Parallelgesellschaft
Als eine Parallelgesellschaft wird (tagespolitisch 2004) eine Gesellschaft oder Kultur, genauer: eine Minderheit bezeichnet, die sich 'neben' und 'parallel zu' der Hauptgesellschaft eines 'eigentlich' einheitlichen Kulturkreises entwickelt hat. Oft hat sie jedoch viele Eigenheiten übernommen (ist insofern eine Subkultur) oder grenzt sich gegen bestimmte Eigenheiten so scharf ab, dass sie besonders energisch versucht, anders zu sein, aber in diesem Andersseinwollen doch von ihr abhängt ("konterdependent" ist, eine "Gegenkultur", counterculture). Sie rekrutiert sich meist aus einer sich teilenden Minderheit, von der sich ein Teil der Mehrheitsgesellschaft stärker zuwendet, der andere sich ängstlich oder feindselig abgrenzt (typischer minderheiteninterner Vorwurf: Verrat).
Beispiel USA
Als historisches Einwanderungsland haben sich die USA seit jeher als ein Schmelztiegel unterschiedlicher Sprachen, Nationalitäten und Religionen verstanden. Die Möglichkeit zu Parallelgesellschaften ist hier in sehr verschiedenen Abstufungen anzutreffen und wurde vor allem von ostasiatischen Einwanderergruppen (Chinesen, Koreaner) wahrgenommen. Lebhafte lokale Ansätze einer deutschsprachigen Parallelgesellschaft wurden nach dem Kriegseintritt der USA gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg abgebrochen.
Einige Gemeinschaften, wie etwa die Amischen, erlangten aufgrund der großen Religionsfreiheit die Möglichkeit, in großer Abgeschiedenheit von der Hauptgesellschaft leben zu können.
Eine andere in den Bereich der Parallelgesellschaft kommende Gruppe bildet besonders im Süden des Landes die afroamerikanische Bevölkerung, die trotz der rechtlichen Gleichstellung angesichts fortgesetzter Diskriminierung eine eigene Lebenskultur behielt und entwickelt hat.
Beispiel Niederlande
Der klassische Fall einer bis in die 1960er Jahre mit zwei Parallelgesellschaften kämpfenden Gesellschaft gaben die Niederlande ab, wo Bildungswesen, Kultur, Vereine, Firmen usf. je einmal evangelisch und einmal katholisch vorhanden waren - dort verzuiling ("Versäulung") genannt.
Beispiel Deutschland
Bis 1933 gab es einige traditionelle Parallelgesellschaften in Deutschland: die Sinti (z.T auch die Roma) und die Dänen in Schleswig-Holstein, weniger jedoch das Judentum, das sich meist stark an die deutsche Hauptgesellschaft angepasst hatte, obwohl es Ausnahmen gab. Nach dem 2. Weltkrieg gab es in Deutschland vorübergehend noch die Parallelgesellschaft der Flüchtlinge und displaced persons (siehe auch: Sudetendeutsche).
Im beginnenden Wirtschaftswunder holte die deutsche Regierung dann türkische Gastarbeiter ins Land, woran anknüpfend sich langsam islamisch geprägte Subkulturen etablierten (Türken, Kurden, Bosnier, Marokkaner u.a.m.). Zu deren islamischen Kulturaspekten gehören der Besuch der Moschee, durch fehlenden Islamunterricht an deutschen Schulen auch zunehmend eigener Privatschulen mit arabischer Unterrichtssprache und eigenen Wertevorstellungen, aber auch ein neu entwickeltes, "fundamentalistisches" Islam-Bild, das durchaus von der Islamauffassung ihrer Herkunftskulturen in Richtung auf Radikalität abweichen kann - vielleicht ein typischer "Diaspora"-Effekt, für den es sogar eine deutsche Redensart gibt: Je weiter von Rom, desto besser die Katholiken.
Siehe auch: Türkische Kultur in Deutschland
Weitere Beispiele
Ein sehr viel schärferes Beispiel einer stark abgeschotteten Minderheit ('Parallelgesellschaft') sind die befestigten Wohnquartiere nichteinheimischer (nichtislamischer) Experten, Diplomaten u.ä. in z.B. Saudi-Arabien.
Ein verschobener Konflikt?
Traditionell und hauptsächlich fußt Deutschland jedoch auf einem stark antik, christlich und aufklärerisch geprägtem Fundament, welche Züge auszugleichen es viele Erfahrungen gemacht und Institutionen entwickelt hat. Ausgehend von diesen Weltbildern hat sich die deutsche Gesellschaft immer weiter zu einem humanitären Weltbild hin entwickelt, das - typisch neuzeitlich - sich vieler religiöser Züge entledigt hat. Dies kollidiert mit den schwachen Zukunftsperspektiven einer eingewanderten Unterschicht, die Unterschicht zu bleiben droht, aber nicht recht weiß, woran ihre Feindseligkeit festzumachen wäre. Typisch ist zunächst eine merkliche Abschottung (deswegen "Parallelgesellschaft"!), dann die Erklärung gewisser merklicher Züge der anderen Seite zu zentralen Merkmalen (z.B. "Sittenlosigkeit"), dann zu symbolischer Überhöhung eigener Merkmale als zentral wichtig für die eigene "Sittlichkeit".
Mit Lewis A. Coser nennt die Soziologie den Streit an einer derart
verschobenen Konfliktfront unrealistic conflict.
Die Lebensvorstellungen und Wertevorstellungen beider Kulturen - die des Islams einerseits, und die des Christentums beziehungsweise des humanitären Weltbildes andererseits - stellen für beidseitige Kritikübung und Symbolkämpfe genügend Züge bereit. Doch geht es eher um den Streit verweltlichter und toleranter (säkularisierter), vergleichsweise wohlhabender Mehrheiten mit aufstiegsgehemmten und die Geduld verlierenden Minderheiten.
Islamische Parallelgesellschaft?
Auf Grund dieser kulturellen Differenzen spricht man von "Gesellschaft" ('sämtlicher' deutschen Bürger) und "Parallelgesellschaft" ('islamischer' Einwanderer).
So gesehen existieren auch andere "Parallelgesellschaften", sogar in Deutschland: viele Sinti, Chinesen u.a.m. Die Formulierung zeigt jedoch in der aktuellen Diskussion auf die Furcht vor Terrorismus, wie er in islamisch geprägten Gesellschaften der Gegenwart häufig ist und die USA bereits erfolgreich herausgefordert hat.
Aber erst nach der Ermordung des islam-kritischen Filmemachers Theo van Goghs in den Niederlanden und nach der darauf folgenden Kritik an Muslimen, kam das Wort "Parallelgesellschaft" in die öffentliche Diskussion. Sämtliche deutsche Medien (Print, Fernsehen, Radio, Internet etc.) haben den 'Begriff' "Parallelgesellschaft" etabliert, um ihn als Schlagwort zur Einleitung in die aktuelle Debatte zu verwenden. Es wird debattiert, ob Parallelgesellschaften in Deutschland geduldet sein sollten oder nicht.
Hier ist politikwissenschaftlich hinzu zu fügen: Insoweit eine "Parallelgesellschaft" gar nicht existiert, ist sie ein Scheinproblem (wie alle "unrealistischen Konflikte"), also kann der Streit beliebig verlängert werden, weil er eben fiktiv und also nicht behebbar ist, und was eigentlich die soziale Frage ausmacht, bleibt der öffentlichen Meinung unzugänglich. Früher schon kam es auch zum sogenannten Kopftuchstreit, der jetzt politisch brisanter wird: Die eine Seite behauptet (und ist z.T. überzeugt), ein Uniformverbot für Neoterroristen auszusprechen, die andere (entsprechend), für die religiös gebotene weibliche Keuschheit zu kämpfen; beides sind vermutlich unrealistische Streitpunkte, denn es geht hauptsächlich um eine als gerecht empfundene Einbürgerungspolitik und Aufstiegsermöglichung gegenüber eingewanderten Minderheiten.
Kritik am Begriff "Parallelgesellschaft"
Der Begriff "Parallelgesellschaft" besitzt eine sehr verwaschene Definition. Ab wann gilt eine Gesellschaft als "parallel" zur Hauptgesellschaft verlaufend? Ist "parallel" überhaupt zu kritisieren, wären nicht eher "entgegengesetzte" und "unvereinbare" Standpunkte, die sich dann aber kaum auf eine ganze "Parallelgesellschaft" beziehen könnten, zu bekämpfen? Der Begriff scheint erst kürzlich von den Medien kreiert zu sein. Trotz der nicht vorhandenen Definition wird er jedoch als Schlagwort verwendet. Kritisch dazu ist anzumerken, dass über etwas geredet und debatiert wird, was nicht exakt definiert ist.
Wilhelm Heitmeyer, der den Begriff 1995/96 [1] verwendet, weist darauf hin, dass sieben Bedingungen existieren müssen, damit man von einer "Parallelgesellschaft" sprechen kann. Also wird der Begriff "Parallellgesellschaft", wie er heute verwendet wird, populistisch benutzt.
- Man muss sagen, Segregration lax gesagt: gleich zu gleich gesellt sich gern ist erst mal kein Problem. Menschen gleicher Herkunft hoffen auf Hilfe von Ihresgleichen. Ich möchte noch mal grundsätzlich sagen, was das Wort „Parallelgesellschaft“ eigentlich beinhaltet. Das ist von Politikern als Kampfbegriff eingeführt oder instrumentalisiert worden. Ich kann nur davor warnen, eine schlichte Beschreibung dergestalt zu wählen, dass immer dann wenn Menschen eine unterschiedlichen Lebensstil haben, dann schon eine Parallelgesellschaft sind. Wir verwenden sieben Indikatoren bevor wir von Parallelgesellschaften sprechen. Wenn vor allem kulturelle Differenz betont wird gegenüber der Mehrheitsgesellschaft: also wir sind anders und wir wollen auch anders bleiben. Und da gibt es in der türkischen Community auch eine hohe Anzahl, die das auch tun. Was dabei herumkommt, das zugleich die soziale Ungleichheit zementiert wird. Die Menschen forcieren über die kulturelle Differenz den eigenen Sprachgebrauch, die jungen Männer holen sich wieder vermehrt Frauen aus der Türkei, damit der Integrationsprozess immer wieder von neuem anfängt. [2]
Auch Klaus J. Bade kritisiert den populistischen Gebrauch des Wortes "Parallelgesellschaft". Er sagt in einem Spiegel-Online Interview
- Parallelgesellschaften im klassischen Sinne gibt es in Deutschland gar nicht. Dafür müssten mehrere Punkte zusammenkommen: eine monokulturelle Identität, ein freiwilliger und bewusster sozialer Rückzug auch in Siedlung und Lebensalltag, eine weitgehende wirtschaftliche Abgrenzung, eine Doppelung der Institutionen des Staates. Bei uns sind die Einwandererviertel meist ethnisch gemischt, der Rückzug ist sozial bedingt, eine Doppelung von Institutionen fehlt. Die Parallelgesellschaften gibt es in den Köpfen derer, die Angst davor haben: Ich habe Angst, und glaube, dass der andere daran Schuld ist. Wenn das ebenso simple wie gefährliche Gerede über Parallelgesellschaften so weitergeht, wird sich die Situation verschärfen. Dieses Gerede ist also nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. [3]
Kritik der Linken am Begriff "Parallelgesellschaft"
775.000 Millionäre können als Parallelgesellschaft gelten, stärker noch deren Spitze (die "Superreichen").
Sie verkehren gern nur untereinander, wohnen in bewachten Villen-Gettos, haben eigene Restaurants, Klubs und Urlaubsziele und schotten sich ab. Sie wollen nicht fotografiert werden, treten in den Massenmedien nie auf und halten erfolgreich geheim, wie unvorstellbar viel Geld sie haben. Sie sprechen eine Sprache, die Andere nicht verstehen. Dies sind weniger Wörter wie „Operativer Gewinn“, „Shareholder value“, „Ebita“ oder „EuroStoxx“, die gehören eher in den berufliche Sprachgebrauch der Beschäftigten im Kapital- und Geldmarkt. Sie erkennen einander an subkulturellen Eigenheiten. Hans-Jürgen Krysmanski hat sie fast als einziger deutscher Soziologe untersucht.
Die Superreichen begehen im Bereich des White Collar Crime die schwersten Verbrechen: „Der größte Teil der Polizei und sonstigen staatlichen Ordnungskräfte müsste sich auf die Kriminalität der Mächtigen, der Reichen und Einflussreichen konzentrieren“, fordert der Kriminalitäts-Experte Professor Dr. Hans See, Leiter von „Business Crime Control“, einer Organisation gegen Wirtschaftskriminalität. See erklärt: „Viele Millionen kleiner Straftäter können in einem Jahr nicht den Schaden anrichten, den wenige der Großen an einem Tag verursachen.“
Siehe auch: Multikulturalismus, Leitkultur, Melting Pot
Weblinks
- Die Aliens dichten wie wir selbst. Alle reden von der Parellgesellschaft. Aber aus welchem Universum stammt sie? Über aktuelle Wahnheimsuchungen der politischen Sprache. VON MANFRED SCHNEIDER in der FR vom 6. Dezember 2004
- Niederlande, Vor den Trümmern des großen Traums, Von Leon de Winter, In: Die Zeit, Nr. 48, 2004
- Niederlande, Schluss mit dem falschen Frieden! Von Werner A. Perger, In: Die Zeit, Nr. 48, 2004