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Am Brunnen vor dem Tore

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Bildpostkarte von Hans Baluschek (1870-1935)

Am Brunnen vor dem Tore ist der erste Vers eines deutschen Lieds, das sowohl in Form eines Kunstlieds als auch in Form eines Volkslieds sehr bekannt geworden ist. Der Titel lautet Der Lindenbaum. Meist wird jedoch heute, wenn man von dem Lied spricht, der Anfangsvers als Titel benutzt. Der Text stammt von Wilhelm Müller, die Vertonung als Kunstlied von Franz Schubert, und die bekannteste als Volkslied intendierte und weithin rezipierte Bearbeitung der Schubertschen Vertonung von Friedrich Silcher.

Müllers Gedicht

Wilhelm Müller veröffentlichte das Gedicht zuerst als Der Lindenbaum in Urania – Taschenbuch auf das Jahr 1823, einem der beliebten Taschenbücher des frühen 19. Jahrhunderts, die auf mehreren hundert Seiten Gedichte, Erzählungen und Berichte enthielten. Das Werk bildete dort das fünfte Gedicht eines Zyklus, überschrieben Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise. In 12 Liedern. Unverändert erschien der Text in einer auf 24 Gedichte erweiterten Fassung der Winterreise im zweiten Bändchen der Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten (1824).

Der Text

Datei:Winterreis.Tafel-1.JPG
Tafel mit der ersten Strophe und zweieinhalb Takten Melodie

Am Brunnen vor dem Tore,
Da steht ein Lindenbaum:
Ich träumt’ in seinem Schatten
So manchen süßen Traum.

Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort;
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort.

Ich mußt’ auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht.

Und seine Zweige rauschten,
Als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir, Geselle,
Hier findst Du Deine Ruh!

Die kalten Winde bliesen
Mir grad in’s Angesicht;
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht.

Nun bin ich manche Stunde
entfernt von jenem Ort,
Und immer hör ich’s rauschen:
Du fändest Ruhe dort.

Metrisches und Formales

Das Gedicht folgt ohne Abweichungen einem festen, zu Müllers Zeit bereits wohlbekannten formalen Muster: vierzeilige Strophen, die im Wechsel zweisilbig und einsilbig ausklingen (Alternanz); in jeder Strophe reimen sich die Schlusssilben des zweiten und vierten Verses. Ein durchgängiges auftaktiges Metrum ist dem Text unterlegt: Jamben mit jeweils drei Hebungen.

Diese strenge und streng durchgehaltene Form wird häufig als Volksliedstrophe bezeichnet, obwohl etwa die Volkslieder aus „Des Knaben Wunderhorn“ meist durchaus andere Muster bevorzugen. Sie war aber bei den Romantikern als liedhafte, sangbare, Schlichtheit suggerierende Gedichtform sehr beliebt und bereits etabliert. Ein Beispiel ist das zehn Jahre ältere Gedicht Eichendorffs „Das zerbrochene Ringlein“, an dessen Beginn „In einem kühlen Grunde/Da geht ein Mühlenrad“ der Lindenbaum anklingt.

Fast alle Gedichte der Winterreise sind in ähnlicher Form metrisch und formal gebunden. Der „ruhige Fluss der Verse“, der dadurch entsteht, wird von den düsteren Themen und Stimmungen der Winterreise kaum berührt, wie Rolf Vollmann feststellt. Dieser Kontrast hat starke Wirkungen, Vollmann spricht gar von „Entsetzen“.[1]

Kontext: Die Winterreise

Der Lindenbaum ist eine Station in einer recht locker gefügten Handlung. Noch vor deren Beginn liegt eine gescheiterte Liebesbeziehung des Protagonisten, eines jungen Manns, der das Lyrische Ich des Texts [2] verkörpert. Das erste Lied des Zyklus, Gute Nacht, beschreibt die Ausgangssituation: Das "Ich" verlässt in einer Winternacht das Elternhaus der Geliebten und begibt sich auf eine einsame, ziellose Wanderung, deren Stationen die Gedichte des Zyklus wiedergeben. Zu diesen Stationen zählen vereiste Flüsse und verschneite Felsenhöhen, Dörfer und Friedhöfe – und eben auch der Lindenbaum.

Die Winterreise ist als „Monodrama“ beschrieben worden [3] oder auch als eine Folge von „Rollengedichten“,[4] freilich nur mit einer Rolle. Denn in allen Stationen spricht nur das "Lyrische Ich" mit sich selbst, aber auch mit der Natur oder seinem Herzen. Einige Motive wiederholen sich immer wieder: Liebe und Todessehnsucht, der Gegensatz der erstarrten Winterlandschaft und der fließenden Emotionen (vor allem in Gestalt der Tränen), Trotz und Resignation, vor allem aber das wie getriebene, zwanghafte Wandern.[5]

Formale und inhaltliche Textinterpretationen

Müllers Text als auch die beiden musikalischen Ausdeutungen des Textes haben viele Interpretationen und Deutungsmuster im rein auf Müller, Schubert, und Silcher bezogenenen literaturwissenschaftichen und musikwissenschaftlichem Bereich, aber auch im weiteren Bezug von Musiksoziologie, Geschichtswissenschaft, Germanistik und Psychologie hervorgerufen.

Müllers Zyklus lässt sich unter dem Aspekt der Verwendung sprachlicher Formen, als auch in Hinblick auf den intendierten Bedeutungsrahmen (individuelles oder allgemein menschliches, oder auch historisch-politische Bedeutung) unterschiedlich interpretieren. Diese verschiedenen Möglichkeiten beeinflussen auch die Deutung des Liedes vom Lindenbaum samt seiner Metaphern und formalen Merkmale.

Aufbau

Von der Zeitstruktur des Gedichts her ergeben sich deutlich drei Teile: Die ersten beiden Strophen sind teilweise zeitlos, teilweise beziehen sie sich auf eine weiter zurückliegende Vergangenheit. Erst mit der dritten Strophe nimmt das Ich Bezug auf die Handlung der Winterreise; es beginnt zu erzählen, nämlich von einem erst vor kurzem vergangenen Ereignis: Es ist („heute“) an dem Lindenbaum vorbeigekommen. Die sechste Strophe enthält einen Rückblick des Ich, der in der erzählten Gegenwart steht („nun“).[6]

Datei:Mueller-Schubert-Silcher-1.JPG
Wilhelm Müller, Franz Schubert, und Friedrich Silcher (von links nach rechts)

Das erste Verspaar bringt mit Brunnen, Tor und Lindenbaum klassische Bestandteile eines ‚lieblichen Orts‘ oder Locus amoenus. Ihm folgt eine Reihe durchaus konventioneller Bilder (süßer Traum, liebes Wort, Freud und Leid), die ans Klischee grenzen[7] und eine vergangene glückliche Zeit an diesem Ort evozieren. Es ist gerade dieser Teil des Liedes, der etwa in den Darstellungen auf Postkarten[8] so gern im Bild wiedergegeben wird. Im Verhältnis zu den anderen Naturbildern der Winterreise, die von Fels, Eis und Schnee bestimmt sind, wirkt das Ensemble Brunnen/Tor/Lindenbaum wie eine idyllische Insel.

Mit der dritten Strophe wechselt nicht nur die zeitliche Einordnung, sondern auch die Stimmung abrupt. Die statische Idylle wird durch die rastlose, erzwungene Bewegung des lyrischen Ich kontrastiert, die am Lindenbaum vorbeiführt. Obwohl ohnehin „tiefe Nacht“ herrscht, verweigert der Wanderer den Blickkontakt: „Er will oder kann nicht hinsehen“ (Wolfgang Hufschmidt). Doch die Magnetwirkung, die dem Lindenbaum bereits oben zugesprochen wurde („es zog ... zu ihm mich immer fort“), verwirklicht sich über einen anderen Sinn, das Gehör: Das Rauschen der blattlosen Zweige, das der Wanderer als Lockruf und Versprechen hört. Cornelia Wittkop weist auf die dunklen u-Vokale hin, die dieses Versprechen auf Erlösung vom Weiterwandern prägen (zu, Ruh) – und auf die hellen a- und i-Vokale, die die folgende Strophe deutlich davon absetzen (kalten, grad, Angesicht, Winde, bliesen). Diese fünfte Strophe läuft erstmals auf eine bewusste Handlung des lyrischen Ich zu: Es widersteht dem Lockruf des Baumes; dieser Entschluss erhält einen eigenen, den vierten Vers dieser Strophe, während sonst die Sinneinheiten regelmäßig zwei Verszeilen umfassen. Das Ich entscheidet sich für das schutzlose Weiterwandern (ohne Hut) und präsentiert der Kälte und Wucht des Windes sein Gesicht.

Mülller arbeitet in der Winterreise technisch mit auffälligen Wortgegensätzen (heiße Tränen - Schnee, Erstarren - Schmelzen, etc.), welche auch dem auf feine Nuancierungen verzichtenden Volkslied eigen sind. Dennoch sind seine Aussage meist nicht so einfach intendiert wie es volksliedhafter Ton und Bilder häufig vorgeben. Müller gelingt es nach Erika von Borries - eingebettet in alte und naive-vetraut wirkende Formen - Erfahrungen der Moderne zu vermitteln. [9] Der Kontrast zwischen ruhiger und „heimeligem Gang“ der Sprache und der beunruhigenden Aussage gibt dem Gedichtzyklus sowie der Lied vom Lindenbaum nach von Borries einen „schaurigen und befremdlichen“ Ausdruck. Die Leitmotive im Lindenbaum, Traum und Ruhe, tauchen mehrmals im Zyklus mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungen auf. Diese Mehrdeutigkeit steht dabei nach von Borries für die dichterische Darstellung einer unverläßlich gewordenen Welt. [10]

Individuelle Interpretationen: (Kommt noch.)

Politische Interpretationen:

Der Zyklus und der Begriff Winter (siehe Heines Wintermärchen) ist nach Achim Goeres auch als damals verständliche Metapher für eine Politik gegen die Restauration zu verstehen. Wie bei Heine stehe der politische „Winter“ dem „Mai(„Der Mai war mir gewogen“) als politisches Pendant gegenüber. [11]

Symbolik

In Müllers Gedicht besonders auffallende Begriffe welchen auch schon vorher im Volk und in der Literatur symbolische Bedeutung zugemessen wurden sind:

  • Der Brunnen,
  • Der Lindenbaum
  • Das „Wandern“
  • Der Hut

Diese Symbole behalten in Müllers Dichtung wie auch in Schuberts Vertonung meist ihre seit alters her immanent ambivalente Bedeutung.

Der Brunnen: ist ein seit alters her in der Literatur und im Märchen häufig verwandtes, mehrdeutiges Symbol. Er kann die Ambivalenz von Leben und tödlicher Gefärdung darstellen. [12]

Am Brunnen vor dem Tore - Österreichische Bildpostkarte von 1913.

Das deutsche Wort meint bis in die Neuzeit hinein sowohl die frei fließende Quelle und ihr Wasser, die eingefasste Quelle, und den gegrabenen Brunnen. Er hat einerseits lebensspendende Aspekte als Quelle, Wassers des ewigen Lebens, Symbol für Wachstum und Erneuerung (Jungbrunnen), und ist darüber hinaus ein sozialer Treffpunkt. Er ist auch Symbol für die Liebe, Brautwerbung, und Ehe. Daneben verkörpert er aber auch auf Grund seiner oft nicht erkennbaren Tiefe den Zugang zu verborgenen, schöpferischen aber auch destruktiven, Schichten der Seele. [13]

Der Lindenbaum:

Der Lindenbaum ist natürlich als Baum an sich mit aller Symbolik und Metaphorik des Bildes eines Baums geprägt. Darüber hinaus hat aber speziell die Linde manch andere Bedeutung: In vielen deutschen Ortschaften markierte die Linde den Versammlungs-, Gerichts- und Festplatz und wurde so zu einem Sinnbild der Gemeinschaft. So steht sie speziell in Müllers Text in großem Kontrast zur Einsamkeit des Wanderers. [14]

Speziell der Lindenbaum ist ferner ein Symbol für Muttertum, Fruchtbarkeit, Liebe, Geborgenheit, Harmonie und Schutz. Er wird nach der Psachologie Carl Gustav Jung ebenfalls als Baum der Liebenden und der Mütterlichkeit eingestuft.

Diesem positiven Aspekt steht die Mehrdeutigkeit des Lindebaumes als altgermanischer Treff der Rechtssprechungg (Thing), dem Verurtelungs - und Hinrichtungssplatz, sowie dem beliebten Ort für Selbstmörder gegenüber.

Linde und Brunnen

Die typische Gruppierung von Linde und Brunnen als Herzstück einer Siedlung als sozialem Treffpunkt beim Wasserholen, Platz abendlicher Gespräche, aber auch Tagungsort ist eine schon lange vor dem 19. Jahrhundert vorhandene Tatsache. [15]

Die Verbindung von Brunnen und Lindenbaum ist auch ein bekanntes Motiv. So heißt es im Märchen Froschkönig oder der eiserne Heinrich:

„Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen: wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens.“

Das Wandern

Bildliche Darstellung des Wanderns in der Romantik - Caspar David Friedrich: Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818)

Wandermythen gehören somit zu den uralten Bestandteilen menschlicher Bewusstwerdung. Die Romantik übernahm den Topos von Wandern und Wanderschaft, und prägte ihn bis heute. Dabei war der Blick allerdings nicht auf landschaftliche oder soziale Realitäten gerichtet, sondern empfand die Landschaft als Spiegel des eigenen Inneren. Das Symbol des Wanderns ist auch in Schuberts Werk, z.B. in der Wandererphantasie und anderen Liedern, häufig anzutreffen. [16] Die Symbolik des Wanderns veranschaulichte den besonderen Charakter der menschlichen Lebensreise, in der auch die Gefährdung, das Scheitern und gar Sterbens inbegriffen ist. In der Winterreise wird das "Wandernmüssen" zur Zwangsvorstellung, welche fort von menschlichen Beziehungen, in Wahnvorstellungen und Tod mündet. [17] Mit Erfahrungszugewinn und Reifung wie beim wandernden Handwerksgesellen hat der Schubertsche Wanderer allerdings wenig gemein.

Der Hut

Der Hut (oder der Verlusst dessen) kann nach jeweiliger Interpretation ein psychologisches Staussymbol oder Symbol der Macht des Trägers und somit ein Schutzzeichen des Trägers, oder ein Indiz des Velustes gesellscahfftlicher Macht darstellen. Nach C.J.Jung kann der Verlust des Hutes auch den "Verlust des eignenen Schattens" symbolysieren.". Das Tragen eines Hutes (siehe Heckerhut) war auch nach den Napoeonischen Kriegen ein Bektniss zu bürgerlich-demokratischen, damals revolutionäre Einstellungen.

Schuberts Lied

Schuberts Liedkunst wurde ebenso durch die schwäbisch-süddeutsche Schule und die Berliner Musikschule, sowie durch gewisse Vorbilder wie z.B. Beethoven (Adelaide, An die ferne Geliebte) oder auch Haydns Englische Kanzonetten und Mozarts "Lied vom Veilchen" beeinflusst. Trotzdem war seine Emanzipation des Begleitinstrumentes - mit eigenen Motiven, Begleitformen und übergreifenden Bezügen - im Lied damals eine vollkommenee Neuheit. [18]

Datei:Winterreise-Deckblatt.JPG
Titelblatt der Erstausgabe des ersten Teils vom Januar 1828

Der Lindenbaum, als Lied für hohe Männerstimme mit Klavierbegleitung vertont, bildet die Nr. 5 des Liederzyklus Winterreise von Franz Schubert (Deutsch-Verzeichnis Nr. 911-5).

Zum ersten Mal wurde das Lied im Freundeskreis von Schubert aufgeführt. Joseph von Spaun hat berichtet, dass eines Tages Schubert zu ihm kam und zu ihm sagte: „Komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen.“

Mit dem hier erwähnten Zyklus ist nur die erste Abteilung der Winterreise gemeint, die Schubert Anfang 1827 komponierte und schon im Februar 1827 vor seinen Freunden aufführte.

Das Lied vom Lindenbaum ist dabei das einzige Stück Dur-Stück (E-Dur) der teilweise meist in Moll Winterreise von Schubert.

Position im Gesamtzyklus

Schubert vertonte Anfang 1827 die ersten 12 Lieder Müllers, und erst nachdem er im Herbst auf den erweiterten Zyklus Müllers aus 24 Liedern stieß, die restlichen 12. Müller hängte die zweiten 12 Lieder aber nicht einfach an die ersten an, sondern schob sie in diese ein. Schubert dagegen behielt die ursprüngliche Abfolge der ersten zwölf Lieder Müllers - ob aus Gründen des Entsehungsprozesses oder wegen eigener musikalisch-textlicher Intentionen - bei. [19] [20] Durch diese Änderung der Stellung des Lindenbaums im Zyklus ergab sich eine Bedeutungsverschiebung. Während der Lindenbaum in Müllers 1824 erschienener Gesamtversion vom primär noch postiv hoffenden Die Post gefolgt wird, folgt bei Schubert der eher fragend-resignierende Titel Wasserflut. [21] Auch über die Motive welche Müller zu dieser Positionsveränderung bewogen haben mögen, gibt es nur Vermutungen.

Silchers Satz

Für den Erfolg des Liedes war jedoch vor allem eine Bearbeitung durch Friedrich Silcher verantwortlich. Auf der Basis von Schuberts Vertonung der ersten Strophe setzte er Am Brunnen vor dem Tore 1846 für vier Männerstimmen a cappella aus. Vor allem diese Fassung ist es, die das Lied zum „Volkslied“ gemacht hat und für seine enorme Bekanntheit verantwortlich ist, da sie vielfach in Schul- und Chorliederbüchern gedruckt wurde. Arnold Feil kommentiert die gängigen Hörerfahrungen mit dem Lindenbaum: „Wir hören Schuberts Melodie kaum als ‚Weise‘ des Textes, die im Grunde keiner Harmonie oder Begleitung bedarf, wir hören sie vielmehr als Oberstimme eines vierstimmigen Männerchorsatzes, der uns als Ganzes Volkslied zu sein scheint.“[22]

Silchers Bearbeitung findet sich zuerst in Heft VIII seiner Volkslieder, gesammelt und für vier Männerstimmen gesetzt, seinem Hauptwerk, das in zwölf Heften über den Zeitraum von 1826 bis 1860 verteilt erschienen ist. Wie aller Silcherschen Volksliedsätze steht es nunmehr als Einzelwerk da, der Kontext der Winterreise fehlt also; auch der Titel Der Lindenbaum erscheint nicht mehr.

Das Silcher sich seiner Vereinfachungen im Sinne der volksmuiskalischne Verwendung bewusst war, legt folgendes Zitat von ihm nahe: "Nach Franz Schubert zu einer Volksmelodie umgearbeitet von F.S."

Das Einzellied

Im Gesamtzyklus verkörpert Der Lindenbaum die schwermütige Erinnerung an das vergangene Liebesglück des jetzt einsam durch die unwirtliche Welt reisenden lyrischen Ichs. Die Linde, in deren Rinde er einst „so manches liebe Wort“ geschnitten hatte, weckt in ihm heute - in dunkler, stürmischer Nacht - die Erinnerung an Ruhe und Glück. Er geht aber trotzdem an ihr vorbei und will sie nicht ansehen. Wenn ihm ihre Zweige „Komm her zu mir, Geselle, hier findest Du deine Ruh'!“ zuzurauschen scheinen, könnte diese Einladung aber auch auf Todesgedanken, wenn nicht gar latente Selbstmordabsichten hindeuten - weshalb sich das lyrische Ich auch nicht nach der Linde umwendet. In Silchers Version werden diese Ambivalenzen - obwohl im Text genauso vorhanden - musikalisch nicht umgesetzt.

Musikalischer Vergleich

Primär musikalisch orientierte Analysen konzentieren sich meist auf folgende Fragen:

  • Wie haben Schubert und Silcher den textlichen Vorwurf Müllers mittels musikalischer Techniken dargestellt/umgesetzt, eventuell weitergeführt, vertieft, verflacht, oder erweitert.
  • In welchen Merkmalen unterscheiden bzw. widersprechen sich die Versionen von Schubert und Silcher in Intention und Aussage.

Vergleich der Versionen von Silcher und Schubert

Die Versionen von Schubert und Silcher weisen etliche Unterschiede in formaler, melodischer, harmonischer, und rhythmischer Hinsicht auf. Auch die Form der Begleitung ist (allerdings auch der notwendigen unterschiedliche Instrumentation für Klavier und Gesang im Gegensatz zu einem Chor geschuldet) anders. Dies alles bewirkt ein gänzlich andere und teilweise diametral entgegengesetzte musikalische Ausdeutung der identischen Textvorlage.

Herrauslösung aus dem Gesamtzyklus

Schon der alleinige Vorgang der Herrauslösung eines Einzelliedes aus einem vom Komponisten für den Hörer vorgesehenen Gesamtzusammenhangs eines Zyklus bedingt fast immer einen Verlust bzw. eine Verschiebung der musikalischen Wahrnehmung und inhaltlichen Interpretation. Motivische Zusammenhänge und Anspielungen mit den vohergehenden und nachfolgenden Titeln gehen meist ebenso verloren wie die tonartlichen Bezüge. Clemens Kühn schreibt dazu:

„In solchem Zyklus steht das einzelne Lied in einer bestimmten Umgebung, aus der es kaum ohne Verlust rausgelöst werden kann. […] Das die zweite und dritte Strophe einen anderen Ton anscchlagen […] das nimmt die immer gleiche Melodie nicht wahr.“ [23].
Blaugekennzeichnete Motivbezüge in Erstarrung und Der Lindenbaum

So geht die tonartliche Einbettung des Lindenbaums in die Klammer von in Moll gehaltenenen Stücken (das E-Dur des Lindenbaums im Rahmen von c-Moll in Erstarrung und e-Moll in Wasserflucht) in einer isolierten Darstellung des Liedes (wie in der Version von Silcher) verloren. [24] Auch sind motivische Vorausnahmen und Nachklänge des Lindenbaums, sowie typische rhythmische Figurationen des Titels im Kontext des Gesamtzyklus in einem isolierten Einzeltitel wie von Silcher nicht nachvollziehbar.

Eine elementare, den Anforderungen an ein singbares Volsliede wohl geschuldetete Kürzung, ist die Weglassung des kurzen dramatischen, musikalisch ganz anderes gearteten Mittelteil der Schubertversion (Takt 53 bis 65 - Die kalten Winde bliesen ...) bei Silcher.

Motivbezüge in Der Lindenbaum und Wasserflut

Der muskikalische Verlust übergreifender Bezüge durch eine motivische Herrauslösung eines Einzeltitels wird speziell am Lindenbaum an folgendem Beispiel deutlich. Der Sekundschritt in der linken Hand von Erstarrung (Takt 1, 44, 65, 69, und 103) mit anschließendem aufwärts gerichtetem Terzsprung und abwärtslaufender Sekunde findet im Lindenbaum in der Oberstimme der Klavierbegleitung in Takt 1, 3, 25, 27, und dem Mittelteil (44, 47, 49, und 50) eine Entsprechung/Vorwegnahme. Ein in der chronologischen Abfolge der Lieder umgekehrtes Beispiel gibt der triolisch aufwärts gerichtete Dreiklang aus Takt 59 bis 66 des Lindenbaumes, welcher in Takt 1 und von Wasserflut als triolisch aufwärtsgerichteter Triolengang wieder aufgegriffen wird.

Melodische Unterschiede

Blaugekennzeichnete Melodieunterschiede bei Schubert und Silcher

Die Melodieführung von Schuberts und Silchers Versionen sind zu 90% identisch. Trotzdem sind die restlichen 10% an Abweichungen auch in Hinsicht auf die harmonisch und formalen Gesamtfolgen für das Gesamtverständnis der beiden Versionen entscheidend, und oft an zentralen harmonischen Eckpunkten verortet. Der erste Unterschied ist in Takt 11 (Schubert) festzustellen. Schubert und Silcher beginnen den Takt gleichermaßen mit einer punktierten Viertel und einer darauf folgenden Achtelnote. Während Schubert diese Tonfolge mit einer Vierteltriole abwärts in Sekunden (A- G# - F#) weiterführt, bringt die Silcherversion stattdessen ein punktiertes Viertel mit anschließendem Achtel im Terzschritt (B -G). Der abschließende Sekundschritt auf „Baum“ ist bei Schubert abwärts gewandt, bei Silcher dagegen aufwärtsgewandt. In Takt 15 folgt Silcher allerdings wieder dem triolischen Modell von Schubert.

Blaugekennzeichnete Melodieunterschiede bei Schubert und Silcher

Ein weiterer Unterschied ist in Takt 23 nach Schubert (... zu ihm mich immer ...) festzustellen. Schubert verwendet hier eine relativ schwierige rhythmische Abfolge von Viertel - Achtel - Achtel - Punktiertes Achtel -Sechzehntel. Silcher vereinfacht dies (wohl auch in Hinsicht auf die bessere Singbarkeit durch einen Laienchor) auf Viertel - Achtel - Achtel - und drei Triolen. Außerdem verändert Silcher den abwärts führenden Sekundschritt von Schubert auf „Mich - im“ (G# - A)) in eine aufwärts führende Terz (Ab - C), und wiederholt den Teil „zu ihm mich“.

Harmonische Unterschiede

Harmonische Unterschiede bei Schubert und Silcher

Auch die harmonischen Unterschiede zwischen beiden Versionen sind rein statistisch gesehen relativ unbedeutend. Dennoch sind sie (vergleichbar sind sowieso nur die ersten beiden Strophen) an entscheidenden Wendepunkten der Gattung Liedform (Takt 4, 8, Vordersatz, Nachsatz, etc.) positioniert, und geben damit dem „musikalischen Meinen“ Referenzfehler: Ungültige <ref>-Verwendung: „ref“ ohne Namen muss einen Inhalt haben. einen oft anderen Verlauf.

Das beste Beispiel dafür ist das Ende des ersten Viertakters auf „-baum“ in Takt 12. Bei Schubert endet er auf der Tonika E-Dur, wechselt dann auf die Dominante H-Dur auf der dann auch der Auftakt der nächsten Zeile auf „ich“ beginnt, bevor die Melodie danach in beiden Versionen identisch weiterläuft. Silcher dagegen beendet auf „-baum“ in der Tonika (hier F-Dur), wechselt im Übergang zum zweiten Teil gar nicht, und beginnt den zweiten Teil im Auftakt genauso auf der Tonika.

Indem Silcher die harmonischen Gesetze der Schlussklauseln von Vorder- und Nachsatz und den klassischen Kanon gehorchend befolgt, stellt er einen Gegensatz zu Schuberts hier eher unkonventioneller Form dar, welche nach Peter Rummenmöller einen vielfältigeren „Ausdruck von Ruhe, Spannungslosigkeit, Willenslosigkeit, und Vertzauberung“ verwirklicht. [25]

Harmonische Unterschiede bei Schubert (Takt 17) und Silcher

Die harmonischen Vereinfachungen von Silcher sind an vielen Stellen zu beobachten. So wechselt in Takt 17 auf einem konstanten Melodieton bei Schubert wenigstens die Begleitung harmonisch, während Silcher die Harmonien einfach beibehält. [26]

Formale und rhythmische Unterschiede

Der entscheidende Unterschied ist, dass Silchers Version alle Strophen musikalisch immer mit den gleichen - an die Instrumentierung von Schuberts erster Strophe angelehnten Satz - musikalischen Mitteln verwirklicht.

Schubert dagegen gestaltet die verschiedenen Strophen in fast allen Aspekten (rhythmisch, harmonisch, instrumentationstechnisch, dynamisch) unterschiedlich. Schuberts Version entspricht somit dem Typus des variierten Strophenliedes, während Silchers Fassung ein einfaches Strophenlied darstellt. [27] [28]

Außerdem fehlen bei Silcher die in schnellen Sechzehnteltriolen gehaltenen Vor- (Takt 1 bis 8 nach Schubert ab Takt 1), Zwischenspiele (z.B. Takt 25 bis 28) und das Nachspiel (die letzten sechs Takte Schuberts).

Ein weiterer wichtiger Unterschied ist der Einschub bei Schubert (Takt 45 bis 58) mit seiner textlich und musikalisch ganz anders gelagerten Aussage „die kalten Winde bließen mir gerad ins Angesicht …“ Dieser Teil hat eigentlich – rein melodisch – wenig mit dem eigentlichen Lied zu tun. Er ist musikalisch eigentlich nur als Fortsetzung der Sechsehnteltriolenbeegung in der Einleitung und im ersten Zwischenspiel (Takt 25 bis 28) deutbar. Zu beobachten ist aber, dass er von Schubert vor der Zweiten Strophe mit der Begleitung in triolischen Figuren vorweggenommen wurde, und auch danach wieder aufgegriffen wird.

Erste Strophe:

Die erste Strophe ist von der Begleitung her bei Schubert und Silcher überwiegend ähnlich gehalten. Bei beiden beschränkt sich die Begleitung primär auf die rhythmisch parallele - den instrumentalen Anforderungen angepasste - Begleitung in meist blockmäßigen Dreiklängen (oder in seltenen Fällen Septakkorden).

Dennoch existieren im Detail Unterschiede. Ob diese eher durch die unterschiedlichen instrumentalen Anforderungen (z.b. durch die größere Beweglichkeit eines Klaviers im Gegensatz zum einem von Silcher wohl konzipierten Laienchor) oder durch andere Intentionen Silchers bedingt sind, ist schwer zu entscheiden.

Während schon im zweiten Takt [29] auf den drei Achteln von „nen – vor – dem“ bei Schubert der aufsteigenden Bass Tonika, Terz, und Dominante bringt, repetiert der Bass bei Silcher drei mal den Tonikagrundton F. Schubert verwendet in Takt 3 in der Begleitung mit Halber und Viertel längere Notenwerte als in der Melodie, und stellt damit auch einen eventuell vorbereitenden Gegensatz zu den darauf folgenden Achteln der Begleitung in Takt 4 dar. Bei Silcher sind Alt, Tenor, und Bass hier mit dem Sopran ryhtymisch exakt verkoppelt. Während sich die Silcherversion in Takt 5 auf einer halben und einer nachfolgenden Viertelpause – auch „harmonisch unflexibel ausruht“, bringt Schubert hier ein in Terzen geführten Einschub des Klaviers. In Takt 10 ist das bisherige Vorgehen - Schuberts Version wird von Silcher rhythmisch und instrumentationstechnisch simplifiziert - zumindest aus rhythmischer Sicht umgedreht. Während Schuberts Begleitung hier rhythmisch mit der Melodie vollkommen d´accord geht, bringt Silcher in den tiefen Stimmen (Tenor und Bass) die kompliziertere - und für eine Chor nicht leichte - Version aus punktierter Achtel, Sechzehntel, punktierter Viertel, und Achtel gegenüber punktierter Viertel und drei Achtelb in Sopran und Alt. Allerdings muss Schuberts rhythmisch einfachere Version in Takt 10 auch unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass Schubert auf Takt 10 einen harmonischen Wechsel vollzieht, während Silcher im selben Takt die Harmonie beibehält.

Zweite Strophe:

Verschiedene Begleitformen der rechten Hand (die linke ist rhythmisch d`accord) aus der zweiten Strophe von Schubert

In dieser sind die Unterschiede zwischen den beiden Versionen auch ohne große Analysen hörbar. Schubert bringt primär Triolen und Silcher wiederholt Strophe eins.

Schubert hält hier die Begleitung relativ abwechslungsreich. Rein triolische Begleitung wechselt mehrmals mit Triolen und Achteln, Triolen sowie Achteln und Vierteln, oder Triolen und punktierten Achteln und Sechzehnteln. Permanent vorhanden ist aber immer die Triole.

Ein entscheidender Unterschied ist natürlich, dass der erste Teil der zweiten Strophe (Takt 28 bis 36) in e-Moll anstatt wie die erste in E-Dur gehalten ist. Erst danach erfolgt in Takt 27 die Rückung in das gewohnte E-Dur. Die Gegenwart wird hier in Moll dargestellt und die Vergangenheit in Dur. Sogar das Versprechen der „Ruhe durch den Baum“ (was auch als Suizidaufforderung deutbar ist) ist in Dur formuliert.

Als eine Möglichkeit außermusikalischer Interpretation schreibt Clemens Kühn, dass die Triolen hier im Gegensatz zur ersten Strophe als „stabiler Existenz“ dem „bewegten Symbol des Wanderns“ gegenüber ständen, und die tonale Stabilität der Strophen mit jeder Strophe geringer werde. [30]

Zwischenspiel:

Andere Melodieführung (ohne Akkorde) im Zwischenspiel

Das schubertsche Zwischenspiel ist weniger gesanglich als eher dramatisch-rezitativ gehalten. Obwohl gewisse intervallische Remineszenzen an die Ursprungsmelodie durchaus erhalten bleiben, ist die Gesangsmelodie oft auf deklamamtorische Tonrepetitionen und unsangliche Sprünge wie auf den Oktavsprung auf dem Wort „Kopfe“ reduziert. [31] Die hektische, ausschließlich auf die Triolenbewegung des Anfangs- und Mittelspiels, sowie die von Schubert in tiefe Bassregionen verlegte, auf C (unter später sogar H) repetititive linke Hand, verstärkt diesen Eindruck zusätzlich.

Dritte Strophe

In der dritten Strophe kombiniert Schubert Elemente der vorhergegehenden Strophen. Er bleibt im Dur der ersten Strophe und vermeidet das moll der zweiten Strophe. Gleichzeitig behält er aber die abwechslungsreiche meist triolische Begleitung von Strophe zwei bei. Aber auch das eher an beide Strophen angelehnte Erklingen bedingt kein musikalisch gleiches Erscheinen. So meint Clemens Kühn:

"Wenn danach die Anfangsmelodie wiederkehrt ("Nun bin ich manche Stunde"), ist das ein "anderes" Singen., wie auch der Klavierpart der die Triolen in sich aufnimmt, nicht derselbe bleibt. Was anfangs, ferngerückt aber schon durch die Erinnerung, wie real und lebendig besungenen wurde, enthüllt sich endgültig als zerbrechlich und scheinhaft ("du fändest Ruhe dort !")

Generell ist es (auch bei Schumann; Brahms, oder Grieg) keine Seltenheit, dass Lieder mit jeder Strophe entsprechend dem oder der musikalischen Intention musikalisch anders variiert werden. [32]

Daraus resultiernde Kritik an Silcher

Silcher Vertonung wird häufig als eine „Eindimensionalisierung/Niverlierung“ [33] der vielschichtigeren Textdeutung von Schuberts Version gewertet bzw. abgelehnt.

Frieder Reininghaus konstatiert, die Version von Silcher mache aus dem Schubert-Lied, obwohl es „um Leben und Tod“ gehe, eine „spießbürgerliche und reaktionäre Sonntagsnachmittagsidylle in der Kleinstadt“. Die „Doppelbödigkeit und Ironie“ von Müller und Schubert gehe dabei vollkommen verloren. [34]

Elmar Bozetti kritisiert, dass die Utopie des Lindenbaumes, welche durch die variierte Form bei Schubert erkennbar sei, durch die unvariierte und vereinfachte Form bei Silcher zur „biedermeierlichen Scheinwirklichkeit ohne Realitätsbezug“ werde. [35]

Clemens Kühn vertitt die Meinung, dass die Silcherversion das „Anschlagen eines anderen Tons in der zweiten und dritten Strophe“ bei Schubert durch die „immer gleiche Melodie“ nicht wahrnehme. Durch das „Harmlos-Schöne geglättete“ verliere das Lied in Silchers Version „jene Tiefe die es im Original besitzt“. [36]

Dagegen hob Joseph Müller-Blattau anerkennend hervor, dass Silcher aus den drei variierten Strophen Schuberts die Urmelodie (nach Heinrich Schenker) aus Schuberts Variationen herrausdestiliert habe.


Wirkungsgeschichte

Schuberts Lied und Zyklus hat aber auch spätere klassische Komponisten inspiriert. So sind Gustav Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen sowohl von der textlichen Intention als auch auch in kompositorischen Details deutlich von der Winterreise bzw. Dem Lindenbaum (viertes Lied bei Mahler: "Auf der Straße stand ein Lindenbaum, da hab ich zum ersten Mal im Schlaf geruht ...") beeinflusst. [37]

Der Zimmersbrunnen in Bad Sooden-Allendorf

In vielen Bearbeitungen ist Der Lindenbaum zu einem beliebten Bestandteil des Repertoires der Gesangsvereine geworden. Dabei ist die ambivalente Haltung des Liedes oft einer verharmlosenden Romantisierung gewichen. Im 1916 uraufgeführten Singspiel Das Dreimäderlhaus lässt Schubert, um seiner angebeteten Hannerl eine Liebeserkärung zu machen, Franz von Schober das Lied vom Lindenbaum vortragen. [38]

Eine leitmotivische Rolle spielt Der Lindenbaum im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. Im Kapitel Fülle des Wohllauts hört sich Hans Castorp das Lied hingebungsvoll auf einer Grammofon-Platte an. Im Schlusskapitel Der Donnerschlag zieht er mit dem Lied auf den Lippen in den Krieg; der Lindenbaum wird zum Symbol seiner sieben sorglosen Jahre im Sanatorium Berghof. Verdeckt zitiert wird das Lied auch in Manns Doktor Faustus.

Am Brunnen vor dem Tore ist auch der Titel eines 1952 von Kurt Ulrich produzierten Heimatfilms mit Sonja Ziemann und Heli Finkenzeller, wo ein Gasthaus seinen Namen dem Liedtitel entlehnt.

Bearbeitungen und Einspielungen

Es existieren viele mehr oder minder bekannte Bearbeitungen des Liedes für diverse Instrumentalkombinationen.

Von Franz Liszt stammt eine Fassung für Klavier zu zwei Händen. [39], welche viel zur Popularisierung des Liedes und des Gesamtzyklus beigetragen hat. [40] Im von Gustav Lazarus herausgegebenen Schubert-Liszt-Album ist die virtuose Lisz-Transkription tin erleichterter Bearbeitung in ihrem technischen Anspruch vereinfacht.

Weitere Chorversionen stammen von Conradin Kreutzer, Ludwig Erk, Peter Hammersteen, [41], und Josef Böck.

Der Lindenbaum in der schubertschen Fassung wurde von fast allen namhaften Sängern des 20. Jahrhunderts in allen Stimmlagen vom Sopran bis zum Bass aufgenommen und aufgeführt. Einige wenige Namen sind Hans Hotter, Lotte Lehmann, Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Theo Adam, Peter Schreier, Olaf Bär, Brigitte Fassbaender, René Kollo, und Thomas Hampson. Als Begleiter fungierten oft weltbekannte Pianisten wie Gerald Moore, Jörg Demus, Sviatoslav Richter, Murray Perahia, Daniel Barenboim, Wolfgang Sawallisch, Wolfgang Sawallisch, oder András Schiff.

Daneben existieren unzählige Einspielungen mit anderer instrumentaler Besetzung. Die Singstimme wird dabei von Cello, Posaune, Violine, Klarinette, Fagott, oder Viola gespielt, und von Streichorchestern, Gitarre, oder anderen Instrumentalkombinationen begleitet.

Vermarktung und Popkultur

Reine a-capella Choreinspielungen (auch dreistimmig für zwei Sopranstimmen und ein Alt), oder Uminstrumentierungen im "popklassischen Bereich" wie z.B. von Helmut Lotti oder Nana Mosukouri mit "fettem Streichersatz" oder das Klavier versträrkenden Streichern sind keine Seltenheit.

Was die schubertsche Ursprungsversion und auch Silcher heutzutage manchmal musikalisch über sich "ergehen lassen müssen", lässt exemplarisch folgendes Zitat aus der Werberbroschüre eines Blasorchesters vermuten.

"Zu einem ganz besonderen Klangerlebnis wurde auch Schuberts ,,Lindenbaum", den die Musiker in ganz neue Gewänder kleideten. Ob in James Lasts typischen ,,Happy-Sound", im Tuba-lastigen Egerländer-Stil oder in der humorvollen Fassung von Spike Jones mit Pfiffen, Fanfare und Knalleffekt – beim ,,Lindenbaum" stellten die Musiker ihre brillante Technik unter Beweis." [42]

Das nordhessische Städtchen Bad Sooden-Allendorf wirbt für sich damit, dass Wilhelm Müller das Gedicht am dortigen Zimmersbrunnen vor dem Allendorfer Steintor geschrieben habe, wo eine alte Linde stand. Dort ist auch eine Tafel mit dem Liedtext angebracht. Freilich deutet nichts darauf hin, dass Müller jemals in Allendorf gewesen ist. Die Gaststätte Höldrichsmühle in Hinterbrühl bei Wien wiederum reklamiert für sich, Entstehungsort von Schuberts Komposition zu sein. Dafür gibt es jedoch ebenfalls keinerlei Anhaltspunkte.

In einer Episode der Simpsons (Code 7G03, Szene 03) rappt Bart Simpson dieses Lied – mit stark verändertem Text, aber deutlich zu erkennen.

Referenzen

  1. Rolf Vollmann: Wilhelm Müller und die Romantik. In: Arnold Feil: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise. Stuttgart, Reclam, 1975, S. 173-184; hier: S. 183.
  2. [1]
  3. Beispielsweise von Bernd Leistner im Vorwort der Werkausgabe von Wilhelm Müller, online hier verfügbar: [2].
  4. Vollmann, S. 182.
  5. Vgl. dazu: Wittkop 1994 und Hufschmidt 1992.
  6. Diesen Zugang über die Zeitstruktur wählen Hufschmidt, S. 96f., und Wittkop, S. 113ff.
  7. vgl. Hufschmidt, S. 96)
  8. Vgl. die Beispiele unter dem Weblink auf das „Goethezeitportal“.
  9. Erika von Borries: Wilhelm Müller - Der Dichter der Winterreise - Eine Biographie, C.H. Beck, 2007, Seite 159
  10. Erika von Borries: Wilhelm Müller - Der Dichter der Winterreise - Eine Biographie, C.H. Beck, 2007, Seite 165 und 169
  11. http://www.goeres.de/textgrafik/winterreise.htm Achim Goeres: …was will ich unter den Schläfern säumen ? - Gedanken zu Schuberts Winterreise
  12. Gerd Eversberg: Theodor Storm und die Medien, Erich Schmidt Verlag, 1999, Seite 73 ff.
  13. Manfred Kluge und Rudolf Radler: Hauptwerke der deutschen Literatur -Einzeldarstellungen und Interpretationen, Kindler Verlag ,1974, Seite 160
  14. Das muss belegt werden !
  15. Jürgen Kuczynski: Geschichte des Alltags des Deutschen Volkes - 1600 bis 1945, Seite 275
  16. Das Grosse Volkslexikon -1000 Fragen und Antworten, Bertelsmann Lexikon Institut, Wissen Media Verlag, 2006, Seite 57
  17. MGG - Die Musik in Geschichte und Gegenwart, and 12, Hrsg.: Friedrich Blume, dtv (Bärenreiter), 1989, Seite 161
  18. Hans Schnorr: Geschichte der Musik, Bertertlsmann Verlag, Gütersloh, 1954, Seite 334
  19. Walther Dürr: Schuberts Winterreise - Zur Entsehungs- und Veröffentlichungsgeschichte - Beobachtungen am Manuskript; in Hans Joachim Kreutzer, Sabine Doering, Waltraud Maierhofer, Peter Joachim Riedle: Resonanzen, Königshausen & Neumann, 2000, Seite 302 und 303
  20. Elmar Budde: Schuberts Liederzyklen - Ein musikalischer Werkführer, C.H. Beck, 2003, Seite 69 und 70
  21. Thrasybulos Georgos Georgiades: Schubert- Musik und Lyrik, Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, Seite 358
  22. Feil 1975, S. 112.
  23. Clemens Kühn: Formenlehre der Musik, dtv/Bärenreiter, 1987, 4. Auflage 1994, Seite 167
  24. Clemens Kühn: Formenlehre der Musik, dtv/Bärenreiter, 1987, 4. Auflage 1994, Seite 167
  25. Peter Rummenmöller: Einführung in die Musiksoziologie, Noetzel, Florian; 1978, 4. Auflage 1998, Seite 239
  26. Da sieht man durch Betrachten und Vergleich beider Notentexte
  27. dtv-Atlas zur Musik, Band 2, dtv, München, 1985, Seite 464
  28. Ekkehard Kreft und Erhard Johannes Bücker: Lehrbuch der Musikwissenschaft, Schwann, 1984, Seite 346
  29. Anm.: Taktzahlen ohne Vorspiel: Taktzahl hier bezogen auf den ersten Takt des Textes. Also inklusive dem Auftakt von „Am“, ist hier mit „Brunnen vor dem“ Takt 2 gemeint.
  30. Clemens Kühn: Formenlehre der Musik, dtv/Bärenreiter, 1987, 4. Auflage 1994, Seite 166 ff.
  31. Elmar Budde: Schuberts Liederzyklen, München 2003, Seite 56, 77 ff.
  32. Hans Zacharias: Bücher der Musik - Band 4, Seite 42
  33. Peter Rummenmöller: Einführung in die Musiksoziologie, Noetzel, Florian; 1978, 4. Auflage 1998, Seite 239
  34. Frieder Reininghaus: Schubert und das Wirtshaus - Musik unter Metternich, Oberbaum 1980, Seite 216 bis 218
  35. Elmar Bozetti: Am Brunnen vor ... - Die Befreiung eines Liedes aus dem Klische des Idylischen; in Zeitschrift für Musikpädagogik, Heft 18, 1982, Seite 36 ff.
  36. Clemens Kühn: Formenlehre der Musik, dtv/Bärenreiter, 1987, 4. Auflage 1994, Seite 167
  37. Peter Revers: Mahlers Lieder - Ein musikalischer Werkführer, C.H. Beck, 2000, Seite 60 ff.
  38. Sabine Giesbrecht-Schutte: "Klagen eines Troubadours" - Zur Popularisierung Schuberts im Dreimäderlhaus; In Martin Geck, Festschrift zum 65. Geburtstag, Hrsg.: Ares Rolf und Ulrich Tadday, Dortmund, 2001, Seite 109 ff.
  39. Klavierwerke / Franz Liszt ; Band 9: Lieder-Bearbeitungen für Klavier zu zwei Händen, Leipzig: Edition Peters Nr. 3602a, n.d. Plate 9885
  40. MGG - Die Musik in Geschichte und Gegenwart, and 12, Hrsg.: Friedrich Blume, dtv (Bärenreiter), 1989, Seite 162
  41. [3]
  42. [4]


Literatur

  • Wilhelm Müller: Werke, Tagebücher, Briefe in 5 Bänden und einem Registerband. Hrsg. von Maria-Verena Leistner. Mit einer Einleitung von Bernd Leistner. Berlin, Verlag Mathias Gatza, 1994. ISBN 3928262211
  • Gabriel Brugel: Kritische Mitteilungen zu Silcher's Volkliedern, zugleich ein Beitrag zur Volksliedforschung. In: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft, 15. Jahrg., H. 3. (Apr.-Jun., 1914), S. 439-457.
  • Christiane Wittkop: Polyphonie und Kohärenz. Wilhelm Müllers Gedichtzyklus „Die Winterreise“. Stuttgart, M und P Verlag für Wissenschaft und Forschung, 1994. ISBN 3476450635
  • Dietrich Fischer-Dieskau: Franz Schubert und seine Lieder. Frankfurt 1999, ISBN 3458342192
  • Elmar Budde: Schuberts Liederzyklen. München 2003, ISBN 3406448070
  • Martin Zenck: Franz Schubert im 19. Jahrhundert. Zur Kritik eines beschädigten Bildes. In: Klaus Hinrich Stahmer (Hg.): Franz Schubert und Gustav Mahler in der Musik der Gegenwart. Mainz, Schott, 1997, S. 9-24.
  • Wolfgang Hufschmidt: „Der Lindenbaum“ – oder: Wie verdrängt man eine böse Erinnerung. In: ders.: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn? Zur Semantik der musikalischen Sprache in Schuberts „Winterreise“ und Eislers „Hollywood-Liederbuch“. Saarbrücken: Pfau Verlag, 1992, S. 96-102.