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Venezianische Mehrchörigkeit

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Mehrchörige Kirchenmusik
Mehrchörige Aufführung im Salzburger Dom (17. Jahrhundert)

Der Begriff Venezianische Mehrchörigkeit bezeichnet eine Musikpraxis, die Mitte des 16. Jahrhunderts in der späten Renaissance in Italien aufkam. Venedig war zu dieser Zeit ein führendes Innovationszentrum auf dem Gebiet der Musik (vgl. Venezianische Schule).


Ursprünge des mehrchörigen Musizierens

Die Annahme liegt nahe, dass die Praxis des mehrchörigen Singens auf die von zwei sich wechselchörig antwortenden Chorgruppen vorgetragenen Psalmen zurückgeht. Spätestens seit Beginn des 15. Jahrhunderts ist auch die Praxis überliefert, die ungeradzahligen Verse z.B. von Hymnen in ihrer traditionellen gregorianischen Gestalt, die geradzahligen dagegen im mehrstimmigen Satz vorgetragen. Um 1430 vollzieht sich auch der endgültige Übergang zur Mehrstimmigkeit beider Chöre (Ms. Modena Estense). Der respondierende Choralgesang findet seine instrumentale Parallele im alternierenden Spiel auf zwei Orgeln, dem bei den Sängern im Chorraum stehenden Positiv und der großen Orgel auf dem Westchor von Dom- und Stiftskirchen.

Nach Gioseffo Zarlino ist der Zweck der Mehrchörigkeit in technischem Sinne,

„in großen Kirchen, in denen die Vierstimmigkeit, auch wenn viele Sänger für jede Stimme vorhanden sind, dafür nicht mehr ausreicht, einen großen Klang zu erzielen, aber in diesem Klang auch Abwechslung zu schaffen“

Gioseffo Zarlino: Le Istituzioni harmoniche (Venedig 1558)

Begründungen im philosophischen Weltbild

Neben diesen musikalischen Beweggründen durchdringt das Bewusstwerden der räumlichen Dimension und auch das der Weitung dieses Raumes, der sichtbaren wie der geistigen Welt zu Beginn des 16. Jh. alle Gebiete des Lebens wie auch der Kunst (Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus 1492, Entdeckungsfahrten Vasco da Gamas, das heliozentrische Weltbild des Nikolaus Kopernikus (De revolutionibus orbium cœlestium, 1543) dessen Konsequenz im Dialog Giordano Brunos Dell’infinito, universo e mondi (1584), wenig später dann Perspektive in der Malerei etc.

Dieser Weitung des Raumes entspricht die raumumspannende Dynamik der mehrchörigen Musik als Parallelerscheinung einer allgemeinen Geistestendenz. Mit den Proportionen und Funktionen des architektonischen Raumes verbinden sich die den Raum umspannenden Klänge verteilt aufgestellter Chöre; die Musik erhält im Bewusstsein der Menschen dieser Zeit durch die ausdrückliche Betonung ihrer Räumlichkeit eine nahezu kosmische Dimension als Teil des wohlproportionierten Universums; die antike Sphärenharmonie und damit die Manifestierung der Herrlichkeit Gottes im klingenden Kosmos wird zur metaphysischen Wurzel der Mehrchörigkeit, der Zuhörer wird von diesem Wechselspiel im Raum verteilter Klangkörper quasi umfangen.

Äußere Bedingungen der Mehrchörigkeit in der Republik Venedig

Als äußerer Anlass einer solch strahlenden Musik führen die gesteigerten Repräsentationsbedürfnisse der katholischen Kirche (die demonstrative Tendenz der Gegenreformation) und das zunehmend feierlichere Zeremoniell des kirchlichen und öffentlichen Lebens im Allgemeinen, aber im Staat Venedig im Besonderen (Doge Grimani) zur immer prächtigeren Zurschaustellung der Macht und des Reichtums der Dogenrepublik; die Entwicklung drängt allenthalben ins Großräumige und man erprobt neue Wege, die geweiteten Räume mit einem der prunkvollen Repräsentation gemäßen Klang zu erfüllen.

Faktur der mehrchörigen Werke

In der Folge entstanden Werke, die den Raum, in dem musiziert wurde, einbezogen, indem sie auf zwei oder mehr Teil-Ensembles (so genannte „Chöre“) verteilt waren, die an verschiedenen Stellen des Raumes standen und teils abwechselnd aufeinander antworteten, teils sich in Tutti-Passagen vereinigten und so den ganzen Raum mit Klangpracht erfüllten. Fra Ruffino d'Assisi, Domkapellmeister in Padua, schrieb um 1510-20 erstmals achtstimmig Psalmen a coro spezzato, d. h. für einen geteilten Chor bzw. für zwei vierstimmige Chöre. Bei ihm gibt es bereits über den Wechsel je Psalmvers hinaus den Wechsel je Wort oder Sinneinheit im Vers selbst und damit die eigentliche Coro-spezzato-Technik. Adrian Willaert baute diese Technik besonders in seinen achtstimmigen Salmi spezzati von 1550 weiter aus.

Als besonders günstig erweist sich die Besetzung mehrerer Chöre in gleicher, meist 4- bis 7-stg. gemischter Besetzung oder aber, zur Erzielung vielfältiger Kontrastwirkungen die Besetzung mehrerer Chöre in verschiedener Tonlage.

Seit Giovanni Gabrieli wird auch immer öfter eine Differenzierung der Klangfarben explizit vorgeschrieben, etwa indem ein Chor mit Streichern und ein anderer mit Bläsern besetzt wurde.

Lodovico Grossi da Viadana, der hierin auf venezanische Traditionen zurückgreift, die größtenteils von Andrea Gabrieli erprobt wurden, entwirft in der Vorrede zu seinen Salmi a 4 cori per cantare e concertare (Venedig 1612) eine mustergültige Besetzung eines vierchörigen Chorwerkes wie folgt:


1. Concertatchor: die besten Sänger (1- bis 5-stg.), Soli ohne Instrumente (bzw. mit Streichern), der Generalbaß wird von der Hauptorgel und evtl. einer zusätzlichen Chitarrone ausgeführt;

2. Hauptchor (Capella): starke Besetzung (4-stg., nicht weniger als 16, besser jedoch 20-30 Sänger) mit Instrumenten (Str., Pos. etc.) und Cembalo für den Gb.

3. Hochchor (Coro acuto): 4-stg., beliebige, kleinere Besetzung, mit Violinen, Violas, Krummhörnern & Zinken, die Oberstimme wird wegen ihres Ambitus nicht gesungen, sondern instrumental ausgeführt, die tiefste Stimme ist der Tenor, den die 2. Orgel mitspielt

4. Tiefchor (Coro grave): 4-stg., kleinere Besetzung zu „gleichen Stimmen“ von tiefen Altisten bis zu Subbässen (bassi profondi), dazu Posaunen, Streicher, Fagotte, der Baß wird von der 3. Orgel mitgespielt


Bei Adrian Willaert vereinigt der 1. Chor noch oft die Gerüststimmen des ganzen Satzes, während der 2. Chor zur zusätzlichen Ausfüllung des so erschlossenen Tonraumes herangezogen wird. Aus der späteren Aufteilung der Stimmen auf die verschiedenen Chöre und die immer größere Chordisposition ergibt sich natürlich auch eine Erweiterung des Tonbereiches, des Klangvolumens und der Klangfarben. (Die Chöre 2-4 können außerdem nach Belieben zusätzlich verdoppelt werden.)

Eine Variante dieser Besetzungsmuster beschreibt auch Heinrich Schütz in den Hinweisen zur Aufführung seiner großen Chorwerke, er bemerkt darin aber auch, dass - insbesondere, was die Mitwirkung der Instrumente bei Chorstimmen anbelangt - vieles auch abweichend besetzt werden könne, wobei ein jeder verständige Kapellmeister die Möglichkeiten kennen würde.

Für den mehrchörigen Stil bedeutsame Komponisten und Theoretiker

Die für den mehrchörigen Stil wichtigen und richtungsweisenden Komponisten bzw. Theoretiker, die meisten von ihnen mit direkter Bindung an Venedig und den Markusdom, sind, mit ihren jeweils bedeutendsten Werken oder theoretischen Schriften

Fra Ruffino (d’Assisi), 1510-1520 Magister cantus an der Kathedrale von Padua, 8-stg. Salmi a coro spezzato

Adrian Willaert (~1480-1562), ab 1527 Kapellmeister an S. Marco in Venedig, Begründer der Venezianischen Schule, 8-stg. Salmi Spezzati, Venedig 1550, Musica nova, Venedig 1559

Andrea Gabrieli (1510-1586), seit 1536 Sänger im Chor von S. Marco & Schüler von Willaert, 1566 als Nachfolger Claudio Merulos als 2. Organist ebda., Lehrer seines Neffen Giovanni Gabrieli und Hans Leo Hasslers, Bußpsalmen, Venedig 1587

Nicola Vicentino (1511-1572), Schüler Willaerts, Hofkapellmeister zu Ferrara, L’antica mus. ridotta a. moderna prattica, Rom 1555

Cyprian de Rore (1516-1565), 1563 Nachfolger Willaerts als Kapellmeister an S. Marco

R. M. Gioseffo Zarlino (1517-1590), Schüler Willaerts, 1563-90 Nachfolger de Rores an S. Marco, bedeutendster Theoretiker seiner Zeit, Istituzioni harmoniche, Venedig 1558

Thomas Tallis (†1585), Spem in alium zu 40 Stimmen in 9 Chören

Baldassare Donato (†1603), 1590-1603 als Nachfolger Zarlinos Kapellmeister an S. Marco, 12-stg. Psalmen Venedig 1584

Giovanni Croce (1557-1609), 1603-09 als Nachfolger Donatos Kapellmeister an S. Marco, 16-stg. Messe

C. Martinengo, 1609-13 als Nachfolger Croces Kapellmeister an S. Marco

Giovanni Pierluigi da Palestrina (~1525-1594)

Annibale Padovano (~1527-1575), Organist an S. Marco in Venedig, angeblich Erfinder des gemeinsamen Konzertierens auf zwei Orgeln, ab 1552 Zusammenspiel mit G. Parabosco und Claudio Merulo bezeugt

Girolamo Diruta, Schüler Merulos, Organist an S. Marco

Vincenzo Bell’Haver (~1530-1587), 1586-87 Organist an S. Marco in Venedig

Orlando di Lasso (1532-1594), Magnum opus musicum 1604

Claudio Merulo (1530-1604), 1557-66 Organist an S. Marco, danach in Parma als Hoforganist, 8- bis 16-stg. Motetten 1596

Alessandro Striggio (~1535-1587), 40-stg. Motette zu 9 Chören Venedig 1586

Gioseffo Guami (~1540-1611), ab 1588 Organist an S. Marco in Venedig, 10-stg. Sacrae cantiones Venedig 1585

Giulio Caccini (~1545-1618), mit Vincenzo Galilei und Jacopo Peri einer der Gründer der "Florentiner Camerata", Nuove musiche Florenz 1601

Marc’Antonio Ingegneri (1547-1592), Domkapellmeister in Cremona, dort Lehrer Claudio Monteverdis, 7- bis 12-stg. Sacrae cantiones Venedig 1589

Tomás Luis da Victoria (~1548-1611), Schüler und Amtsnachfolger PALESTRINAs in Rom, ab 1587 in Madrid

Orazio Vecchi (1550-1605), 8- bis 10-stg. Messen 1590-99

Giovanni Gabrieli (1557-1613), Neffe und Schüler von Andrea Gabrieli, Ab 1585 Organist an S. Marco in Venedig Sacrae symphoniae I 1597, II posth. 1615

Luca Marenzio (~1560-1599) 12-stg. Motetten Venedig 1614

Giovanni Battista Grillo (†1622), ab 1619 Organist an S. Marco in Venedig, 12-stg. Sacri concentus… Venedig 1618

Ludovico Grosso da Viadana (1564-1627), 100 concerti ecclesiastici, Venedig 1602, Salmi a 4 cori, ebda. 1612

Giovanni Priuli (†1629), 1507 zur Unterstützung Giovanni GABRIELIs an S. Marco angestellt

Alessandro Grandi (†1630), ab 1597 Kapellmeister in Ferrara ab 1618 maestro del canto an S. Marco in Venedig, später Vizekapellmeister Cantiones sacrae Antwerpen 1639

Bonaventuro Rubino, Vespro dello Stellario, Palermo 1612

Adriano Banchieri (1567-1634), 14 Concerti Ecclesiastici, Venedig 1595

Claudio Monteverdi (1567-1643), ab 1613 Kapellmeister von S. Marco in Venedig & der höchstangesehene Musiker seiner Zeit, Vespro della beata vergine , Mantua 1610

Gregorio Allegri (1582-1652), 9-stg. Miserere

Heinrich Schütz (1585-1672), 1609 Orgel- & Kompositionsstudium bei Giovanni Gabrieli in Venedig 1628-29 2. Italienreise (Monteverdi, Venedig) Symph. sacrae I 1629 II 1647 III 1650

Giovanni Rovetta, Schüler Monteverdis, von 1644-1668 dessen Nachfolger als Kapellmeister an S. Marco

Francesco Cavalli (1602-1676), seit 1640 2. Organist an S. Marco, dann Nachfolger Rovettas

Orazio Benevoli (1602-1672)

Einfluß auf spätere Komponisten

Die venezianische Mehrchörigkeit markiert damit den endgültigen Übergang von der Renaissance zum Barock. Das mehrchörige Komponieren und Musizieren verbreitete sich insbesondere durch das eindrucksvolle Beispiel Gabrielis, dem weithin nachgeeifert wurde, rasch über große Teile Europas. Der bedeutendste deutsche Komponist, der die Mehrchörigkeit adaptierte, war dessen Schüler Heinrich Schütz, den man auch als den Vater der deutschen Kirchenmusik bezeichnet. Ein herausragendes Beispiel für Mehrchörigkeit im deutschsprachigen Raum ist außerdem die großangelegte, 53-stimmige Missa Salisburgensis (wohl 1682, Heinrich Ignaz Franz Biber zugeschrieben). In der Mitte des 17. Jahrhunderts verlor sich die Vorliebe für Mehrchörigkeit dann zugunsten einer mehr orchestralen Schreibweise, die überwiegend von Frankreich ausging. Ein Rest der Mehrchörigkeit lebte im Concerto grosso fort, von dem dann wieder Impulse für das barocke Solokonzert ausgingen. Bei Georg Friedrich Händel findet man auch die Bezeichnungen einzelner, klar doppelchörig konzipierter Konzerte als "Concerto a due cori".

Noch Johann Sebastian Bach schrieb doppelchörige Motetten, auch seine Matthäuspassion hat eine doppelchörige Anlage. In Salzburg, wo die venezianische Mehrchörigkeit Tradition hatte, schrieb W. A. Mozart z. B. "Venite, Populi" KV 260 (KV 248 a).

Aus der Beschäftigung mit historischen Vorbildern heraus schufen romantische Komponisten hin und wieder doppel- oder mehrchörige Werke, besonders häufig Felix Mendelssohn Bartholdy, aber auch z. B. Johannes Brahms (Fest- & Gedenksprüche), Joseph Gabriel Rheinberger (Cantus missae), und Max Reger.

Siehe auch