Der Vorleser
Der Vorleser ist ein Roman von Bernhard Schlink aus dem Jahr 1995.
Im Roman setzt sich Schlink mit der Judenvernichtung im Dritten Reich auseinander und ebenso mit der Frage, wie mit den Tätern umgegangen werden sollte. Gleichzeitig handelt der Roman von einem Generationenkonflikt der 1950er Jahre. Das Buch wurde in 39 Sprachen übersetzt, so erschien es 1997 unter dem Titel The Reader in den USA.
Handlung
Die Handlung des Romans Der Vorleser ist in drei Teile gegliedert, die in überwiegend chronologischen Rückblenden aus der Erzählgegenwart der 1990er-Jahre erzählt werden.
Erster Teil
Im ersten Teil lernt der Ich-Erzähler Michael Berg als 15-jähriger Schüler im jahr 1958 die 36 Jahre alte Schaffnerin Hanna Schmitz kennen. Der an Gelbsucht erkrankte Junge übergibt sich auf dem Nachhauseweg und die ihm zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte Hanna Schmitz hilft ihm. Nach der Genesung kauft Michael einen Blumenstrauß, um sich bei der Unbekannten zu bedanken. Bei dieser Begegnung beobachtet er Frau Schmitz beim Umziehen und ist davon erregt. Als sie seinen Blick bemerkt, verlässt er überstürzt die Wohnung. In der Folge hat er erotische Fantasien und Träume, die um Hanna Schmitz kreisen, fühlt sich dabei jedoch unwohl. Trotzdem zieht es ihn zur Wohnung von Hanna Schmitz zurück, die ihn bittet Kohlen aus dem Keller zu holen. Da er voller Staub ist, lässt Hanna Schmitz ihm ein Bad ein, damit er sich waschen kann. Sie trocknet ihn ab und es kommt zu Liebesakt. Er beschließt, wieder zur Schule zu gehen, schwänzt aber einzelne Stunden, um sie bei Hanna zu verbringen. Als diese das erfährt, knüpft sie weitere Treffen an die Bedingung, dass er sich mehr für die Schule engagiert. Das Baden und der anschließende Liebesakt werden zum Ritual. Hinzu kommt das Vorlesen aus Schullektüren und später auch eigens dafür ausgesuchten Büchern. Es kommt zu Konflikten zwischen den beiden, in denen Michael die Schuld auf sich nimmt, obwohl er sich keines Fehlers bewusst ist. Dies tut er, um Zurückweisung seitens Hanna zu entgehen. Mit dem Beginn des neuen Schuljahrs lernt Michael die Mitschülerin Sophie kennen, die er mit Hanna vergleicht. Er verbringt mehr Zeit mit seinen Mitschülern, so dass sein Leben nicht mehr ausschließlich um Hanna kreist. Je intensiver die Beziehung zu Sophie und den Mitschülern wird, desto stärker wird das Gefühl Michaels Hanna zu verraten. Als sie überraschend im Schwimmbad erscheint, reagiert Michael nicht und sie verschwindet. Am nächsten Tag kommt er zu ihrer verlassenen Wohnung und erfährt, das Hanna ohne Angabe des neuen Wohnortes verzogen ist.
Zweiter Teil
Der zweite Teil spielt acht Jahre später. Michael Berg hat zwar von Hanna Abstand gewonnen und seine Schuldgefühle haben nachgelassen, aber die Erinnerungen nicht bewältigt. Er studiert Jura und besucht mit Kommilitonen einen Kriegsverbrecherprozess gegen Wärterinnen eines Außenlagers des Konzentrationslagers Auschwitz. Ihnen wird vorgeworfen bei einem Todesmarsch gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, Gefangene in eine Kirche gesperrt zu haben und ihnen, als die Kirche abbrannte, nicht die Tür geöffnet zu haben. Eine der Angeklagten ist Hanna Schmitz. Michael ist jeden Verhandlungstag anwesend und versucht sich von Hanna zu distanzieren. Er denkt zudem darüber nach, wie die nächsten Generationen mit dem Holocaust umgehen sollen. Hanna wird neben dem Tod der Frauen in der Kirche auch vorgeworfen, an Selektionen mitgewirkt zu haben. Im Prozess sagt eine Frau aus, die zusammen mit ihrer Mutter, als einzige den Brand überlebt hat. Sie erinnert sich, das Hanna KZ-Häftlinge begünstigte, die ihr vorlasen. Hanna und ihr Anwalt verhalten sich im Prozess nicht vorteilhaft, sie ist die einzige, die die Taten nicht abstreitet. Die Mitangeklagten führen einen Bericht an, den Hanna verfasst haben soll, der alle Angeklagten belastet. Als der Richter einen Schriftvergleich anordnen will, gibt Hanna zu, den Bericht geschrieben zu haben. Michael erkennt das Hanna Analphabetin ist und kommt in einen inneren Konflikt: Er weiß, das Hanna nicht das Gestandene getan hat, weiß aber nicht wie er weiter vorgehen soll. Er entscheidet sich letztendlich dagegen. Stattdessen besichtigt er das KZ Natzweiler-Struthof. Er fährt per Anhalter, wobei einer der Fahrer Gleichgültigkeit als Motiv für den Mord an den Juden anführt und Michael des Wagens verweist, als dieser ihn fragt, ob er selbst an solchen Morden beteiligt war. Am Ende des Prozesses wird Hanna zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, während ihre Mitangeklagten kürzere Haftstrafen erhalten.
Dritter Teil
Nach dem Studium beginnt Michael Berg sein Referendariat, in dessen Anschluss er Rechtshistoriker wird, und heiratet Gertrud, mit der er eine Tochter hat. Diese Ehe scheitert, was auch an Hannas weiterhin existenten Einfluss auf Michael liegt. Er beginnt für sie auf Kassetten vorzulesen und beginnt nach einiger Zeit diese in Hannas Gefägnis schickt. Es entwickelt sich somit erneut das Ritual des Vorlesens. Einige Zeit später beginnt Hanna, die Lesen und Schreiben lernt, Michael kurze Grüße zu schicken, die er unbeantwortet lässt. Als Hannas Entlassung näher rückt, erhält Michael einen Brief von der Gefängnisleiterin, in dem sie ihn um ein Treffen bittet, da er der einzige Kontakt Hannas außerhalb des Gefängnisses ist und ihr bei der Entlassung helfen soll. Er bereitet alles dafür vor und besucht eine Woche vor dem Entlassungstermin Hanna im Gefängnis. Am Tag vor der der Entlassung begeht Hanna Selbstmord. Die Gefängnisleiterin führt Michael in ihre Zelle, wo er Bücher über den Holocaust sieht, und übergibt ihm Hannas Erspartes. Dies möchte er ihrem letzten Willen folgend der Überlebenden des Todesmarsches übergeben. Diese möchte es nicht annehmen, um Hanna damit nicht eine Art Absolution zu erteilen, einigt sich aber mit Michael darauf, es einer jüdischen Organisation gegen Anaphabetismus zukommen zu lassen. Am Ende des Buches reflektiert Michael Berg über seine Erzählung und empfindet sie in der vorliegemden Gestalt als rund.
Figuren
Die Handlung des Buches ist deutlich auf die Beziehung zwischen den beiden Protagonisten Michael Berg und Hanna Schmitz zugeschnitten. Sowohl die Haltung beider Personen zueinander als auch ihre Charaktere werden dabei als ambivalent und unentschieden gekennzeichnet. Über Hanna und die restlichen Charaktere erfährt man allerdings nur über den Erzähler, also doch recht gefiltert.
Michael Berg
Der 15-Jährige Michael Berg wird als dahinträumender, durchschnittlicher Jugendlicher beschrieben, der keine besonderen Ziele verfolgt. Der Widerspruch zwischen anerzogenen moralischen Werten und erwachendem sexuellen Verlangen beherrscht ihn (ein Phänomen, das oft als typisch für die 1950er angesehen wird), sodass er zum Beispiel versucht, seine Sexualität zu rationalisieren. Gegenüber seinen Altersgenossen versucht Michael, Souveränität und Überlegenheit auszustrahlen, die jedoch nur seine Gefühlsunsicherheit kaschieren sollen. Die Beziehung zur 36-jährigen Hanna Schmitz bedeutet für ihn einen deutlichen Einschnitt und trennt ihn emotional von den bisherigen Lebenswelten (Familie, Schule). In der Beziehung zu Hanna neigt er zu Unterordnung und Anpassung. Die Erfahrung, von Hanna auf Distanz gehalten zu werden und eine weitere, von Michael gewollte Vertiefung zu verweigern, verstärkt noch seine Hörigkeit und Unsicherheit gegenüber Hannas Dominanz. Die Schwierigkeit der Beziehung zu Hanna führt gegen Ende zu einer schleichenden Abwendung von ihr; das bald darauffolgende Verschwinden Hannas verursacht in ihm große Schuldgefühle, weil er sie verraten zu haben glaubt.
Das Gefühl der eigenen Schuld und die nicht bewältigte, sich fortsetzende Abhängigkeit von Hanna führt bei Michael in der Folgezeit zu einer Bindungsunfähigkeit und einer Abweisung anderer Menschen.
Michael begegnet Hanna erneut, als er als Student in einem Kriegsverbrecherprozess Hanna als Angeklagte - nämlich als ehemalige KZ-Aufseherin - wiedererkennt. Die erneute Begegnung mit Hanna geschieht für den Studenten Michael Berg enorm plötzlich und überwindet die von Michael über die Zwischenzeit aufgebauten Verdrängungsmechanismen und Abwehrtaktiken. Dies führt Michael auf seine innere Leere und Ohnmacht zurück. In ihm entstehen neue Schuldgefühle, und das Gefühl, von Hanna entfremdet zu sein, verstärkt sich. Hinzu kommt die Unmöglichkeit, mit Hanna im Gerichtssaal zu kommunizieren. Weiterhin lähmt Michael das moralische Dilemma, um entlastende Hinweise über Hannas Schuld zu wissen. Der Versuch, diese dem Richter vorzutragen, scheitert.
Die folgenden Jahre des erwachsenen Michaels werden weiter bestimmt durch die Distanz zu seinen Mitmenschen und die Vermeidung möglicher Verletzungen durch Gefühllosigkeit und Abstand. Auch wenn diese Phänomene mit der Zeit abnehmen, scheitert Michaels 5-jährige Ehe mit der ehemaligen Studienkollegin Gertrud.
Als Michael den „Kassettenkontakt“ mit Hanna im Gefängnis aufnimmt, beginnt ein langsamer, selbsttherapeutischer Prozess für Michael. Er hält jedoch weiterhin Distanz zu Hanna, ihrer bevorstehenden Entlassung sieht er widerwillig entgegen; zwar fühlt er sich für Hanna verantwortlich, doch kann er sich eine gemeinsame Zukunft nicht vorstellen.
Der ältere (autobiographisch erzählende) Michael Berg zeigt schließlich ein hohes Maß an Schuldbewusstsein und Reflexion. Das Schreiben bezeichnet er an verschiedenen Stellen als Konfliktbewältigung. Michael hat zu einer gewissen moralischen Läuterung gefunden, die in der unbeschönigten Beschreibung seiner Lebensgeschichte ihren Höhepunkt findet. Bedeutend für diese Entwicklung scheint der Besuch einer der betroffenen Häftlinge während der NS-Zeit zu sein, mit der er offen über die Beziehung zu Hanna spricht.
Hanna Schmitz
Hanna Schmitz ist ein sehr widersprüchlicher Charakter. Zu den Werten ihrer Sozialisation in den 1930ern in Sibiu/Hermannstadt (Siebenbürgen, Rumänien) gehören ein gesteigertes Pflichtgefühl und eine starke Arbeitsmoral, hierarchische Unterordnung und ein Sinn für Ordnung. Dem entgegen spricht ihre beständige Angst vor Aufdeckung ihrer Schwäche, des Analphabetismus. Ihre Reaktionen schwanken hier zwischen Anpassung, Flucht und Aggression. Auch eine gesteigerte Brutalität in ihrem Verhalten lässt sich nachweisen.
Hanna besitzt zwar eine durchschnittliche Intelligenz, doch sie hat nie Verständnis für Spielregeln des Alltags und der Gesellschaft erlernt. Die Öffentlichkeit, Kultur, gesellschaftliche Kommunikation und der Gerichtssaal sind ihr fremde Räume, die zu deuten sie keine Muster besitzt. Das zeigt sich auch in dem nicht vorhandenen Vermögen, moralisch ihr Handeln zu abstrahieren. Es lässt sich demnach eine partielle möglicherweise selbst verschuldete Unmündigkeit Hannas nachweisen, deren Ausdruck oder Ursache ihr Analphabetismus ist.
Ähnlich wie Michael hält sie die Menschen auf Distanz und lebt das Leben einer Einzelgängerin (Angst vor Kontrollverlust). Zeit ihres Lebens baut sie keine tieferen sozialen Bindungen auf. Allgemein erfahren wir über Hanna nur durch die Sicht Michaels, was für eine direkte Interpretation problematisch ist. Das Verhalten Hannas wird durch Michael gedeutet und vorgefiltert: Michael interpretiert Hannas Biographie als fortwährenden Versuch, ihren Analphabetismus zu verheimlichen; dem entspricht seine Deutung des Gerichtsprozesses als „Kampf“ Hannas um „ihre Gerechtigkeit“, mit einer einhergehenden unterschwelligen Bewunderung.
Neben diesen Deutungsmustern lässt sich festhalten, dass eine wirkliche Charakteränderung Hannas erst in der Zeit der Haft geschieht. Vorher scheint ihre Charakterstruktur nahezu starr, auch wenn sie sich in unterschiedlichen Milieus unterschiedlich verhält. Während ihrer Haftzeit geschieht eine Auseinandersetzung mit den historischen Fakten und moralischen Problemen des Nationalsozialismus. Dies zeigt eine deutliche Änderung ihrer Denkweise an. Auch ihre Härte gegen sich selbst und andere gibt sie laut Beschreibung der Gefängnisdirektorin auf.
Die Gründe für den Suizid sind vielfältig und stellen eine der Kernfragen der Interpretation dar. Grundsätzlich lässt sich Hannas erstmals entwickeltes Schuldbewusstsein betonen, das ihr eine Einordnung ihrer Taten erlaubt. Zudem hat sich ihre ursprüngliche Betonung äußerer Stärke nun in Ohnmacht und Abhängigkeit von Michael gewandelt. Und nicht zuletzt muss es ihr als eine nicht zu bewältigende Aufgabe erscheinen, sich in die Außenwelt zu integrieren, in der sie keinen Platz besitzt, weder von ihrer beruflichen Stellung, ihrer moralischen Beurteilung und ihrer materiellen Zukunft.
Familie Berg
Die Familie Michaels wird nur am Rand beschrieben, liefert aber wichtige Hinweise auf die Sozialisation Michaels. Es handelt sich um eine sechsköpfige Familie (Michael hat drei Geschwister) des gehobenen Bürgertums, die eine klassische Rollenverteilung für die 1950er Jahre aufweist.
Der Vater taucht in zwei wesentlicheren Szenen auf. Er ist von Beruf Philosophieprofessor, spezialisiert auf Kant und Hegel. Innerhalb der Familie spielt er die Rolle eines gemäßigt agierenden Patriarchen. Er hält seine Kinder stark auf emotionale und körperliche Distanz und plant sie genau wie seine Studenten in den täglichen Terminplan ein. Sein Verhalten wird als (unbewusstes) Vorbild für Michaels Entwicklung gedeutet.
Die Mutter ist eine durchaus positiv dargestellte Figur, zu der Michael aber anscheinend keinen genügenden Bezug aufbauen kann. Sie vermittelt ihm das Gefühl von Nähe, ohne Michael restlos mit diesem Gefühl befriedigen zu können. Nach der ersten Nacht mit Hanna erinnert sich Michael an eine Szene aus seiner frühen Kindheit: Vor dem wärmenden Herd hatte ihn die Mutter gewaschen und angekleidet. Diese Szene mütterlicher Verwöhnung wird zum Muster für die Badeszenen mit Hanna, die eine prägende Rolle für ihre Beziehung spielen, gleichzeitig aber auch für die damit verbundenen Schuldgefühle: „…, ich mich fragte, warum meine Mutter mich so verwöhnt hat. War ich krank?“
Die Geschwister spielen nur eine untergeordnete Rolle. Zu ihnen befindet sich Michael in einem Verhältnis gegenseitiger Rivalität und Distanz.
Schauplätze
Obwohl der Roman den Namen der Heimatstadt des Protagonisten nicht nennt, legt die Erwähnung topographischer Details (Heiligenberg, Philosophenweg, Neuenheimer Feld usw.) auch dem wenig ortskundigen Leser die Stadt Heidelberg und den Rhein-Neckar-Raum als Schauplatz des ersten Romanteils nahe. Die Beschreibungen am Anfang des Romans lassen ebenfalls eindeutig auf Heidelberg schließen. Die dort beschriebenen Straßen und Häuser existieren genau so im Stadtteil Heidelberg-Weststadt, in dem der Autor Bernhard Schlink tatsächlich aufwuchs. Lokalkolorit ist auch für andere Werke Schlinks charakteristisch. Die Gerichtsverhandlung im zweiten Teil findet „in einer anderen Stadt, mit dem Auto eine knappe Stunde entfernt“ statt. Der Roman scheint hier auf die Frankfurter Auschwitzprozesse anzuspielen.
Stil
Bernhard Schlinks Stil im Vorleser ist in den erzählenden Passagen schlicht und präzise. Es herrschen parataktische oder syntaktisch einfache Sätze vor. Ein Stilmittel sind Kapiteleröffnungen, die in einem lapidaren Satz wichtige oder überraschende Informationen vermitteln, der Handlung eine Wende geben. In reflektierenden Passagen wird die Sprache poetisch. Vor allem das Spiel mit Gegensätzen („Ich habe nichts offenbart, was ich hätte verschweigen müssen. Ich habe verschwiegen, was ich hätte offenbaren müssen…“; Kap. 15) und Versuche, komplexe Erinnerungen in einprägsame Bilder zu fassen, sind bestimmend („… Bilder von Hanna, die mir geblieben sind. Ich habe sie gespeichert, kann sie auf eine innere Leinwand projizieren und auf ihr betrachten, unverändert, unverbraucht.“ Kap.12).
Das Sprachniveau ist durchgehend hochsprachlich. Zugleich benutzt Schlink viele durchgehende Bilder und Motive, etwa bei der Beschreibung des Baderituals. Die Beschreibung ist geprägt durch die teilweise schon reflektierte (vorgebliche) Schreibhaltung des Ich-Erzählers, die emotionale Nähe ist dennoch an den meisten Stellen spürbar.
Themen
Drittes Reich und Judenvernichtung
Schlink wählt für die Betrachtung der Judenvernichtung eine ungewöhnliche Perspektive. Während er auf eine realistische, dokumentarische Nachzeichnung der Ereignisse im Großen verzichtet, gibt er dennoch ein – durch den Ich-Erzähler gefiltertes – Bild wieder, indem er Hanna auftreten lässt. Damit wird kein summarisches Faktenwissen als Darstellung des Dritten Reiches benutzt, sondern die Menschlichkeit eines individuellen Schicksals – das eines Täters.
Die Schuldfrage – sowohl die allgemeine als auch die individuelle – wird damit keinesfalls aufgelöst, aber differenziert. Der spezifische Mensch Hanna besitzt spezifische Schwächen, die bei Hanna sogar besonders schwer wiegen. Die von ihr ausgeübten Taten geschehen nicht aus einem „luftleeren“, grundsätzlich moralisch verurteilbaren Raum, sondern besitzen eine Vorgeschichte, die das Individuum zu seiner persönlichen Schuld führt. So wird die Eigenverantwortlichkeit und die Schuldfähigkeit des Einzelnen hinterfragt; das scheinbar Böse, das hinter den Taten steht und ihre Täter stigmatisiert wird jedenfalls entmystifiziert. Durch die Kenntnis, dass Hanna weder Lesen noch Schreiben kann, sie sich stets deshalb versteckt hat hinter ihrem eigenen Horizont, wird die Frage aufgeworfen, ob nicht auch sie ein Opfer des Genozid geworden ist. Die Tatsache, dass ihr Leben statt mit der Entlassung mit dem Freitod endet, entspricht diesem. Wäre sie nicht Opfer gewesen, so hätte ein neues Leben begonnen.
Schlink hat einige Anregungen für die Figur der Hanna der Biographie der KZ-Aufseherin Hermine Braunsteiner-Ryan entnommen [1], die er in spezifischer Weise umgestaltet.
Analphabetismus und Ohnmacht
Schlink zeigt die Ohnmacht in Alltag und Gesellschaft, welche die Opfer von Analphabetismus betrifft. Die moderne Gesellschaft beruht auf der Schrift als einem Zeichensystem und gemeinsamen Kommunikationscode. Hannas Unvermögen zu schreiben stellt sie außerhalb dieser Gesellschaft und hindert sie, an Großteilen der gesellschaftlichen Kommunikation teilzunehmen. Dies führt in der Darstellung Schlinks auch teilweise zur Schuld, die Hanna auf sich lädt (siehe oben).
Die psychologische Konstellation des Sich-Versteckens, der Scham, der Angst und der Aggression wird von Schlink in vielen Details gezeigt. Gründe oder die Vorgeschichte von Hannas Analphabetismus werden allerdings nicht beschrieben; Hannas Analphabetismus ist ein allgemeines Symbol für ihre Unmündigkeit, die wesentlich ihr Leben bestimmt.
Stark ungleichaltrige Beziehungen
Auf besonders starke Rezeption vor allem in den USA stieß die Beziehung zwischen dem 15-jährigen Michael und der 36-jährigen Hanna; nach deutschem Recht ist eine solche Beziehung zwar jedenfalls nicht mehr widerrechtlich, gesellschaftliche Akzeptanz bliebe ihr aber auch heute verwehrt. Die asymmetrische Beziehung, die sich aus einem so großen Altersunterschied ergibt, wird von Schlink gezeigt. Deutlich wird die tiefeinschneidende psychologische Wirkung einer solchen Beziehung beschrieben. Reflektiert wird vom Erzähler vor allem, ob der Junge seiner Liebe wirklich gerecht geworden sei, ob er Hanna die Treue gehalten, ob er sie vor Freunden und Familie verleugnet habe. Die harte Verurteilung vor Gericht beruht ebenso auf Hannas verheimlichtem Analphabetismus wie ihrer Entscheidung, zur KZ-Aufseherin zu werden. Auch die Trennung von Michael und die wilde Flucht aus ihrem Lebensumfeld beruht auf dem festen Willen, ihren Analphabetismus zu verschleiern.
Wasser in seiner reinigenden Wirkung
Dem Wasser, als ein reinigendes Element, wird im gesamten Buch eine zentrale Rolle zugewiesen. Schon zu Beginn der Handlung wäscht Hanna Michael mit Wasser. Während der Zeit ihrer Beziehung ist das gegenseitige Waschen bzw. das Duschen als Steigerung des Lustempfindens dazu immer wieder ein fester Bestandteil ihres fast täglich praktizierten „Rituals“. Beide Partner versuchen dadurch dem Alltagsgeschehen ein Stück weit zu entkommen, sich vom Stress zu erholen, sich zu entspannen, sich näher zu kommen und sich völlig auf sich selbst bzw. ihre Hingabe zu konzentrieren. Dies spielt einerseits auf das religiöse Sakrament der Taufe an, kann aber auch als „Reinwaschen von Schuld“ gedeutet werden, um bereit für den Tod zu sein.
Rezension
Der Vorleser ist auch in den Lehrplänen der Sekundarstufe II verschiedener Bundesländer (z. B. Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Sachsen, Thüringen, Rheinland-Pfalz, Berlin, Brandenburg, Hessen, Zentralabitur NRW) verankert.
Kritiken
Ein Großteil der literarischen Kritik äußerte sich lobend zum Vorleser. Hervorgehoben wurde vor allem der präzise Stil Schlinks, die direkte Erzählweise und außergewöhnliche Art und Weise der Vergangenheitsbewältigung.
Rainer Moritz (Die Welt, 15. Oktober 1999) betonte, der Roman führe „den künstlichen Gegensatz zwischen Privatheit und Politik ad absurdum“. Werner Fuld (Focus, 30. September 1995) schrieb in Hinblick auf den Vorleser, man müsse „große Themen nicht breit auswalzen, wenn man wirklich erzählen kann“.
Für seine Methode der Beschreibung der NS-Verbrechen wurde Schlink von anderer Seite stark kritisiert und in Zusammenhang mit Geschichtsrevisionismus und Geschichtsfälschung gestellt. Jeremy Adler hob in der Süddeutschen hervor, Schlink betreibe „Kulturpornographie“, indem in seinem Buch die „entscheidenden Motive von Schuld und Verantwortung sowie die Frage nach dem Verhältnis von persönlicher und staatlicher Macht“ an Bedeutung verlören. Schlink „vereinfache“ die Geschichte und zwinge zu einer Identifikation mit eigentlich schuldigen Tätern der NS-Zeit.
Erfolg im Ausland
Schlinks Der Vorleser stellt einen der wenigen Bestseller deutscher Autoren auf dem amerikanischen Buchmarkt dar. Der Vorleser wurde in über 39 Sprachen übersetzt und war das erste deutsche Buch, das es auf Platz 1 der Bestsellerliste der New York Times schaffte. Vor allem die Ankündigung von Oprah Winfrey, der Vorleser (The Reader) werde in ihrem Book Club besprochen, sorgte für eine Million verkaufter Taschenbuch-Exemplare in den USA.
Preise
- Hans-Fallada-Preis (1997)
- Prix Laure Bataillon (bestdotierter Preis für übersetzte Literatur) (1997)
- WELT-Literaturpreis der Zeitschrift Die Welt (1999)
- Evangelischer Buchpreis 2000
- Eeva-Joenpelto-Preis, Finnland 2001
- Platz 14 auf der Liste der ZDF-Lieblingsbücher 2004
Verfilmung
- Hauptartikel: Der Vorleser (Film)
In den Jahren 2007 und 2008 wurde eine englischsprachige Verfilmung (The Reader) von Schlinks erfolgreichem Roman umgesetzt. Die Regie übernahm der britische Theater- und Filmregisseur Stephen Daldry, während sein Landsmann David Hare die Romanvorlage für die Kinoleinwand adaptierte. Beide hatten bereits an der Oscar-prämierten Romanverfilmung The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit (2002) zusammen gearbeitet. Für die Recherche zum Film besuchte Daldry Anfang Juli 2007 Berlin und nahm an einem Mordprozess am dortigen Kriminalgericht teil.[2] Ab 19. September 2007 fanden in Berlin und Görlitz die ersten Dreharbeiten statt.[3] Für die Hauptrollen waren die australische Schauspielerin Nicole Kidman, die schon 2002 gemeinsam mit Daldry und Hare an The Hours zusammen gearbeitet und für die Rolle der Virginia Woolf den Oscar erhalten hatte und der deutsche Jungschauspieler David Kross (Knallhart) ausgewählt worden. Kidman gab aber Anfang Januar 2008 bekannt, dass sie aufgrund ihrer Schwangerschaft für die Dreharbeiten nicht zur Verfügung stehe. Als Ersatz für die weibliche Hauptrolle konnte die britische Schauspielerin Kate Winslet gewonnen werden.[4] Anfang bis Mitte Juli 2008 wurden die letzten Aufnahmen in Köln gedreht.[5] Für ihre Rolle in dieser Verfilmung erhielt die Schauspielerin Kate Winslet am 11. Januar 2009 einen Golden Globe.
Ergänzt wird das Schauspielensemble von Volker Bruch, Vijessna Ferkic, Karoline Herfurth, Bruno Ganz, Burghart Klaußner, Hannah Herzsprung, Alexandra Maria Lara und Ralph Fiennes.[6] Für die Produktion zeigen sich die beiden mittlerweile verstorbenen Oscar-Preisträger Anthony Minghella und Sydney Pollack, sowie The Hours-Produzent Scott Rudin und Robert Fox verantwortlich. Die Weltpremiere fand am 3. Dezember 2008 im New Yorker Ziegfeld Theater statt. Der deutsche Kinostart ist für den 26. Februar 2009 geplant.
Literatur
Primärliteratur
- Bernhard Schlink: Der Vorleser. Zürich: Diogenes Verlag 1997. ISBN 3-257-22953-4
- Bernhard Schlink: Der Vorleser. Hrsg. von Manfred Heigenmoser. Stuttgart: Reclam-Verlag 2005. ISBN 3-15-016050-2
Sekundärliteratur
- Norbert Berger: Bernhard Schlink. Der Vorleser. Mit Materialien zum Film. Zeitgenössische Romane im Unterricht. Unterrichtshilfen mit Kopiervorlagen für die Sekundarstufe II. Donauwörth (Auer) 2009.
- Juliane Köster: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Interpretation. München: Oldenbourg-Verlag 2000. ISBN 3-486-88745-9
- Ekkehart Mittelberg: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Unterrichtsmodell mit Kopiervorlagen. Berlin: Cornelsen Verlag 2004. ISBN 3-464-61634-7
- Micha Ostermann: Aporien des Erinnerns. Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser. Bochum: Verlag Marcel Dolega 2004. ISBN 3-937376-03-8
Weblinks
- Projekt-Webseite einer Schulklasse zum Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink
- Der Vorleser im ZUM-Wiki
- Ausarbeitungen eines Deutsch-Grundkurses zu Bernhard Schlinks Der Vorleser
- „Der Vorleser“ für Schüler
- Multimediales Unterrichtsprojekt zum „Vorleser“
Einzelnachweise
- ↑ SZ-Reportage zu Hermine Ryan
- ↑ vgl. „Der Vorleser“ wird verfilmt bei Focus Online
- ↑ vgl. Zeitreise nach Görlitz bei welt.de
- ↑ vgl. Kate Winslet ersetzt Nicole Kidman bei welt.de
- ↑ vgl. Gestern letzter Dreh für „Der Vorleser“. In: Sächsische Zeitung, 15. Juli 2008, S. 13
- ↑ vgl. Drehstart für „Der Vorleser“ mit Nicole Kidman bei welt.de