Visa-Affäre

Als Visa-Affäre werden die Ursache und Umstände der seit Anfang 2005 bekanntgewordenen Missbrauchsfälle bei der Vergabe von Visen in verschiedenen Botschaften und Konsulaten, insbesonders in Kiew, genannt. Staatssekretär im Auswärtigen Amt a.D. Ludger Volmer und Außenminister Joschka Fischer wird vorgeworfen, durch Verfahrens-Erlasse zur Visa-Vergabe indirekt illegalen Menschenhandel gefördert haben.
Übersicht
Auf Antrag der CDU/CSU hat der Deutsche Bundestag einen Untersuchungsausschuss unter Leitung des Bundestagsabgeordneten Hans-Peter Uhl dazu eingesetzt. Uhl ist dabei nicht unumstritten, da seine Unparteilichkeit in Frage gestellt wurde. So hatte Uhl Vollmer als "einwanderungspolitischen Triebtäter" bezeichnet. Fischer und Bündnis 90/Die Grünen sowie einige Medien argumentieren, dass Erleichterungen für die Einreise nach Deutschland aus Osteuropa schon von der konservativen Vorgängerregierung vorgeschlagen wurden, und dass auch aus der CDU/CSU immer wieder Forderungen kommen, die Einreise - etwa für Geschäftsleute aus der Ukraine - zu erleichtern. Solche Forderungen seien auch aus dem parlamentarischen Raum (Bundestagsabgeordnete) und aus der Wirtschaft gekommen. Petitionen an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hätten ein Handeln nahe gelegt. Die Grünen warfen der CDU/CSU vor, mit dem Untersuchungsausschuss allein vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen eine Diffamierungskampagne zu führen, um ihnen, Fischer und der Bundesregierung auf Kosten des Ausländerechts zu schaden.
Umgekehrt wird den Grünen von Union und einigen Medien vorgeworfen, die Misstände herunterzuspielen und unsachgemäß auf die Kritik zu reagieren. Mittlerweile räumt Joschka Fischer öffentlich Fehler ein. Er habe das Thema nicht "auf dem Radar" gehabt und daher nicht schnell und umfassend genug reagiert.
Ob die Visa-Politik tatsächlich zu einem Anstieg der Kriminalität und des illegalen Menschenhandels geführt hat, ist bisher unklar. Ein Effekt der Visa-Affäre ist ein deutliches Absinken der Popularität sowohl Fischers als auch der Grünen in den Umfragewerten.
Hintergründe
1999
Durch die hohe Anzahl der Antragstellenden und mangelnde Ausstattung der Konsulte und Botschaften bildeten sich schon seit einigen Jahren lange Schlangen vor der Botschaft. Innerhalb der Botschaft sorgte der BGS für Ordnung, außerhalb dagegen ukrainische Sicherheitskräfte. Antragsteller berichteten, dass diese Sicherheitskräfte Geld von den Antragstellern verlangten, damit sie unbehelligt blieben. Sie verlangten zwischen 100-500 DM je nach Platz in der Warteschlange. Daraus entwickelte sich mit den Jahren ein regelrechtes System ("Warteschlangen-Mafia"). Vor den Augen der machtlosen Botschaftsangehörigen hätten Mafia-Gestalten entschieden, wer gegen 50 Euro ein oder zwei Schritte in der Schlange vor der Visa-Stelle vorrücken durfte, so Fritz Grützmacher (pensionierter Visa-Bescheider). Ein Journalist fand heraus, dass die durchschnittliche Bearbeitungszeit für Visa, die in der Ukraine ausgestellt wurden, nur wenige Minuten betragen haben muss. 1999 stellte die Deutsche Botschaft in Kiew (Ukraine) alleine ca. 150.000 Dreimonats-Einreise-Visa aus. In den Jahren 2000 (ca. 210.000), 2001 (ca.300.000) und 2002 (ca.230.000) gab es eine signifikant erhöhte Zahl von Visaausstellungen in Kiew.
2000
Im März 2000 trat der so genannte Volmer-Erlass in Kraft. Nicht mehr bei jedem Zweifel an der Rückkehrbereitschaft des Antragstellers sollte eine Ablehnung erfolgen. Hielten sich die sonstigen Umstände für oder gegen eine Zweifel an einer notwendigen Rückkehrbereitschaft (andere meinen an einer Visa-Erteilung) die Waage, so der Geist der neuen Regelung, solle für die Reisefreiheit entschieden werden. Als Illustration war der der Hinweis: "In dubio pro libertate" - Im Zweifel für die Reisefreiheit" zu verstehen. Das war der Kern der Regelung, den Botschafter a.D. Ernst-Jörg von Studnitz polemisch als "Umsetzung grüner Ideologie in praktische Politik" 15 Jahre nach Fall des so genannten eisernen Vorhangs bezeichnete. Befürwortet war der Erlaß von Mitgliedern aller Parteien, sowie dreier Bundestagsausschüsse (Menschenrechtsausschuss, Petitionsausschuss und Auswärtiger Ausschuss) worden, aus Gründen der Menschlichkeit. Motiviert worden war der Erlaß durch Mißstände, die Staatsminister a.D. aufgefallen waren, so die Versagung eines Visums für einen Patienten, der in Deutschland an einem Hirnturmor operiert werden mußte. In der Berichterstattung der Zeitungen war von größerer Kulanz (FAZ) oder von liberalerer Visaerteilung (Tagesspiegel) die Rede. Nach der alten Regelung war es zu umfangreichen Beschwerden im Petionsausschuss und aus dem parlamentarischen Raum gekommen. Teil dieses Erlasses waren zwei ältere Erlasse von 1999 sowie Regelungen zur Reisekostenversicherung, die noch unter der Regierung Kohl von den Ministern Kanther und Kinkel verantwortet waren. Insbesondere diese Teile des neuen Erlassen wurden dann massenhaft missbraucht. Ursprünglich waren sie im Zusammenhang mit Reisewilligen aus Polen, vom Auswärtigen Amt angewandt. In Kombination mit menschenfreundlicheren Regelungen des Volmer-Erlasses konnten sie leicht mißbraucht werden. Ex-Staatsminister Volmer stellte bei seiner Zeugenbefragung im Untersuchungsausschuss klar, dass aus aussenpolitischen Gründen nicht nur gegenüber der Ukraine sondern auch Polen, eine Verlängerung des Eisernen Vorhangs nicht möglich gewesen wäre. Die Verweigerung von Visa hätte größeren Schaden verursacht als die Schäden, die durch missbrauchte Visavergabe entstanden sind. Dem wurde im Untersuchungsausschuß der sehr niedrige Lebensstandard u.a. in der Ukraine und in Rußland entgegengehalten.
Bereits vor dem Erlass, noch unter der Regierung Helmut Kohl, war im Rahmen des Schengener Abkommens als Ausnahmeverfahren das sogenannte Reisebüroverfahren eingerichtet worden. Dadurch war es möglich, ein Visum über ein Reisebüro zu beantragen. Auf diese Weise sollte die Warteschlangen-Mafia bekämpft werden. Doch es tauchten auch bei diesem Verfahren einige Missbrauchsfälle auf. So wurde der Geschäftsführer eines Neu-Ulmer Reisebüros zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, nachdem nachgewiesen wurde, dass er Gruppenreisen mit fingierten Programmen beantragt und im Massenverfahren an die deutsche Botschaft in Kiew weitergeleitet hatte; das Gericht stellte zudem fest, dass die Eingereisten umgehend untertauchten, in andere Länder weiterreisten oder der Prostitution nachgingen. Sowohl der BGS als auch das BKA wandten sich später gegen dieses Verfahren der Visaerteilung.
Am 9.März 2000 schrieb Bundesinnenminister Otto Schily an Joschka Fischer, er sehe den Volmer-Erlass im Widerspruch zum Ausländergesetz und dem Abkommen von Schengen. Im Sommer 2000 zeigten sich auch andere Innenminister besorgt, die Sorgen wurden vom Auswärtigen Amt aber in einem Gespräch der Minister geklärt, weswegen Innenminister Schily nicht weiter intervenierte. Mehrere Warnungen durch frühere Innenminister an das Auswärtige Amt und die früheren Außenminister Genscher und Kinkel wurden von diesen schon damals nicht beachtet.
2001
Am 2. Mai 2001 wurde vom Auswärtigen Amt der Reiseschutzpass der Reiseschutz AG des privaten Unternehmers Kübler zugelassen. An die Auslandsvertretungen erging die Anordnung, diesen neben anderen zu akzeptieren. Diese Reiseschutzversicherung gab den Reisenden die Möglichkeit sich gegen eventuelle Risiken beim Reisenden zu versichern. Für solche Risiken(z.B. Krankheit, Kosten für Rückreise) musste sich die einladende Person verbürgen. Da sie dies oft nicht konnte, wurde die Idee einer Versicherung aufgenommen. Die Allianz AG trat bei diesem Reiseschutzpass als Versicherungsunternehmen im Hintergrund auf. Das Bundeskriminalamt unterrichtete das Innenministerium über die angeblich große Rolle, die die Reiseschutzversicherung bei der Schleusungskriminalität gespielt haben soll. Daraufhin akzeptierte das Auswärtige Amt diesen Reiseschutzpass ab etwa September 2002 nicht mehr. Es wird davon ausgegangen, dass bis dahin in der Ukraine ca. 35.000 Stück verkauft wurden. Eine solche Reiseschutzversicherung war auch der Carnet de Tourist des ADAC, welcher bereits seit 1995 zugelassen war und sich insgesamt zwischen 120.000 und 150.000 mal verkaufte. Daneben gab es noch zwei weitere Anbieter solcher Reiseschutzversicherungen (ITRES GmbH und HanseMerkurReiseversicherung AG) mit geringeren Verkaufszahlen. Seit Oktober 2003 werden keine Reiseschutzversicherungen als Bonitätsnachweis akzeptiert.
Im Juli 2001 erklärte das Auswärtige Amt das Reisebüroverfahren zum 1. Oktober 2001 für beendet. Künftig musste jeder Antragsteller wieder persönlich bei der Visa-Stelle vorsprechen.
In einem Verfahren gegen Anatoli B. meinte die Kölner Strafkammer, der Volmer-Erlass, das Reisebüroverfahren und die Reiseschutzpässe hätten zu Masseneinschleusungen von Personen geführt. Diese Ansicht ist zumindest sehr umstritten.
2002 - 2004
Ab 29. Januar 2002 durften per Erlass des Auswärtigen Amtes Reiseschutzversicherungen auch im Ausland direkt verkauft werden. Die Situation vor der Vertretung in Kiew spitzte sich zu. Fliegende Händler bieten die Reiseschutzversicherung für 1000 Dollar an.
Am 08. Februar 2002 meldete der Botschafter in Kiew, dass die Botschaft von Antragstellern mit Reiseschutzpässen "überrollt" werde.
Ab April 2003 wurden Reiseschutzversicherungen dann nicht mehr anerkannt.
28. Oktober 2004: Der Volmer-Erlass vom März 2000 wird revidiert. Die Bonität eines Einladenden muss wieder geprüft werden.
Am 20. Januar 2005 fand die erste Sitzung eines Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages (initiiert von der CDU/CSU-Fraktion) zu dem Thema statt. In den Ausschuss soll u.a. auch Bundesaußenminister Joschka Fischer aussagen. CDU-Obmann ist Eckart von Klaeden, der Joschka Fischer 2001 schon einmal in einem Untersuchungsausschuss gegenüberstand. Geleitet wird der Ausschuss vom Bundestagsabgeordneten Hans-Peter Uhl.
Am 12. Februar 2005 trat Ludger Volmer als außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen und seinem Sitz im Auswärtigen Ausschuss zurück. Ebenso lässt er seine Mitarbeit bei der Synthesis GmbH ruhen. Ihm war Korruption vorgeworfen worden, in Zusammenhang mit ungeklärten Zahlungen der Bundesdruckerei, die an den Reisepässen verdient hat. Im Untersuchungsausschuss ist Volmer zu diesem Thema keine Frage gestellt worden.
Medienberichterstattung
Erstmals in der Parlamentsgeschichte des Deutschen Bundestags werden Sitzungen eines Untersuchungsausschuss seit dem 21. April 2005 unter anderem mit den Befragungen von Bundesaußenminister Joschka Fischer (25.04.2005) und Staatsminister a.D. Ludger Volmer sowie der Uno-Botschafter und ehemalige beamtete Staatssekretär Günter Pleuger (beide 21.04.2005) übertragen.
Das Parlamentsfernsehen stellt den Fernsehsendern kostenlos die Übertragung zur Verfügung. Der Dokumentationskanal von ARD und ZDF, Phoenix, überträgt die Sitzung durchgehend live, die Nachrichtensender n24 und n-tv zeitweise.
Die Premiere war für die Nachrichten- und Dokumentationskanäle erfolgreich. Bei Phoenix sahen im Schnitt 230.000 Zuschauer die über 14 Stunden dauernde Übertragung, der Dokumentationskanal von ARD und ZDF erreicht mit 1,6 Prozent Marktanteil (Jahresdurchschnitt 0,5 bis 0,6 Prozent) gute Quoten, auch n-tv zeigte sich mit zufrieden mit 160.000 Zuschauern und 3,0 Marktanteil (sonst um 0,5 Prozent) in der Zeit der Untersuchungsauschuss-Übertragung, ebenso N24.
Siehe auch
Weblinks
- Große Anfrage der CDU/CSU mit Antwort der Bundesregierung – PDF-Dokument
- Union beantragt Untersuchungsausschuss Visa-Kriminalität – CDU/CSU-Bundestagsfraktion
- Visa-Untersuchungsausschuss – Worum geht es? Vorwürfe und Antworten. – Bündnis 90/Die Grünen-Bundestagsfraktion
- „Organisierte Kriminalität“ – Die Visa Affäre – R-Archiv
- Visa Affäre – Ursache eines Polit-Thrillers – Telepolis
- Chronologie der Visa-Affäre – www.tagesschau.de
- Wörterbuch zum Untersuchungsausschuß – www.faz.net
- Live-Übertragung des Untersuchungsausschusses über den Sender Phoenix
- Live-Pbertragung des Untersuchungsausschusses über das Parlamentsfernsehen