Autopoiesis
Der Begriff Autopoiesis bzw. Autopoiese (zu altgr. αυτός, "selbst" und ποιειν, "machen") wurde von den chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana (* 1928 in Santiago de Chile) und Francisco Varela (* 7. September 1946, Santiago de Chile; † 28. Mai 2001, Paris) erfunden.
Begriffserklärung
Autopoiesis tritt als funktionaler Begriff an die Stelle der wissenschaftlich schlecht fassbaren Idee des "Lebens". D.h., ein Ding wird als lebendig eingestuft, sobald es unter den Begriff der Autopoiesis fällt.
Der Autopoiesisbegriff wurde als die Eigenschaft aller Organismen metaphorisiert, sich "aus sich selbst heraus zu schaffen". Was in dieser Form scheinbar blasphemisch bzw. metaphysisch anmutet, bezeichnet jedoch nur die Tatsache, dass Organismen bzw. biologische Systeme zum einen ihre Grenze zur Außenwelt und zum anderen ihre inneren Komponenten selbst produzieren. Dabei stellt sich ein logischer Zirkel ein: Der Organismus produziert seine Grenze. Die Grenze ist es jedoch, die den Organismus von seiner Außenwelt abtrennt und ihn somit erst als etwas von der Umwelt verschiedenes definiert.
Humberto Maturana und Francisco Varela wollten mit diesem Konzept die Tatsache betonen, dass Organismen zwar Substanzen aus der Umwelt in sich aufnehmen, diese dabei jedoch sofort in verwertbare Baustoffe umwandeln; Substanzen dagegen, die für die Selbstreproduktion des Organismus keine Bedeutung haben, werden quasi "ignoriert", vom Organismus gar nicht erst "wahrgenommen".
Das Nervensystem wird von Maturana und Varela als autopoietisches System im autopoietischen System aufgefasst. Jedoch abstrahieren Maturana und Varela an dieser Stelle von dem neurophysiologischen Substrat und behandeln das Nervensystem als operational abgeschlossenes System. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen sind auch unter der Erkenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus bekannt.
Anwendungsfelder
Soziologie
Autopoiesis ist ein Schlüsselbegriff in der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann (*1927, †1998). Luhmann übernahm den Begriff Autopoiesis in den frühen 80er Jahren und übertrug das Konzept auf die Betrachtung sozialer Strukturen.
Seine zentrale These lautet, dass soziale Systeme
- ausschließlich aus Kommunikation bestehen (nicht aus Subjekten, Akteuren, Individuen o.ä.),
- sich in einem ständigen, nicht zielgerichtetem autokatalytischen Prozess quasi aus sich selbst heraus erschaffen - daher bezeichnet Luhmann sie auch als autopoietische Systeme.
Luhmann beobachtete, dass Kommunikation in sozialen Systemen ähnlich abläuft wie die Selbstreproduktion lebender Organismen: Ähnlich wie diese nur Stoffe aus der Umwelt aufnehmen, die für ihre Selbstreproduktion relevant sind, nehmen auch Kommunikationssysteme in ihrer Umwelt nur das war, was zu ihrem "Thema passt", was an den Sinn der bisherigen Kommunikation "anschlussfähig" ist. "Sinn" ist für Luhmann ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität: In der unendlich komplexen Umwelt wird nach bestimmten Kriterien nur ein kleiner Teil herausgefiltert; die Grenze eines sozialen Systems markiert somit eine Komplexitätsdifferenz von außen nach innen. (Statt von einem "autopoietischen System" mit einer "Grenze" spricht Luhmann gelegentlich auch von einer "Form" mit einer "Innen-" und einer "Außenseite", wobei er das sehr abstrakte "Kalkül der Form" des Logikers George Spencer-Brown heranzieht.)
Die Kommunikation bezieht sich nur scheinbar direkt auf die Umwelt. Tatsächlich bezieht sie sich nur auf die von ihr nach ihren eigenen Gesetzen wahrgenommene innere Abbildung der Umwelt, also letztlich auf sich selbst. Diese Selbstbezüglichkeit, auch als Selbstreferenzialität oder Autoreferenzialität bezeichnet, betrachtet Luhmann als typisch für jede Kommunikation und analog zum Phänomen der Autopoiesis in der Biologie. Die Begriffe selbstreferenzielle System und autopoietisches System sind daher in den meisten Fällen austauschbar.
Luhmann definiert soziale Systeme seit der Übertragung des Autopoiesis-Begriffs auf seine Theorie in den frühen 80er Jahren (in der Rezeption auch als Luhmanns "autopoietische Wende" betrachtet) nicht mehr als "offen" (d.h. im direkten Austausch mit der Umwelt), sondern als "autopoietisch geschlossen" bzw. "operativ geschlossen". Die Wahrnehmung der Umwelt durch ein System ist daher laut Luhmann immer selektiv. Ein System kann seine spezifische Wahrnehmungsweise der Umwelt nicht ändern, ohne seine spezifische Identität zu verlieren.
In der Geschlossenheit und ausschließlichen Selbst-Interessiertheit der Systeme unterscheidet sich die Luhmann'sche Systemtheorie grundsätzlich von der strukturfunktionalistischen Systemtheorie Talcott Parsons', laut der in jeder Gesellschaft vier Systeme vorhanden sind, die jederzeit in einem intensiven Austausch miteinander stehen, und zudem jeweils einen eigenen wichtigen Beitrag zur Integration und dem Fortbestehen einer überwölbenden Gesamtgesellschaft leisten (siehe AGIL-Schema).
- "Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammmenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen" (Luhmann 1986: 269).
Typisch für jedes autopoietische System ist laut Luhmann, dass es sich selbst jeweils mithilfe eines zweiwertigen (binären) Codes von der Umwelt abgrenzt und so seine Identität im Prozess der Selbstreproduktion aufrechterhält. Als binäre Codes von einigen gesellschaftlichen Großsystemen schlägt Luhmann vor: Wirtschaft - zahlen/nicht-zahlen; Politik - Macht/keine Macht; Moral - gut/böse; Religion (von Moral zu unterscheiden!) - Immanenz/Transzendenz; u.a.
Da diese Systeme jeweils nach eigenen Gesetzmäßigkeiten arbeiten, hält Luhmann Eingriffs- bzw. Steuerungsversuche eines Systems in ein anderes grundsätzlich für problematisch: Die Wirtschaft kann etwa von der Politik nur sehr bedingt gesteuert werden; die Moral kann die Politik nur bedingt steuern usw. Das Gesetz der Autopoiesis setzt laut Luhmann den Bemühungen einer rationalen, ethischen, gerechten Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse enge Grenzen - daher gilt Luhmann etwa im Vergleich zu Jürgen Habermas oder Ulrich Beck als politisch ausgesprochen konservativ.
siehe auch Systemtheorie, soziales System, Soziologische Systemtheorie und Niklas Luhmann
Literaturwissenschaft / Medien
Als Autopoietisierung bezeichnet man im Journalismus und in der neueren Medientheorie eine Reihe von Phänomenen und Beobachtungen, die auf eine zunehmende Selbstreferentialität des Journalismus' schließen lassen: Der Journalismus bezieht sich immer mehr auf den Journalismus selbst, d.h. auf endogene Quellen, und weniger auf die medienexterne Umwelt.
Folgende Einzelphänomene werden dabei unterschieden:
Literatur
Kognitionsbiologie
- Francisco J. Varela, Humberto R. Maturana, and R. Uribe "Autopoiesis: The organization of living systems, its characterization and a model", Biosystems, Vol. 5 (1974), pp. 187-196. Eine der ursprünglichen Veröffentlichung zum Thema 'Autopoiese'. Enthält auch die Beschreibung eines konkreten Simulationsmodells eines autopoietischen Systems.
- Humberto R. Maturana & Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens; Goldmann Taschenbuch; 1990; ISBN 3442114608
- H. Maturana und F. Varela: Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, Boston: D. Reidel, 1980
- Biology of Cognition (Link auf den Text), 1970
Soziologie
- Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. ISBN 3518282662
- Niklas Luhmann (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag ISBN 3531117750
- Klaus Bendel (1993): Selbstreferenz, Koordination und gesellschaftliche Steuerung. Zur Theorie der Autopoiesis sozialer Systeme bei Niklas Luhmann, Pfaffenweiler: Centaurus ISBN 389085804X
- Gábor Kiss (1990): Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie. Stuttgart: F. Enke ISBN 3432960921