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Geschichte der Juden in der Wiener Leopoldstadt

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Orthodoxe Juden am Karmeliterplatz, 1915

Dieser Artikel behandelt das Leben der jüdischen Bevölkerung in Wien-Leopoldstadt, beginnend zur Gründung des Judenghettos im „Unteren Werd”.

Ghetto im „Unteren Werd”

Das Ghetto im Unteren Werd in der heutigen Leopoldstadt wurde 1624 gegründet und existierte bis 1670. Zuvor hatten die Juden in Wien seit dem 12. Jahrhundert unter dem dort herrschenden Antisemitismus gelitten. Immer dann, wann Geld von der Stadt Wien gebraucht wurde, hatte die jüdische Bevölkerung im Ghetto Beitragszahlungen zu leisten. Das Ghetto wurde infolge einer Siedlungskrise nach dem Dreißigjährigen Krieg gegründet.[1]

Schon im 16. Jahrhundert gab es große Unterdrückung von Juden, deren Besitz zu dieser Zeit enteignet wurde, worauf die Idee entstand, diese im „Unteren Werd” anzusiedeln. Im Jahr 1626 wurde eine Heide hinter dem Karmeliterkloster an die jüdische Gemeinde verpachtet. Dieses Areal liegt im heutigen Karmeliterviertel. [1]

Bis 1669 wurden 136 Häuser auf dem Gebiet errichtet, darunter 2 Synagogen („Alte Synagoge” und „Neue Synagoge”). Außerdem gab es ein Gemeindehaus, ein Krankenhaus, ein Wachhaus und mehrere Bildungszentren. Außerhalb des Ghettos waren die Ärzte sehr angesehen, auch das Studierhaus erhielt Anerkennung. Im Laufe der Zeit kam es aufgrund schlechter sanitärer Verhältnisse zu Massenerkrankungen an Pest, Typhus und Schwarzen Blattern, außerdem kam es zur Verfolgung durch Christen. [1]

Nach einem vom christlichen Volk als „Ritualmord” bezeichneten Verbrechen artete die Situation im Ghetto aus: mehrmalige Überfälle, Verwüstungen vieler Anlagen und Brände schockierten die jüdische Bevölkerung. Ab 26. Juni 1668 wurde den im Ghetto lebenden Juden befohlen, das Gebiet nicht mehr verlassen zu dürfen. Nach der Austreibung von Juden aus der Leopoldstadt am 25. Juli 1670 schuf Kaiser Leopold I. eine neue Kirche an Stelle der „Neuen Synagoge” in der Großen Pfarrgasse.[2]

Tolerierung von Juden und Kultureller Aufschwung

Der Leopoldstädter Tempel, nach Rudolf von Alt
Innenansicht des Türkischen Tempels, nach einem Aquarell von Franz Reinhold 1890

Leopold I. hielt sich nach einigen Jahren nicht mehr an sein eigenes „Judenverbot”. Einige Jahre vor seinem Tod berief er die Hoffaktoren Samuel Oppenheimer und Samson Wertheimer zurück in die Stadt Wien. Um 1700 durften zehn privilegierte jüdische Familien in Wien leben.[3]

1764 erließ Maria Theresia eine Judenordnung, allerdings wurden osmanischen Sepharden mehr Rechte zugesprochen, da sie erst von Spanien ins Osmanische Reich und dann nach Österreich kamen und sie somit als Untertanen des Sultans keinen Beschränkungen unterlagen.[3]

Mit der Schaffung des Toleranzpatents 1782 von Joseph II. wurde auch nichtkatholischen Bürgen Gleichberechtigung gewährleistet. Nach der Märzrevolution 1848 fielen sämtliche Arbeits- und Wohnbeschränkungen. In dieser Zeit war bereits ein Drittel der Einwohner der Leopoldstadt jüdisch. Der Grund dafür war, dass mit der neuen Nordbahn auch Juden aus anderen Teilen der Monarchie nach Wien kamen. Ein großer Teil des jüdischen Bürgertums zog in die Praterstraße, Arbeiter und Handwerker wohnten in Seitengassen.[3]

1858 wurde die größte Synagoge Wiens, der „Große Tempel” eingeweiht. In der Malzgasse (ehemals Bräuhausgasse) befand sich ab 1862 der „Israelische Tempel- und Schulverein Hadas”. Dieser stellte eine private Ganztagsschule dar, in der besonderer Wert auf den Religionsunterricht gelegt wurde.[3]

In weiterer Folge entstand 1887 der „Türkische Tempel”, 1893 die „Polnische Schul”, sowie 1913 der „Kaiser-Franz-Josephs-Huldingungstempel”, die allesamt als Betsäle dienten. Auch Kaffeehäuser wurden an Feiertagen als Gebetsort verwendet, da die Tempel zumeist überfüllt waren.[3]

Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit

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Das „Cafe Sperlhof” in der Großen Sperlgasse im Karmeliterviertel wurde als jüdischer Künstlertreffpunkt gegründet

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 flüchteten Massen von Juden nach Wien. Die Zahl der jüdischen Flüchtlinge betrug je nach Schätzung zwischen 50.000 (damalige Polizeiangaben) und 70.000 (laut Arbeiterzeitung), von denen etwa 25.000 in Leopoldstadt blieben.[4] Es bildeten sich mehrere Vereine zur Unterstützung der Flüchtlinge. Der große Zuzug durch Juden stellte sich nach einigen Jahren als Problem heraus. Landeshauptmann Albert Sever ordnete an, alle jüdischen Flüchtlinge abzuschieben. Dies wurde nicht durchgeführt, allerdings bildeten sich immer größere antisemitische Strömungen innerhalb Wiens.[5]

Nach dem ersten Weltkrieg lebten 180.000 Juden in Wien, ein Drittel davon in Leopoldstadt, was fast die Hälfte der Bezirksbevölkerung ausmachte. Besonders auf der Ferdinandstraße lebten fast nur mehr Sepharden (darunter die spätere Ehefrau des Schriftstellers Elias Canetti). Im Verlauf der 1920er-Jahre fand eine soziale Zweiteilung unter dem jüdischen Volk statt: auf der einen Seite befand sich das reiche Bürgertum, auf der anderen Seite stand die ärmere Bevölkerungsschicht, die zumeist Schlosser, Bäcker oder gar Arbeitslose bildeten. In der armen Bevölkerungsschicht entstand der Wunsch nach einem eigenen jüdischen Staat, nach dem sich auch das „Stadtkibbuzim” richtete.[5]

Mit der Politik der im „Roten Wien“ vorherrschenden Sozialdemokratischen Arbeiterpartei unzufrieden, bildete sich die „Jüdische Partei”, die bei der Gemeinderatswahl 1927 antrat. Als die Sozialdemokraten die Wahl allerdings gewannen, wurde Leopoldstadt einer der ersten Bezirke, in dem sich nationalsozialistische Gruppen formierten. 1929 zerstörten Nazis das „Café Produktenbörse”, welches oft von Juden besucht wurde. Besonders grauenhaft zeigte sich der Antisemitismus, als das „Café Sperlhof” während eines jüdischen Gottesdienstes vollkommen verwüstet wurde.[5]

„Anschluss” und Zweiter Weltkrieg

→ Hauptartikel: Anschluss (Österreich) und Österreich in der Zeit des Nationalsozialismus

Nachdem Österreich am 13. März 1938 an das nationalsozialistische Deutsche Reich angeschlossen war, fand am 9./10. November die so genannte „Reichskristallnacht” statt, von der auch der Bezirk Leopoldstadt betroffen war. Viele jüdische Einrichtungen und Kultstätten wurden vollkommen zerstört. Besonders gravierend waren die Auswirkungen auf die Synagogen: der wichtigste Tempel in der heutigen Tempelgasse wurde durch die Pogrome vernichtet. Heute befindet sich am Desider-Friedmann-Hof in der Ferdinandstraße eine Gedenktafel, die an die Verwüstungen erinnert.[5]

Zwischen 1938 und 1945 wurde die jüdische Schule in der Kleinen Sperlgasse geschlossen und alle Kinder in Konzentrationslager abtransportiert. In der Förstergasse 7 schafften es neun Juden in einem Keller zu überleben, bis sie am 12. April 1945 – kurz vor der Befreiung Wiens – von der SS ermordet wurden.[5]

Nachkriegszeit

Die "Steine der Erinnerung" zum Gedenken an die ermordeten Schauspieler der Praterstraße

Heute leben nur mehr 3000 Juden in Leopoldstadt. Vor 1938 waren es dort insgesamt 60.000, also das 20-fache. Einige überlebten den Krieg noch im Konzentrationslager oder im Untergrund, der Großteil der in Wien ansässigen Juden sind Zuwanderer aus anderen Ländern, so zum Beispiel aus Ungarn, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion.[5] "Steine der Erinnerung", ähnlich wie die Stolpersteine in Deutschland, wurden an verschiedenen Orten im zweiten Bezirk gesetzt als Mahnmal.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b c Helga Gibs: Leopoldstadt – Kleine Welt am großen Strom. Mohl Verlag, Wien 1997, ISBN 3-900272-54-9, S. 10–12.
  2. Helga Gibs: Leopoldstadt – Kleine Welt am großen Strom. Mohl Verlag, Wien 1997, ISBN 3-900272-54-9, S. 12–14.
  3. a b c d e Helga Gibs: Leopoldstadt – Kleine Welt am großen Strom. Mohl Verlag, Wien 1997, ISBN 3-900272-54-9, S. 124–127.
  4. Ruth Beckermann: Die Mazzesinsel. In: Ruth Beckermann (Hrsg.): Die Mazzesinsel – Juden in der Wiener Leopoldstadt 1918-38. Löcker Verlag, Wien 1984, ISBN 978-3854090687, S. 16 f.
  5. a b c d e f Helga Gibs: Leopoldstadt – Kleine Welt am großen Strom. Mohl Verlag, Wien 1997, ISBN 3-900272-54-9, S. 128–133.

Literatur