Keimdrüsen bevorzugt versorgt werden. Zudem scheint der Körper in Phasen des Mangels Selen aus Glutathionperoxidase 1 (GPX 1) und Dejodase 1 (Thyroxin-5'-Dejodase) umzuverteilen.[1] Selenmangel begünstigt die Entstehung einer Nekrose der Leber.[9]
Krankheitsentstehung
Definierte Krankheitssymptome (z.B. Keshan-Krankheit) treten bei einer Aufnahme von unter 10 µg täglich auf. Typischerweise sind selenarme Lebensmittel oder extrem einseitge Ernährung ursächlich. Gefährdet sind beispielsweise daher nicht nur Personen, die in selenarmen Gegenden leben, sondern auch Veganer und Patienten, die einer künstlichen Ernährung bedürfen.[5][1][2]
Klinische Zeichen
Typische Symptome sind Veränderungen der Nägel, schuppige Haut, Blutarmut, gestörte Spermienbildung, Wachstums- und Knochenbildungstörungen, sowie Erkrankungen der Muskulatur (Myopathie). Durch letztere kann auch die Gehfähigkeit betroffener Patienten beeinträchtigt sein. Ergänzend kann auch die Herzmuskulatur betroffen sein (Kardiomyopathie). Ursächlich für die dabei auftretenden Herzrhythmusstörungen und die Herzschwäche ist, dass Teile der Herzmuskulatur absterben (Keshan-Krankheit). Bei Kindern und Jugendlichen kann es bei chronischen Selenmangel zudem zu Erkrankungen von Knochen und Gelenken (Osteoarthropathie), sowie Zwergenwuchs kommen (Kashin-Beck-Krankheit). Mitverantwortlich werden hier bei jedoch auch eine genetische Veranlagung oder eine Virusinfektion (Coxsackie-Virus) diskutiert.[1][2]
Untersuchungsmethoden
Geeignet, relevante Hinweise auf den Selengehalt des Körpers zu erfassen sind der Blutselenwert (Selengehalt im Blutplasma und auf den roten Blutfarbstoff der Erythrozyten bezogen) und als indirekter nachweis die Glutathionperoxidaseaktivität. Der Blutselenwert liegt in Deutschland bei etwa 60–80 µg/l, bei Werten unter 50 µg/l lassen sich Einschränkungen von Enzymfunktionen (Glutathionperoxidasen) nachweisen. Um diesen Mindestspiegel zu erhalten bedarf es einer Aufnahme von 0,67 µg pro Kilogramm Körpergewicht.[5][1][2]
Pathologie
Epidemiologische Studien fanden einen Zusammenhang von Selenmangel und vermehrtem Auftreten von Prostata-, Dickdarm-, Brust-, Eierstock- und Lungenkrebs. Bei Tieren, nicht jedoch beim Menschen konnte die Häufigkeit des Auftretens von Krebserkrankungen durch eine Selenanreicherung der Nahrung reduziert werden.[1]
Als mögliche Ursachen werden ein Minderung der antioxidativen Wirkung der Glutathionperoxidasen, eine mangelhafte Verarbeitung von Prokarzinogenen und eine Verändeung der DNS-Reperaturmechanismen diskutiert.[1]
Von Selenmangel betroffene Organe
Schilddrüse
Dejodasen sind Selen-abhängige Enzyme. Daher trägt ein Selenmangel zu einer verminderten Umwandlung des Schilddrüsenhormons Thyroxin (T4) in das zehnfach stärker wirksame Triiodthyronin (T3) bei.[8][5][1]
Das gemeinsame Auftreten eines Selenmangels mit Jodmangel kann die Ausprägung des Kretinismus verstärken.[4]
Herz
Die klassische, durch Selenmangel ausgelöste Erkrankung des Herzens wird als Keshan-Krankheit bezeichnet. Sie äußert sich typischerweise durch eine Herzschwäche (ausgelöst durch eine Kardiomyopathie). Sie wurde vor allem bei Kindern und jungen Frauen beobachtet, die in Gegenden Chinas leben, in denen die Aufnahme von Selen aus der Nahrung besonders niedrig ist (kleiner als 20 µg pro Tag). Der Name leitet sich von der selenarmen chinesischen Provinz Keshan ab.[4][2]
Niedrige Selenwerte im Blut stehen mit einer erhöhten Häufigkeit der Koronaren Herzkrankheit in statistischer Beziehung; die Daten dazu sind nicht einheitlich.[4]
Vorbeugung
Das Ziel vorbeugender Maßnahmen ist es, die tägliche Aufnahme von ausreichend Selen aus der Nahrung zu gewährleisten. In Selenmangelgebieten ist dazu auch die Anreicherung von Düngemitteln geeignet. So wurde bespielsweise in Finnland, dessen Böden und Trinkwasser nur wenig Selen enthalten, dem Kunstdünger Natriumselenat beigemischt, wodurch einen verbesserte Versorgung der Bevölkerung mit diesem essentiellen Spurenelement erreicht werden konnte.[5] Der Gehalt an Selen in der Milch ist direkt abhängig von seinem Anteil im verwendeten Tierfutter. Diesen Zusammenhang nutzte man ebenfalls in Finnland und auch in Schweden, um die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern.[7]
Substitution von Selen
Die bislang einzig gesicherte Indikation für die Anwendung von selenhaltigen Präparaten sind ein nachweislicher Selenmangel und die Hauterkrankung "seborrhoische Dermatitis" zur lokalen Anwendung.[1]
Die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln, die Selen enthalten, verringert das Auftreten von Prostatakrebs, Lungenkrebs und Darmkrebs sowie der Keshan-Krankheit. Die Aufnahme hat keinen Einfluss auf die Inzidenz von Hautkrebs.[10] Präkanzerosen im Oropharynx sprechen auf Selen an.[11]
Es konnte gezeigt werden, dass bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis, einer Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, eine tägliche Zufuhr von 200 µg Selen zu einem deutlichen Absinken der Thyreoperoxidase-Antikörper (TPO-Ak) führt. Für Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis werden daher höhere tägliche Selenaufnahmen empfohlen (Kinder 50 µg, Jugendliche 150 µg, Erwachsene 200 µg).[8]
Geschichtliche Aspekte
1957 wurde die Bedeutung von Selen als essentielles Spurenelement entdeckt.[7]
Quellen
Einzelnachweise
- ↑ a b c d e f g h i j k l m n o p Biesalski H.-K., e.a.: Ernährungsmedizin: Nach dem Curriculum Ernährungsmedizin der Bundesärztekammer, Georg Thieme Verlag, 2004, S. 171ff, 207, 330, ISBN 313100293X, hier online
- ↑ a b c d e f g h i j k Leitzmann C., e.a.: Ernährung in Prävention und Therapie, Thieme Verlag, 2003, S. 75ff., ISBN 383045273X, hier online
- ↑ Reference Values for Nutrient Intake. German Nutrition Society (DGE) Design and development: Working group ‘Reference values for nutrient intake‘. Frankfurt/Main: Umschau/Braus, 2000 (PDF, 1,3 MB) ISBN 3-8295-7114-3 S. 182
- ↑ a b c d e f g Robert M. Russell (für die deutsche Ausgabe: Hans-Joachim F. Zunft). Vitamine und Spurenelemente – Mangel und Überschuss. In: Manfred Dietel, Joachim Dudenhausen, Norbert Suttorp (Hrsg.) Harrisons Innere Medizin. Berlin 2003 ISBN 3-936072-10-8
- ↑ a b c d e f g h i Kasper H.: Ernährungsmedizin und Diätetik, Urban&FischerVerlag, 2004, S.67ff., ISBN 3437420119, hier online
- ↑ Cornelia A. Schlieper. Selen. In: Schlieper. Grundfragen der Ernährung. Verlag Dr. Felix Büchner 2000 ISBN 3-582-04475-0
- ↑ a b c Töpel A.: Chemie und Physik der Milch, Behr's Verlag DE, 2004, S.341-3, ISBN 3899471318, hier online
- ↑ a b c Lothar-Andreas Hotze, Petra-Maria Schumm-Draeger. Schilddrüsenkrankheiten. Diagnose und Therapie. Berlin 2003 ISBN 3-88040-002-4
- ↑ a b c Löffler G., e.a.: Physiologische Chemie, Springer Verlag, S. 551-564 und 719, ISBN 354009332-X
- ↑ Adriane Fugh-Berman (für die deutsche Ausgabe: Dietrich Grönemeyer und Yvonne Kalliope Maratos). Alternative Medizin/Alternative Medizinische Heilverfahren. In: Manfred Dietel, Joachim Dudenhausen, Norbert Suttorp (Hrsg.) Harrisons Innere Medizin. Berlin 2003 ISBN 3-936072-10-8
- ↑ Otis W. Brawley, Barnett S. Kramer (für die deutsche Ausgabe: Steffen Hauptmann). Prävention und Früherkennung von Krebserkrankungen. In: Manfred Dietel, Joachim Dudenhausen, Norbert Suttorp (Hrsg.) Harrisons Innere Medizin. Berlin 2003 ISBN 3-936072-10-8