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Biologismus

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Mit dem Begriff Biologismus (gr. βíος bíosLeben“ und logos/ismus) werden philosophische und weltanschauliche Konzepte bezeichnet, welche die Wirklichkeit, insbesondere menschliche Verhaltensweisen oder gesellschaftliche Zusammenhänge, vordringlich durch biologische Gesetzmäßigkeiten zu erklären versuchen. Gelegentlich wird als Folge hiervon auch eine entsprechende Ausgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse angestrebt.

Biologisierende Begriffe und Theorien haben ihren Ursprung vorwiegend in sozialphilosophischen Analogien, nach denen die Gesellschaft einen Organismus bildet, der dem menschlichen Körper ähnelt.[1] Biologismus kann als eine Ausprägung des Szientismus oder naturwissenschaftlichen Reduktionismus verstanden werden, nach der sich soziale und psychologische Phänomene am Besten auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Erklärungen beschreiben lassen.

Begriffsgeschichtliche Einordnung

Der Begriff ist mit einem stark negativen Beiklang behaftet. Er wird insbesondere verwendet, um bestimmte Modelle des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts zu kennzeichnen. Geistesgeschichtlich betrachtet richtet sich der Biologismus im wesentlichen gegen Mechanismus und Vitalismus. In ihrem allumfassenden Erklärungsanspruch werfen Biologismen große erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Probleme auf.

Da der Mensch Teil der belebten Natur ist, sind Erklärungen menschlicher Wesenszüge auch Forschungsgegenstand der Biologie, deren Erkenntnisse folglich auch als Beitrag zum fächerübergreifenden Forschungsfeld der Humanwissenschaften verstanden werden können. Mit dem Begriff „Biologismus“ wird versucht dem Alleinerklärungsanspruch der Biologie enge, wissenschaftsphilosophisch begründete Grenzen zu setzen. Zugleich werden mit ihm die schwerwiegenden weltanschaulichen, politischen und gesellschaftlichen Folgen betont, die aus einer unzureichend reflektierten, einseitig biologischen Betrachtungsweise erwachsen können.

Der Biologismus stellt auf politischer Ebene eine Gefahr dar, wenn beispielsweise unter Verweis auf ein vermeintlich allgemeingültiges Naturgesetz soziale Unterschiede unveränderlich festgeschrieben werden. Solchen Ansätzen wird dabei die problematische Erkenntnissituation des naturwissenschaftlichen Beobachters gegenübergestellt:

  • So gehen auch dessen fachwissenschaftliche Forschungen letztlich von einer – notwendigerweise unvollständigen, nur teilweisen – Beobachtung eines bestimmten gesellschaftlichen Zustandes in einem spezifischen (zeitlichen) Zusammenhang aus. Hierzu steht im Widerspruch, dass auf dieser Grundlage, allgemeine, abstrakte Gesetzmäßigkeiten hergeleitet werden sollen, die ein biologistisches Weltbild stützen.
  • Darüber hinaus sind auch die dazu eingesetzten Methoden und Fragestellungen, die das Ergebnis maßgeblich beeinflussen können, zeit- und kulturabhängig, obgleich für das Forschungsergebnis überzeitliche Gültigkeit beansprucht wird. Ein solches Vorgehen ist jedoch aus diesen und weiteren Gründen erkenntnistheorethisch problematisch und letztlich inakzeptabel.

Der Begriff dient somit vorrangig der Abgrenzung gegenüber Gedankengut, dessen biologisch dominierte Ausrichtung bemängelt wird. Eine Verwendung ohne (mehr oder weniger ausdrücklichen) abwertenden Beiklang tritt selten auf.

Gesellschaftliche Wirkungsweise

Viele politische Strömungen (u.a. der Faschismus) haben biologistische Erklärungsmodelle für ihre Zwecke instrumentalisiert, indem sie Biologismen zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung verwendeten. Diskriminierungen gehen häufig einher mit einer biologistischen Argumentationsweise, der drei Funktionen zukommen:

  • Unterscheidung: der Unterschied zwischen der diskriminierenden und der diskriminierten Gruppe wird durch vermeintlich biologisch gegebene, also angeborene Merkmale festgeschrieben.
  • Unveränderbarkeit: dieser Unterschied wird als unveränderbar behauptet, die Möglichkeit einer diesbezüglichen Veränderung durch sozialen Wandel wird verneint.
  • Rechtfertigung: ein tatsächlich gegebenes oder behauptetes Faktum der Natur wird zur Rechtfertigung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse benutzt.

Biologismus wird in diesem Zusammenhang als besondere Spielart der Ontologisierung und des Essentialismus gedeutet. Der Versuch, im Rahmen des Biologismus aus den Verhältnissen in der Natur („Sein“) Werte für die menschliche Gesellschaft abzuleiten („Sollen“), wird in der modernen Ethik überwiegend als naturalistischer Fehlschluss („naturalistic fallacy“) eingestuft.

Erscheinungsformen

Als Erscheinungsformen des Biologismus lassen sich unter anderem anführen:

  • der Malthusianismus mit seiner speziellen Deutung der Bevölkerungsentwicklung;
  • der Sozialdarwinismus, der das darwinsche Prinzip der natürlichen Auslese im „Kampf ums Dasein“ zum Bewegungs- und Entwicklungsgesetz auch des menschlichen Gesellschaftslebens erklärt, wobei die Bereitschaft zum Führen von Kriegen häufig als immanenter Wesenszug des Menschen gedeutet wird; hierunter fallen auch geopolitische Ansätze, die die Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern sozialdarwinistisch als „Kampf um Lebensraum“ (Karl Haushofer) interpretieren;

Biologismen finden sich häufig auch in sozialen Erklärungsmodellen. Beispiele finden sich

  • in der Geschlechterpolitik, wo Verweise auf tatsächliche oder vermeintliche biologische Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern sexistisch ausgelegt und instrumentalisiert werden können.[2]
  • im Rassismus, wobei zwischen „höher-“ und „niederwertigen“ Menschenrassen unterschieden wird. Der Vorgang, im dem Menschen aufgrund eines Merkmals (z.B. ihrer Hautfarbe) zu einer homogenen Gruppe zusammengefasst werden, wird auch mit Rassifizierung als eine Unterform des Biologismus bezeichnet. Dies geschieht u.a. mit den Folgen des Elitedenkens bis hin zur sozialdarwinistisch und rassistisch orientierten Eugenik, Euthanasie und des Genozids,
  • bei vielen Autoren der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung, so zum Beispiel bei Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt, die menschliches Verhalten immer wieder mit Hilfe von bloßen Analogien aus dem Tierreich zu erklären versucht haben.
  • bei einigen Vertretern der Kriminologie, wobei kriminelles Verhalten als Folge einer vererbbaren Anlage betrachtet bzw. einer ausschließlich biologischen Ursache zuordnet wird.
  • zur Erklärung des angeblich angeborenen, menschlichen Egoismus, sofern dieser durch eine unmittelbare Analogie aus dem Tierreich als unveränderlicher tierischer Antrieb hergeleitet wird, ohne gesellschaftliche Faktoren, insbesondere soziale Ungleichheit und Machtstruktur, sowie spezifische Charakteristika der beobachteten Gesellschaft und der eigenen Beobachterposition ihr gegenüber zu reflektieren.

Quellen

  1. Vgl. O[tthein] R[ammstedt], in: Fuchs-Heinritz: Lexikon zur Soziologie. VS-Verlag. Wiesbaden.1995, S. 108 "Biologismus", S. 625 "biologische Soziologie".
  2. Vgl. Christine Zunke in Der Biologismus - die neue 'alte' Geisteshaltung? Hanns-Seidel-Stiftung 2007.

Literatur

  • Jost Herbig, Rainer Hohlfeld (Hrsg.): Die zweite Schöpfung, Geist und Ungeist in der Biologie des 20. Jahrhunderts. Hanser, München und Wien 1990, ISBN 3-446-15293-8
  • Detlev Franz: Biologismus von oben. Das Menschenbild in Biologiebüchern. DISS, Duisburg 1993, ISBN 3-927388-38-6
  • Reinhard Mocek: Biologie und soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und der Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung. Lang, Frankfurt/Main 2002, ISBN 3-631-38830-6 (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften, Studien und Quellen, Band 51) (Rezension [1])
  • Steven Rose: Darwins gefährliche Erben. Biologie jenseits der egoistischen Gene. C. H. Beck, München 2000, ISBN 3-406-45907-2 (Rezension [2])
  • Manfred Velden: Biologismus - Folgen einer Illusion. V & R unipress, Göttingen 2005, ISBN 3-89971-200-5 (Rezension [3])
  • Immanuel Wallerstein, Imanuel Geiss, Gero Fischer, Maria Wölflingseder (Hrsg.): Biologismus, Rassismus, Nationalismus. Rechte Ideologien im Vormarsch. Promedia, Wien 1995, ISBN 390047897X