Klassische Konditionierung

Klassische Konditionierung ist eine von dem russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow begründete Lerntheorie, die besagt, dass einem natürlichen, meist angeborenen, sogenannten unbedingten Reflex durch Lernen ein neuer, bedingter Reflex hinzugefügt werden kann: Gegeben sei ein unkonditionierter Reiz (unconditioned stimulus, kurz US), der als Reflex eine unkonditionierte Reaktion (UR) auslöst. Bietet man nun vor dem US mehrfach einen bislang neutralen Reiz (NS) dar, so wird dieser zum konditionierten Reiz (CS). Er löst nun ebenfalls eine Reflexreaktion (die konditionierte Reaktion CR) aus, die der unkonditionierten Reaktion UR meist sehr ähnlich ist.
Die Annahmen und Techniken des klassischen Konditionierens können auch angewendet werden, um Ängste, Zwangshandlungen oder angstähnliche Symptome zu behandeln. Bekannt sind solche Techniken als Gegenkonditionierung, Aversionstherapie, systematische Desensibilisierung und „Flooding“.
Begriffe
deutsch | englisch | Kürzel | Erklärung |
---|---|---|---|
Unbedingter Reiz | unconditioned stimulus | US | Reiz, der ohne vorangegangenes Lernen eine Reaktion auslöst |
Unbedingte Reaktion | unconditioned response | UR | angeborene Reaktion, die durch den US ausgelöst wird |
Neutraler Reiz | neutral stimulus | NS | Reiz, der zu einer unspezifischen Reaktion führt |
Bedingter Reiz | conditioned stimulus | CS | ursprünglich neutraler Reiz, der aufgrund einer mehrmaligen Kopplung mit einem US eine gelernte oder bedingte Reaktion bewirkt |
Bedingte Reaktion | conditioned response | CR | erlernte Reaktion, die durch den CS ausgelöst wird |
Der neutrale/konditionierte Reiz darf anfangs keine spezifische Reaktion hervorrufen, er muss jedoch z.B. eine Orientierungsreaktion (OR) auslösen.
Klassische Konditionierung kurzgefasst:
vor Training | NS → keine spezifische Reaktion; US → UR |
Training | NS + US → UR |
Ergebnis | CS → CR |
Zwei Beispiele
Der Pawlow'sche Hund
- Hauptartikel: Pawlowscher Hund
Das bekannteste Beispiel ist der Pawlowsche Hund, bei dem die Gabe von Futter immer mit einem Glockenton verbunden wurde. Nach mehreren Wiederholungen war schon allein auf den Glockenton hin ein Speichelfluss des Hundes zu beobachten.
Ausgangssituation:
- Summton (neutraler Reiz) führt zu Ohren spitzen (unspezifische Reaktion)
- Futter (unbedingter Reiz) führt zu Speichelfluss (unbedingte Reaktion)
Lernprozess:
- mehrmalige Paarung von Summton + Futter (neutraler Reiz + unbedingter Reiz)
Lernergebnis
- Summton (bedingter Reiz) führt zu Speichelabsonderung (bedingte Reaktion)
Bombenalarm
Durch ein weiteres Beispiel soll der Vorgang des klassischen Konditionierens bei menschlichem Verhalten verdeutlicht werden:
Das Fallen der Bomben im Zweiten Weltkrieg hat bei den Menschen Angst und Schrecken ausgelöst. Meistens jedoch ertönte vor dem Fallen der ersten Bomben der Fliegeralarm. Bei vielen Menschen hat nach der zweiten Wiederholung jener Signalabfolge schon der Fliegeralarm selbst Angst und Schrecken verursacht. „Auch in Friedenszeiten löst die Sirene bei zahlreichen Menschen Angst aus, selbst wenn es sich nur um einen Probealarm handelt.“ (Edelmann, 1996, S. 63) Für den unkonditionierten Menschen würde der Alarm alleine keine signifikante Reaktion auslösen. Erst durch die Kombination von Fliegeralarm und dem Fallen der Bomben wird die Reaktion (Angst und Schrecken) konditioniert. Hätten diese beiden Reize nicht in einem zeitlichen Verhältnis zueinander gestanden, hätte man den Fliegeralarm nicht mit dem Fallen der Bomben assoziiert, und die unbedingte Reaktion, Angst bei dem Ertönen des Heulens zu verspüren, wäre nie zu einer bedingten Reaktion geworden. Das Modell der klassischen Konditionierung ist noch erweitert worden, nachdem festgestellt wurde, dass allein die Vorstellung des Ertönens des Fliegeralarms zu Angstzuständen führte.
Effektive Designs
Die Konditionierung funktioniert am besten, wenn der neutrale und der unbedingte Reiz kurz aufeinander folgen (Kontiguität). In manchen Fällen funktioniert die Konditionierung aber auch, wenn Stunden zwischen beiden Reizen liegen (z. B. Assoziation einer Übelkeitsreaktion mit dem Geschmack von Blaubeeren, weil man am Abend zuvor zufällig Blaubeeren gegessen hat, s. Geschmacksaversion). Entscheidend für die Konditionierung ist jedoch die Kontingenz zwischen CS und US: Die CR wird quasi nur dann ausgebildet, wenn der CS einen Signalcharakter bekommt, da er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den US vorhersagt.
Auch die Anzahl der Wiederholungen der Kopplung von bedingtem (CS) und unbedingtem Reiz (US) hat Auswirkungen auf den Lernprozess. „In der Regel ist also der Erwerb einer bedingten Reaktion (CR) an das wiederholte Zusammenvorkommen dieser beiden Reize gebunden. Dieses Prinzip wollen wir Bekräftigung nennen.“ (Edelmann, 2000, S. 37f.)
Weitere Bedeutung für die Effektivität von Reizen haben ihre Intensität und Salienz.
Dabei müssen unkonditionierte Reaktion und konditionierte Reaktion nicht die gleiche Phänomenologie aufweisen (wie bei Pawlows Experiment). Ein Beispiel dafür ist Schockkonditionierung beim Menschen: Die unkonditionierte Reaktion ist eine Schreckreaktion, verbunden mit einer Erhöhung von Herzfrequenz und Blutdruck. Testet man nach dem Training die konditionierte Reaktion, dann besteht diese jedoch in einer Senkung der Herzfrequenz.
Biologische Stärke
Gelingt die Konditionierung, wird also der Reiz eines bestehenden Reiz-Reaktions-Paares (z.B. Summton -> Kopfdrehen zur Schallquelle) auf eine andere Reaktion (z.B. Speichelfluss) „umgebogen“, so sagt man seit Pawlow, diese neue Reiz-Reaktions-Bindung habe größere biologische Stärke als die alte. Umgekehrt ist ein Reiz nicht als NS/CS für eine neue Reiz-Reaktions-Bindung geeignet, wenn er bereits zu stark an die Auslösung einer anderen Reaktion gebunden ist. Auch die Gegenkonditionierung gelingt nur, wenn der neue US stärker seine (neue, erwünschte) Reaktion auslöst, als der alte US seine (nunmehr zu löschende) Reaktion.
Bedingte Hemmung
Wenn der bedingte Reiz (CS) die gleiche Reaktion hervorruft wie der unbedingte Reiz (wie in den Beispielen), spricht man von exzitatorischer Konditionierung. Gibt es einen weiteren Reiz, nach dem zuverlässig kein US folgt, wird dieser vormals neutrale Reiz zu einem inhibitorischen bedingten Reiz (CS-), der dafür sorgt, dass die bedingte Reaktion schwächer ausfällt, als bei dem exzitatorischen bedingten Reiz (CS+), oder gar nicht auftritt (sogenannte bedingte Hemmung oder bedingte Inhibition). Ist der CS+ ein aversiver Reiz, kann der CS- auch als Sicherheitssignal aufgefasst werden.
Extinktion (Löschung)
- Hauptartikel Extinktion (Psychologie)
Wird der bedingte Reiz (CS) wiederholt ohne nachfolgenden unkonditionierten Reiz (US) dargeboten, so wird die Reaktion (CR) immer schwächer und bleibt schließlich ganz aus: Der CS hat seinen Signalcharakter für den US verloren, diesen Vorgang bezeichnet man als Extinktion (Löschung). Wird jedoch der Vorgang mit dem unkonditionierten Reiz (US) zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt, so tritt häufig erneut die konditionierte Reaktion auf (spontane Erholung), wenn auch in geringerer Intensität als vor der ersten Extinktion.
Aus Pawlows Theorie folgt streng genommen, dass ein einmal gelernter Reflex niemals komplett gelöscht werden kann. Er wird durch das Ausbleiben des US lediglich schwächer. Diese Hemmung ist zunächst nicht dauerhaft, dadurch kommt es zum Phänomen der spontanen Erholung des Reflexes. Der Begriff Extinktion wurde von Pawlow selbst nie verwendet; er schrieb stets von Hemmung und Abschwächung. In der englischen Übersetzung wurde daraus extinction. Da Pawlows Werke dann aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurden (statt direkt aus dem Russischen), etablierte sich der Übersetzungsfehler auch im Deutschen als Fachausdruck (Extinktion oder Löschung).
„Emotional-motivationale Reaktionen sind häufig sehr widerstandsfähig gegenüber Löschung“ (Edelmann, 2000, S. 38). In einem Beispiel geht Edelmann auf diesen Spezialfall ein: „Kinder und auch Erwachsene empfinden zuweilen auch vor relativ kleinen Hunden Angst, obwohl unangenehme Erlebnisse mit solchen Tieren überhaupt nicht mehr erinnert werden können.“ (Edelmann, 2000, S. 38)
Gegenkonditionierung
Wurde ein bedingter Reiz (CS) erlernt, sodass er zuverlässig eine bedingte Reaktion (CR1) auslöst, soll diese Assoziation in der Gegenkonditionierung wieder gelöst werden. Dazu paart man nun den CS mit einem neuen unbedingten Reiz, der eine zur CR1 gegengerichtete Reaktion CR2 auslöst. War also die CR1 aversiv, ist die CR2 appetitiv und umgekehrt. Hat z.B. eine Ratte einen Ton (CS) als Prädiktor für Stromreize (US1) erlernt, sodass der Ton alleine bereits eine Angstreaktion (CR1) auslöst, wird in der Gegenkonditionierung der Ton solange mit einem appetitiven Reiz (US2, z.B. Futtergabe) gepaart, bis der Ton die Angstreaktion nicht mehr auslöst. Zur Anwendung der Gegenkonditionierung in der Psychotherapie siehe Gegenkonditionierung.
Reiz-Generalisierung
Wenn eine konditionierte Reaktion auf einen bestimmten Reiz gelernt worden ist, kann es vorkommen, dass ähnliche Reize die gleiche Reaktion auslösen. Dabei gilt: Je ähnlicher der Neureiz dem konditionierten Reiz, desto stärker werden die Reaktionen ausfallen. Paradigmatisch ist das Little-Albert-Experiment von Watson und Rayner (1920), bei dem der kleine Albert seine (konditionierte) Angst vor Ratten auf einen Hasen, einen Hund, eine Nikolausmaske, Baumwollbüschel und einen Pelzmantel ausdehnte. Hat ein Kind zum Beispiel Angst vor Ärzten, kann diese Angst generalisiert werden auf Menschen, die weiße Kittel tragen. Nach ICD-10 klassifiziert man solche Symptome bei krankhafter Ausprägung als Generalisierte Angststörung (Teilbereich Sonstigen Angststörungen).
Reiz-Differenzierung / Reiz-Diskriminierung
Die Reiz-Differenzierung stellt das genaue Gegenteil zur Reiz-Generalisierung dar. Hierbei ist der Handelnde in der Lage, zwei bedingte Reize (CS) voneinander zu unterscheiden. So wird einer der beiden bedingten Reize gelöscht, während der andere bekräftigt wird. Die konditionierte Reaktion tritt nur bei exakt den bedingten Reizen auf, die mit dem unbedingten Reiz gekoppelt wurden. Ein Beispiel aus dem Humanbereich könnte sein, „dass das Kind eine sehr differenzierte bedingte Angstreaktion dem Vater gegenüber zeigt, wenn häufiger nur dieser schimpft“ (Edelmann, 2000, S. 39), jedoch keine generelle Angst vor männlichen Erwachsenen empfindet.
Konditionierung höherer Ordnung
Wird ein neutraler Reiz mit einem unbedingten Reiz gepaart, spricht man von Konditionierung erster Ordnung. Paart man einen neutralen Reiz mit einem bedingten Reiz, sodass der vormals neutrale Reiz ebenfalls die bedingte Reaktion auslöst, ist dies eine Konditionierung zweiter Ordnung. Sie gelingt nur, wenn der zweite CS biologisch schwächer ist als der erste CS. Pawlow konditionierte zunächst das Ticken eines Metronoms als CS für Futter (Konditionierung erster Ordnung). Dann paarte er das Metronom mit dem Anblick eines schwarzen Quadrats (Konditionierung zweiter Ordnung). Nach dieser Lernphase löste das schwarze Quadrat Speichelfluss aus, obwohl es nie mit dem Futter gepaart worden war.
Siehe auch
Literatur
- W. Edelmann: Lernpsychologie. Psychologie Verlags Union, Weinheim, 6. Aufl. 2000. ISBN 978-3-621-27465-4
- James E. Mazur: Lernen und Verhalten. Pearson Verlag, 6. Auflage 2006, ISBN 978-3827372185