Kohärenz (Psychologie)
Von lat. cohaerere = zusammenhängen abgeleiteter Begriff. In der Klinischen Psychologie und Psychiatrie ist Kohärenz ein wesentlicher Gesichtspunkt, unter dem die formalen Denkabläufe von Patienten beurteilt werden (siehe Denkstörung). Kohärenz bedeutet hier, dass der Gedankengang abgesehen von den inhaltlich formulierten Gegenständen und Tatsachen in sich logisch, zusammenhängend und nachvollziehbar ist.
Vielgestaltigkeit psychopathologischer Beschreibung
In der negativen / gestörten Ausbildung dieses Merkmals als einem Krankheitssymptom spricht man von Inkohärenz bzw. Zerfahrenheit des Gedankengangs. Nicht zusammengehörige Denkinhalte werden aneinandergereiht und vermischt. Der Redestil des Patienten ist sprunghaft bis hin zur völligen Unverständlichkeit. Bei schweren Formen ist selbst der Satzbau gestört, es kommt zu Wort- oder Silbensalat. Die gedanklichen Leistungen ideenflüchtiger Patienten halten einer kritischen Überprüfung z.Tl. nicht mehr stand. Der Sinnzusammenhang ist häufig nicht mehr gewährleistet. Der Patient erscheint u.U. von außen ablenkbar. Die Gedanken verfolgen entweder ein stets wechselndes Ziel oder die Änderung ihrer Zielrichtung erscheint erschwert, verlangsamt und mühsam (Monideismus). Es kann auch vorkommen, dass der Gedankengang von Assoziationen oder Klängen und Reimen bestimmt ist. Das Urteilsvermögen ist oft oberflächlich. Die Patienten wirken in ihrem Gedankengang bisweilen gehemmt oder enthemmt. Dieser erscheint verlangsamt, verarmt, grüblerisch eingeengt, weitschweifig oder umständlich. Umständlichkeit entsteht oft aus einem Gefühl der Unsicherheit.
Orthologie
Die Kohärenz des Denkens kann im Rahmen physiologischer Abläufe gestört und gelockert sein kann, so im Stadium der Ermüdung und des Halbschlafs.[1] Im Schlaf ist Kritik und Zensur des Denkens weitgehend aufgehoben, wie Sigmund Freud (1856-1939) in seiner Analyse der Traumarbeit herausgestellt hat.[2]
Pathologie
Die oben genannten Symptome werden in unterschiedlicher Ausprägung in fast allen Formenkreisen psychiatrischer Erkrankungen beobachtet. So z.B. bei der Schizophrenie (und einigen Unterformen davon), bei der Manie, bei Psychosen, bei der wahnhaften Störung oder auch bei manchen Formen (und Unterformen) der Depression sowie bei manchen Neurosen. Auch manche Menschen mit geistiger Behinderung haben Schwierigkeiten mit kohärentem Denken, also logischem, zusammenhängendem Denken.
Zur Rezeption und Kritik des Begriffs
Da es sich um einen zentralen Begriff bei der Beschreibung formaler Denkstörungen handelt, ist ein strenger Maßstab an definitorische Exaktheit zu legen. Ein solch einheitlicher strenger Maßstab fehlt jedoch. Inkohärenz und Zerfahrenheit etwa werden im Alltag der psychiatrischen Praxis keineswegs immer gleichbedeutend gebraucht.[3]
Klassische (deutsche) Psychiatrie
Für die definitorische Schwierigkeit wird im Lehrbuch von Bleuler auf die Komplexität psychischer Krankheit hingeweisen und die Frage gestellt, ob ein gesunder Mensch überhaupt von einer Denkstörung betroffen sein könne. Hieraus wären allerdings im negativen Falle erhebliche Probleme des Verständnisses krankhafter Denkstörungen abzuleiten.
Während der Begriff Inkohärenz vielfach in einem allgemeinen Sinne bei psychisch bedingten Denkstörungen verwendet zu werden scheint, wird Zerfahrenheit und sprunghaftes Denken häufig nahezu automatisch und ausschließlich mit Schizophrenie als Terminus technicus in Verbindung gebracht, läppisches Denken mit Hebephrenie, Ideenflucht und beschleunigtes Denken mit manischen Zuständen, gehemmtes Denken mit Depression usw. Dabei wird die Schwierigkeit einer allgemeingültigen Begriffsdefinition deutlich.[4]
Andererseits wird der Begriff Inkohärenz von vielen Autoren auf den Zusammenhang exogener Psychosen beschränkt. Wenn man auch versuchen kann, bei der Kohärenz des Denkens dynamische, logische, assoziative, und affektive Momente als definitorische Kriterien zu unterscheiden, so erscheint eine phänomenologisch klare, d.h. psychopathologisch hinreichende Definition im Sinne der Beschreibung einzelner Krankheitszustände eher problematisch.[5]
Gestalttheorie
Seitens der Gestalttheorie wurden von Georg Elias Müller (1850-1934) sog. Kohärenzfaktoren aufgestellt. Diese Faktoren sind: räumliche Nähe, Gleichheit, Ähnlichkeit, Symmetrie und Kontur (Differenzierung von Figur und Hintergrund). Von verschiedenen Teilen des Stimulusareals (Sensorischen Projektionszentrums) werden diese Faktoren als zusammengehörig angesehen und bilden so eine Einheit.[6]
Psychoanalyse
Seitens der Psychoanalyse wird es als relativ gesichert angesehen, dass bei Psychosen die Inkohärenz (und damit die Gefahr einer Desintegration und Fragmentierung des Selbsts) im Vordergrund steht.[7] Bereits Karl Jaspers (1883-1969), der als einer der Begründer der Psychopathologie und damit der klassischen Psychiatrie gilt und der Psychoanalyse reserviert gegenübersteht, hat die Einheit und Identität des Ichs als wesentliche Merkmale des Ichbewusstseins gehalten. Ein die Einheit und Kohärenz dieses Bewusstseins beeinflussendes Moment ist die sog. Verdoppelung der Persönlichkeit. Hierbei entstehen nach Jaspers zwei Reihen seelischer Vorgänge gleichzeitig nebeneinander und damit auch zwei Seiten von „Gefühlszusammenhänge(n), die nicht mit denen der anderen Seite zusammenfließen, vielmehr sich gegenseitig fremd gegenüber stehen“.[8]
Sozialpsychologie
Das Kohärenzgefühl ist ein zentraler Aspekt in der Salutogenese von Aaron Antonovsky (1923-1994).[9] Nach Antonowsky ist Kohärenz:
* Die Fähigkeit, dass man die Zusammenhänge des Lebens versteht. * Die Überzeugung, dass man das eigene Leben gestalten kann. * Der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat.
Aus soziologischer Sicht ist in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung von Kohäsion und insbesondere auch auf den Begriff der Gruppenkohäsion zu verweisen. Der Zusammenhalt der Gesellschaft - wie auch der Familie - ist ein wesentlicher Faktor, der zur Vermeidung von Angst als einem grundlegenden Faktor für die Entstehung psychischer Krankheiten führt.[10]
Einzelnachweise
- ↑ Dörner, Klaus und Ursula Plog: Irren ist menschlich oder Lehrbuch der Psychiatrie / Psychotherapie. Psychiatrie-Verlag, Rehburg-Loccum, 7. Auflage 1983, ISBN 3-88414-001-9, Seite 238
- ↑ Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. [1900] Gesammelte Werke, Band II/III, S. Fischer Verlag, Frankfurt / M, Stellenhinweise: Taschenbuchausgabe der Fischer-Bücherei, Aug. 1966, VI. Die Traumarbeit, Seite 235 ff.; VII. Zur Psychologie der Traumvorgänge, A. Das Vergessen der Träume, Seite 432 f.; C. Zur Wunscherfüllung, Seite 459
- ↑ Degkwitz, Rudolf et al. (Hrsg.): Psychisch krank; Einführung in die Psychiatrie für das klinische Studium. Urban & Schwarzenberg, München 1982, ISBN 3-541-09911-9, Teil III. Betrachtungsweisen, nosologische Konzepte und Erklärungsmodelle psychischer Krankheiten; Kap 9.7 Denkstörungen, Seite 182
- ↑ Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie. Springer Verlag, Berlin 15. Auflage 1983, bearbeitet von Manfred Bleuler unter Mitarbeit von J. Angst et al., Allgemeiner Teil, Kap. B. Beschreibung der psychopathologischen Erscheinungen, Seite 44 ff.
- ↑ Peters, Uwe Henrik: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. Urban & Schwarzenberg, München 3. Auflage 1984, Seite 273
- ↑ Arnold, Wilhelm et al. (Hrsg.): Lexikon der Psychologie. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-508-8, Spalte 1087
- ↑ Mentzos, Stavros: Neurotische Konfliktverarbeitung, Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuerer Perspektiven. © 1982 Kindler Verlag, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1992, ISBN 3-596-42239-6, Seiten 36, 124 u. 146
- ↑ Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie. Springer, 9. Auflage, Berlin 1973, ISBN 3-540-03340-8, 1. Teil: Die Einzeltatbestände des Seelenlebens, 1. Kap.: Die subjektiven Erscheinungen des kranken Seelenlebens (Phänomenologie), § 7 Ichbewußtsein, Seite 104 f.
- ↑ Antonovsky, Aaron und Alexa Franke: Salutogenese, zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dgvt-Verlag, Tübingen 1997, ISBN 3-87159-136-X.
- ↑ Claussen, Detlev: Gesprächsbeiträge zum Thema Angst. Von Gerd Scobel moderierte TV-Sendung Delta vom 11.09.2005 des Senders 3sat