Reduktionismus
Unter Reduktionismus werden eine Reihe verwandter Gedankenmodelle und philosophischer Theorien gefasst, nach denen sich (grob gesagt) die Eigenschaften "komplexer Dinge" auf die Eigenschaften "einfacher Dinge" reduzieren oder zurückführen lassen. Diese "komplexen Dingen" können physikalische Objekte, Phänomene oder Systeme mit vielen Objekten sein.
Die Gegenposition zum Reduktionismus ist der Holismus, der annimmt, dass Objekte Eigenschaften besitzen, die sich nicht aus den Eigenschaften der Teile des Objekts verstehen lassen.
Ausprägungen
Verschiedene Disziplinen benutzen den Begriff mit unterschiedlicher Zielsetzung.
- Der ontologische Reduktionismus nimmt an, dass alles aus kleineren Teilen, die einfachen Regeln gehorchen, aufgebaut ist. Diese Vorstellung findet sich auch im Monismus und in der Idee der Monaden.
- Der linguistische Reduktionismus nimmt an, dass eine Grundmenge sprachlicher Konstrukte ausreicht, alle denkbaren Aussagen auszudrücken.
- Der methodologische Reduktionismus ist die Vorstellung, dass ein Phänomen durch die einfachst mögliche Erklärung beschrieben wird. Occams Rasiermesser bezeichnet diesen Zugang zur Erklärungs- und Theoriebildung.
- Der theoretische Reduktionismus betrachtet die Entwicklung neuer Theorien aus alten. Er nimmt an, dass neue Theorien alte nicht pauschal ersetzen, sondern eher Verfeinerungen oder Reduktionen älterer Theorien sind.
- Der wissenschaftliche Reduktionismus bezeichnet eine wissenschaftstheoretische Position, nach der es prinzipiell möglich ist die Begriffe beliebiger Einzelwissenschaften durch die Begriffe einer "Basiswissenschaft" zu definieren, siehe Einheitswissenschaft.
Beispiele
Die Akzeptanz oder Ablehnung des Reduktionismus hängt stark von dem Bereich ab, auf den sie angewendet wird. Insbesondere Versuche, tierisches und menschliches Verhalten reduktionistisch zu erklären, wird von Kritikern als unzureichend angesehen. Die Reduktion des Lebens auf materielle Prinzipien und die Erklärung von Religion durch Methoden der Anthropologie oder Soziobiologie sind auch aufgrund der sich ergebenden Schlußfolgerungen umstritten.
Chemie
Ein einfaches Beispiel wissenschaftlichen Reduktionismus ist der Übergang von der Atomphysik zur Chemie. Mit dem Verstehen des Wasserstoffatoms ließen sich Physiker zu der Annahme verleiten, chemische Moleküle seine jetzt "verstanden", da ja die Bausteine der Moleküle, die Atome, verstanden seien.
Tatsächlich lieferten die Kenntnisse vom Aufbau und Verhalten der Atome wertvolle Beiträge zur Chemie. Gleichzeitig beschreibt die Chemie jedoch Phänomene, die über die der Atomphysik hinausgehen. Beide Disziplinen bleiben also eigenständig.
Der Reduktionismus behauptet letztendlich, dass jedes chemische Phänomen zumindest prinzipiell aus den Eigenschaften der beteiligten Atome abgeleitet werden kann. Es ist demnach also nicht notwendig, neue grundlegende Gesetze zu finden, die spezifisch für die übergeordnete Disziplin Chemie sind.
Diskussion
Vereinfacht gesprochen versucht eine Wissenschaft, für jedes Phänomen X eine Erklärung aus dem Bereich ihrer Grundlagen Y zu finden. Zumindest im Prinzip wird dann die Frage gestellt, ob sich X aus Y ableiten läßt. Aufgrund der komplexität vieler Phänomene nimmt die Fragestellung oft die Gestalt eines Gedankenexperiments an.
Dieser Ansatz kann zu szientistischen wissenschaftlichen Weltanschauungen wie etwa dem Historischen Materialismus, dem Evolutionismus oder dem Psychologismus führen, die jedem anderen Verständnis des erklärten Phänomens prinzipiell die Wissenschaftlichkeit absprechen.
Als Alternative wird die Phänomenologie angeboten, die argumentiert, dass auch ein nicht-reduktionistischer Zugang "zu den Sachen selbst" (Edmund Husserl) eine strenge Wissenschaft begründen kann. Bezeichnend für deren Ansatz wäre demnach die Form: X ist nichts anderes als X, die bereits im Spätmittelalter mit der Non-aliud-Lehre des Nikolaus von Kues zum Tragen kam.
Zitate
- "Und ich wiederhole das zuvor Gesagte, daß nämlich die Ablehnung des Reduktionismus kein Angriff auf die Analyse ist. Kein komplexes System kann ohne sorgfältige Analyse verstanden werden. Doch die Wechselwirkungen zwischen den Bestandteilen müssen ebenso untersucht werden wie die Eigenschaften der einzelnen Komponenten." -- Ernst Mayr
- Francis Crick hat nichts anderes als "das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen" in Betracht gezogen, um darzulegen, "Was die Seele wirklich ist" (ISBN 3-499-60257-1).