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A Theory of Justice

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A Theory of Justice (Eine Theorie der Gerechtigkeit) ist ein 1971 veröffentlichtes, vielbeachtetes Buch des US-amerikanischen Philosophen John Rawls.[1]

Rawls entwarf in diesem Werk ein Konzept einer politisch-sozialen Grundordnung, das auf dem Prinzip der Gleichheit beruht. Damit stellte er sich gegen den vor allem im angloamerikanischen Raum vorherrschenden Utilitarismus, der es prinzipiell erlaubt, Unschuldige für das größere Gemeinwohl der Gesellschaft zu opfern. Weiterhin setzte er sich auch kritisch mit anderen Alternativen zu seinem Konzept wie dem ethischen Skeptizismus, dem Egoismus oder Intuitionismus auseinander.

Das Buch sorgte zusammen mit Robert Nozicks als Antwort darauf 1974 erschienenem Werk Anarchy, State and Utopia für eine Wiederbelebung der politischen Philosophie. Unmittelbar lösten die beiden Werke eine Debatte zwischen Liberalismus (Nozick) und Egalitarismus (Rawls) aus. Aus einer anderen Perspektive griffen darüber die Vertreter des Kommunitarismus in diese Diskussion ein.

Rawls griff für seine Theorie auf die Vertragstheorien von Locke, Rousseau und Kant zurück und modifizierte diese an entscheidender Stelle: die Beteiligten befinden sich bei Rawls in einem hypothetischen „Urzustand“, der durch einen „Schleier des Nichtwissens“ gekennzeichnet ist. In dieser angenommenen Situation können sie zwar über die zukünftige Gesellschaftsordnung entscheiden, wissen aber selbst nicht, an welcher Stelle dieser zu bestimmenden Ordnung sie sich befinden werden. Durch diese neutrale, anonymisierte Entscheidungssituation soll sichergestellt werden, dass die gewählten Gerechtigkeitsprinzipien in einem fairen Prozess zustande kommen.

Ausgehend von diesem Gedankenexperiment argumentierte Rawls für zwei Prinzipien der Gerechtigkeit.

  1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
  2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen. (TG 81)

Dabei besteht ein Vorrang des ersten Prinzips vor dem zweiten sowie ein Vorrang des Prinzips fairer Chancengleichheit (b) vor dem Differenzprinzip (a).

Daraus folgend verlangte Rawls unter anderem, dass alle nachfolgenden Generationen gleich hohe Konsummöglichkeiten haben müssten. Ökonomen sehen diese Forderung kritisch, da gleich hohe Konsummöglichkeiten nur dann möglich wären, wenn gar nicht mehr konsumiert werden würde. Dies aber scheint nicht möglich. Rawls Gedanke lässt sich jedoch erfüllen, wenn jede Generation gleichsam auch Kapital bildet, somit für die Folgegenerationen einspart. Diese Idee findet sich beispielsweise in der Hartwick-Regel wieder.

Im weiteren beschäftigte sich Rawls mit Fragen der Verfahrensgerechtigkeit und wendete den „Schleier des Nichtwissens“ auf die Probleme der Toleranz gegenüber der Intoleranz und des zivilen Ungehorsams an.

Entstehung und Aufbau des Buches

Rawls hat an seiner Theorie der Gerechtigkeit über 10 Jahre systematisch gearbeitet und vorbereitend mehrere grundlegende Artikel verfasst, bis er sein Opus magnum im Jahre 1971 veröffentlichte. Der erste Aufsatz zum Thema „Justice as Fairness“ stammt aus dem Jahr 1958 (TG Vorwort, 14, FN1[2]) Mit der Frage der Nutzenmaximierung im Utilitarismus hatte er sich schon 1955 in der Veröffentlichung „Two Concepts of Rules“ befasst[3] Die Entscheidungstheorie als Verfahren der Ethik war bereits 1951 Thema eines Aufsatzes.[4]. Rawls hat Teile seiner Theorie in verschiedenen Vorlesungen erarbeitet und insgesamt drei Manuskriptfassungen mit seinen Studenten und Kollegen diskutiert sowie überarbeitet.

Die Hauptarbeiten zum Werk leistete Rawls während eines Forschungaufenthaltes 1969–70 am Center for advanced Studies an der Stanford University. Rawls betonte, dass der Umfang von über 600 Druckseiten nicht nur der Ausarbeitung der Theorie selbst, sondern der Einbettung in allgemeine ethische Konzepte und auch der intensiven Auseinandersetzung mit alternativen Gerechtigkeitskonzepten geschuldet ist (Vorwort).

Das Buch ist wie folgt gegliedert:

Teil 1 – Theorie
  • Kapitel 1: Gerechtigkeit als Fairness (Abschnitte 1–9)
  • Kapitel 2: Die Grundsätze der Gerechtigkeit (Abschnitte 10–19)
  • Kapitel 3: Der Urzustand (Abschnitte 20–30)
Teil 2 – Institutionen
  • Kapitel 4: Gleiche Freiheit für alle (Abschnitte 31–40)
  • Kapitel 5: Die Verteilung (Abschnitte 41–50)
  • Kapitel 6: Pflicht und Verpflichtung (Abschnitte 51–59)
Teil 3 – Ziel
  • Kapitel 7: Das Gute als das Vernünftige (Abschnitte 60–68)
  • Kapitel 8: Der Gerechtigkeitssinn (Abschnitte 69–77)
  • Kapitel 9: Das Gute der Gerechtigkeit (Abschnitte 78–87)

Alle Kapitel haben einleitende Abschnitte, in denen Rawls jeweils eine Einordnung in die Gesamtstruktur seines Werkes vornahm. In den ersten vier Abschnitten erfolgt eine Einführung in die intuitiven Grundgedanken der Theorie der Gerechtigkeit, die in den Kapiteln zwei bis vier im Detail ausgearbeitet werden. Die Kapitel fünf bis neun dienen der Vertiefung von Einzelfragen und der Begründung verschiedener Grundpositionen, die in der Theorie enthalten sind. Im ganzen Buch verzichtet Rawls auf eine metaethische Diskussion. Methodische Erörterungen finden sich nur an einigen vereinzelten Stellen. Rawls betonte, dass er sich um eine inhaltliche Darlegung der Theorie der Gerechtigkeit bemüht habe (TG Vorwort, 15). Eine Auseinandersetzung mit der in der analytischen Philosophie bedeutsamen metaethischen Position des Nonkognitivismus erfolgt nicht.

Formale und substanzielle Gerechtigkeit

Zur Bestimmung des Inhalts der Gerechtigkeit unterscheidet Rawls zwischen formaler und substantieller Gerechtigkeit (TG 74–85). Formale Gerechtigkeit entsteht durch allgemeingültige Regeln. Diese stellen sicher, dass jeder von der Regel Betroffene auch nach dieser Regel behandelt wird. Dabei ist aber noch nicht gewährleistet, dass die Gleichbehandlung nach der Regel auch zu inhaltlicher Gerechtigkeit führt.

Um eine inhaltliche Gerechtigkeit herzustellen muss eine Theorie der Gerechtigkeit auch substanzielle Aussagen machen. Diese Aufgabe erfüllen Gerechtigkeitsprinzipien, die sich an einer praktischen Gesellschaft orientieren und von allen vernünftigen Beteiligten anerkannt werden können. Rawls wollte bewusst keine ideale, letzbegründete Moraltheorie aufstellen, sondern eine politische Theorie über die Grundprinzipien einer gerechten Gesellschaft, die geeignet ist, als Maßstab für praktisches politisches Handeln zu dienen.

Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit

Als Anwendungsverhältnisse bezeichnet Rawls die gewöhnlichen objektiven (umweltbezogenen) und subjektiven (personenbezogenen) Bedingungen menschlicher Zusammenarbeit (TG 3.22, 148). Er betrachtet die Gesellschaft als ein nützliches kooperatives System. Alle Mitglieder konkurrieren dabei um die gleichen Güter (Einkommen, Vermögen, Freiheit usw.), woraus sich Interessenskonflikte ergeben. Auf der anderen Seite haben die Mitglieder der Gesellschaft aber auch gleiche Interessen, wie beispielsweise Sicherheit, Frieden oder Möglichkeiten, ihre Lebenspläne zu verwirklichen usw.

Zur Regulierung dieser Interessengegensätze mit dem Ziel der Interessenswahrnehmung der Gesamtgesellschaft sind Verfahren notwendig. Rawls setzt sich ausdrücklich von dem bei Thomas Hobbes formulierten Naturzustand ab, nach dem sich die Mitglieder der Gesellschaft potenziell in einem permanenten Kriegszustand um die knappen Güter befinden. Er geht vielmehr von einer Gruppe von Menschen mit gleichartigen Interessen aus (TG 105). Die Gruppenmitglieder versuchen, nicht durch Kriegführung, sondern durch (friedliche) Einigung eine für alle akzeptable Lösung – mithin Allokation der Grundgüter – zu erreichen.

Rawls Gerechtigkeitstheorie ist in dem Sinne vertragstheoretisch, als sie sich zur Rechtfertigung auf die allgemeine Zustimmungsfähigkeit ihrer Prinzipien bezieht. Der Vertrag ist ein hypothetisches Konstrukt, das nur „in den Köpfen der Philosophen“ existiert. Nicht der Vertrag ist wichtig, sondern der Konsens, den dieser impliziert. Es geht nicht um die faktische Zustimmung, sondern um die fiktive Zustimmungsfähigkeit.

Rawls geht davon aus, dass bereits eine Gesellschaft vorhanden und damit eine gewisse Verteilung der (natürlicherweise begrenzten) Grundgüter gegeben ist. Mit dieser wichtigen Annahme blendet Rawls die schwerwiegende Diskussion um die Herkunft und die Entstehung der vorgefundenen Güterverteilung bewusst aus. Für ihn beruht im Ergebnis jede zu einem beliebigen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte vorgefundene Allokation auf einer gewaltsamen Besitzaneignung, Kriegführung oder auf anderen ungerechtfertigten Handlungen. Dies sei zu keinem Zeitpunkt revidierbar. Rawls wollte ausdrücklich einen Beitrag zur praktischen Philosophie leisten und nicht ein theoretisches Konzept aufstellen, das schon wegen seiner Prämissen undurchführbar wäre. Eine Revision der vorgefundenen Verteilung würde gleichsam eine Rückgängigmachung der menschlichen Geschichte voraussetzen, was ausgeschlossen ist. Die Frage nach Herkunft und Verdienst einer vorhandenen Verteilung wird daher in Rawls’ Werk nicht diskutiert.

Fiktive Verfassungswahl

Rawls geht davon aus, dass die zu irgendeinem Zeitpunkt vorhandene Gesellschaft sich zu einer fiktiven „Verfassungswahl“ zusammenfindet. In dieser Wahl soll die Gesellschaft sich unter bestimmten Voraussetzungen auf Grundsätze für das Zusammenleben, insbesondere der Verteilung der gesellschaftlichen Grundgüter einigen, an denen jedes der Gesellschaftsmitglieder ein Interesse hat.

Als Grundgüter, die zur Verteilung anstehen, bezeichnet Rawls explizit Rechte, Einkommen, Vermögen und Chancen. Er nimmt an, dass die Gesellschaftsmitglieder insoweit von Selbstinteresse getrieben sind, als sie ein Mehr an diesen Gütern einem Weniger auf jeden Fall vorziehen würden. Damit distanziert er sich von allen Ansätzen, in denen Altruismus eine Bedingung einer gerechten Gesellschaft ist.

Für Rawls ist nur dasjenige als gerecht zu bezeichnen, auf das sich die Menschen in einer fairen Ausgangssituation auf der Basis vernünftiger Entscheidungen bei einer Verfassungswahl einigen würden.

Konzeption des Urzustandes („original position“)

Rawls versetzt die Mitglieder der Gesellschaft in einen Urzustand, in dem sie gemeinsam über die Grundsätze entscheiden, die die Grundstruktur der Gesellschaft festlegen. Die englische Bezeichnung „original position“ weist klarer als der deutsche Begriff „Urzustand“ darauf hin, dass Rawls hier keine historische Situation beschreibt, sondern eine hypothetische Ausgangssituation entwickelt, die man sich unabhängig von jeder empirischen Gesellschaft zu jeder Zeit als reines Gedankenmodell vorstellen kann. Im Urzustand herrscht Gleichheit, das heißt, alle Beteiligten haben eine gleiche Stimme und jeder der Beteiligten kann durch Ablehnung eine Einigung verhindern.

Kompetenz der Beteiligten

Die Mitglieder der Gesellschaft beschreibt Rawls als „kompetente Moralbeurteiler“. Ihre Kompetenz lässt sich festmachen an:

  1. hinreichender Intelligenz
  2. ausreichender Lebenserfahrung
  3. Kenntnis der Fakten
  4. Fähigkeit zur deduktiven Logik
  5. Bereitschaft, Pro und Kontra abzuwägen
  6. Fähigkeit, neue Erkenntnisse zu berücksichtigen
  7. persönliche Distanz, Selbstkritik
  8. Vorurteilslose Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.

Durch die Zuweisung dieser Kompetenzen will Rawls sicherstellen, dass von den Beteiligten nicht nur eine rationale (rational), sondern auch eine vernünftige (reasonable) Entscheidung getroffen wird. Durch diese Kriterien sollen skeptische und nihilistische Haltungen ebenso wie fehlerhafte Entscheidungen aufgrund subjektiver Beeinträchtigungen von vorn herein ausgeschlossen werden.

Formale Bedingungen für den Begriff des Rechten

Bevor er die Verfassungsversammlung entscheiden lässt, stellt Rawls einige Bedingungen auf, denen die denkbaren Grundsätze entsprechen müssen (TG 3.23, 152). Er bezeichnet sie im Original als „formal constraint of the concept of right“ Im Einzelnen sind dies:

  1. Generalität – allgemeine Anwendbarkeit (für jede Person)
  2. Universalität – uneingeschränkte Anwendbarkeit (widerspruchsfrei)
  3. Öffentlichkeit – Anerkennung und Wirksamkeit
  4. hierarchische Geordnetheit – Konfliktlösung
  5. Endgültigkeit – keine übergeordnete Instanz

Diese Bedingungen dienen insbesondere dazu, verschiedene Formen des Egoismus auszuschließen. Durch eine entsprechende Konzeption des Urzustandes lässt Rawls die Gerechtigkeitsgrundsätze schließlich diese Bedingungen erfüllen. Es soll einer allein nicht zu anderen Ergebnissen kommen können als alle Gesellschaftsmitglieder zusammen.

Die Urzustandkonzeption im Einzelnen

Diese Versammlung kann allerdings nur fiktiv sein, so wie alle Vertragstheorien nur von einer hypothetischen Einigung auf den Gesellschaftsvertrag ausgehen. Zu keiner Zeit ist eine konstituierende Versammlung aller Gesellschaftsmitglieder durchführbar. Selbst wenn sie es wäre, kommen immer wieder Gesellschaftsmitglieder hinzu, die nicht bei der Versammlung dabei waren. Für diese neuen Mitglieder würde dann der seinerzeitige Vertrag keinerlei Verbindlichkeit entfalten. Diese Probleme umgehen alle Vertragstheoretiker dadurch, dass sie ihre Ur-Gesellschaft sich auf Grundsätze einigen lassen, von denen man annehmen kann, dass die Einhaltung für jedes hypothetische Gesellschaftsmitglied heute und in der Zukunft vernünftig und positiv wäre. Sind also die Grundsätze für jeden zu jeder Zeit vernünftig, kann dem Vertrag hinreichende Verbindlichkeit zugeschrieben werden. Dieses Merkmal zu prüfen ist Aufgabe einer Vertragstheorie, da bildet Rawls keine Ausnahme.

Würde man trotz der praktischen Unmöglichkeit sich denken, eines Tages tatsächlich eine solche Versammlung einzuberufen, ließe sich natürlich jedes Mitglied von seinem eigenen Interesse leiten. Jeder würde überlegen, ob der zur Diskussion stehende Grundsatz seine eigenen Lage verbessern oder verschlechtern würde und sich im Zweifelsfall von diesen Überlegungen in seinem Abstimmungsverhalten leiten lassen.

Rawls Konzeption des Urzustandes will nun dieses Problem umgehen. Dabei darf sein Ansatz nicht damit verwechselt werden, dass Rawls das Eigeninteresse der Mitglieder ausschließen wolle. Denn er nimmt ja gerade an, dass die Mitglieder wissen, dass nach der Verfassungswahl die gesellschaftlichen Güter nach den Grundsätzen verteilt werden. Sie entscheiden also durchaus egoistisch, allerdings unter einem „Schleier des Nichtwissens“.

Der Schleier des Nichtwissens („veil of ignorance“)

Der „Schleier des Nichtwissens“ sorgt dafür, dass die Gesellschaftsmitglieder nichts wissen, was sie in ihrer Entscheidung dazu veranlassen könnte, zu eigenen Gunsten von dem gesellschaftlich wünschbaren abzuweichen. Niemand soll sich von seiner gesellschaftlichen Position, seinem Einkommens- oder Vermögensstand, der Zugehörigkeit zu einer Kaste, seiner Intelligenz oder seiner Körperkraft in seiner Entscheidung beeinflussen lassen.

Dahinter steht für Rawls die originäre Ungerechtigkeit – im Sinne von Unverdientheit – der Verteilung dieser genannten Güter. Die derzeitige Güterverteilung, insbesondere die Verteilung von Intelligenz oder Körperkraft, die Zugehörigkeit zu einer Kaste sind grundsätzlich unverdient. Daher sei es nicht gerechtfertigt, die Gesellschaftsmitglieder sich von der Kenntnis um ihre relative gesellschaftliche Position beeinflussen zu lassen.

Zu diesem Zweck führt er den „Schleier des Nichtwissens“ ein. Die Gesellschaftsmitglieder wissen nichts von ihrer relativen gesellschaftlichen Position, nicht einmal ihre persönlichen Vorlieben sind ihnen bekannt. Die Mitglieder entscheiden ohne Willkür, ohne Emotionalität und ohne Habitualität (entsprechend ihren Gewohnheiten).

Im Einzelnen:

  • Selbstunkenntnis: Die Gesellschaftsmitglieder verfügen über keinerlei Kenntnis über ihr eigenes Einkommen, ihr Vermögen, ihren gesellschaftlichen Status. Sie kennen nicht ihre Vorlieben und Abneigungen, genauso wenig wie ihre besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
  • Allgemeines Wissen: Sie verfügen aber über allgemeines Wissen. Sie kennen wirtschaftliche Zusammenhänge und haben grundlegende psychologische und soziologische Kenntnisse.
  • Rationalität: Alle Mitglieder respektieren sich gegenseitig. Sie treffen ihre Entscheidungen aufgrund rationaler Überlegungen und lassen sich nicht von irrationalen Überlegungen leiten.
  • Keine aufeinander gerichteten Interessen: Sie interessieren sich nicht füreinander, so dass sie sich weder von Liebe noch von Hass in ihren Entscheidungen leiten lassen. Des Weiteren sind sie nicht darauf aus, sich gegenseitig auszunutzen.
  • Kein Neid: Auch Neid akzeptiert Rawls nicht als entscheidungsrelevantes, subjektives Gefühl.

Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze

Rawls lässt nun seine verfassunggebende Gesellschaftsversammlung sich für gerechte Grundsätze entscheiden. Dies geschieht durch Aufstellung einer Liste aller möglichen Prinzipien, die dann durch Eliminierung der als ungerecht empfundenen Regeln zu dem von Rawls aufgezeichneten Gerechtigkeitsgrundsätzen führen.

Rawls beginnt mit der eingangs zitierten Formulierung der beiden Grundsätze, modifiziert diese jedoch im Laufe seiner Abhandlung und gibt ihnen schließlich unter Beachtung der im Laufe der Diskussion eingeführten Vorrangregeln folgende endgültige Gestalt (TG 336-337):

Erster Grundsatz
Jedermann hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.
Zweiter Grundsatz
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:
(a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bieten, und
(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen.
Erste Vorrangregel (Vorrang der Freiheit)
Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in lexikalischer Ordnung; demgemäß können die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden, und zwar in folgenden Fällen:
(a) eine weniger umfangreiche Freiheit muss das Gesamtsystem der Freiheit für alle stärken;
(b) eine geringere als gleiche Freiheit muss für die davon Betroffenen annehmbar sein.
Zweite Vorrangregel (Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard)
Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung lexikalisch vorgeordnet; die faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet und zwar in folgenden Fällen:
(a) eine Chancen-Ungleichheit muss die Chancen der Benachteiligten verbessern;
(b) eine besonders hohe Sparrate muss insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildern.

Lexikalische Ordnung

Rawls' Begriff der „lexikalischen Ordnung“ bedeutet für die Ordnung der Grundsätze, dass zu Gunsten des einen nicht auf den anderen verzichtet werden darf. Mithin darf etwa nicht zu Lasten der Freiheit eine größere Chancengleichheit hergestellt werden. Ebenso kann eine Aufhebung der Chancengleichheit nicht mit einer Ungleichheit, auch wenn diese die Position der am schlechtetesten Gestellten verbessert, begründet werden.

Der Vorrang der Freiheit

Der Vorrang der Freiheit ergibt sich aus der Konstruktion des Urzustandes mit dem Schleier des Nichtwissens. Bevor die Beteiligten überhaupt eine Festlegung treffen können, müssen sie im Urzustand gegenseitig ihre Gleichheit anerkennen. Im Gegensatz zu materiellen Gütern ist Freiheit als abstraktes Recht kein knappes Gut und kann jedem zugestanden werden. Da niemand weiß, welche Position er in der künftigen Gesellschaft einnehmen wird, ist die Freiheit der Grundstein einer gemeinsamen Einigung; denn mit der Zusicherung der Freiheit ist für jeden gewährleistet, dass er, egal in welcher Position er sich befinden wird, sein Leben nach einem eigenen Lebensplan gestalten kann.

Diese Freiheit beinhaltet insbesondere die Religionsfreiheit, das aktive und passive Wahlrecht, die Gewissens-, Gedanken-, Rede- und Versammlungsfreiheit, die Freiheit des Eigentums sowie die Gesetzesherrschft, also Gleichbehandlung, Rückwirkungsverbot, Schutz vor staatlicher Willkür etc. (TG 336). Rawls betrachtet die Freiheit als unabdingbar. Sie hat kein ökonomisches Äquivalent. Freiheiten dürfen nicht um größerer wirtschaftlicher Vorteile willen verletzt werden (wie das seiner Auffassung hingegen im Utilitarismus möglich wäre). Ohne sie kann nach Rawls eine wohlgeordnete Gesellschaft überhaupt keinen Bestand haben. Die Grenzen der Freiheit liegen nur dort, wo die Freiheiten anderer beschränkt werden. Konflikte auf der Ebene der Freiheitsrechte können nur durch Abwägung gelöst werden.

Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher läßt es die Gerechtigkeit nicht zu, daß der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird. (TG 20)

Das Differenzprinzip

Rawls arbeitet diese Prinzipien im ausdrücklichen Gegensatz zum Pareto-Prinzip heraus. Er erlaubt stattdessen nur die Besserstellung des Einen, wenn dadurch die Besserstellung auch des Schlechtestgestellten ermöglicht wird oder, wenn die Verringerung der Unterschiede zwischen zwei Gesellschaftsmitgliedern den Schlechtestgestellten nicht noch schlechter stellen würde.

Auch das Differenzprinzip hat seine Begründung im Urzustand. Jeder der Beteiligten muss damit rechnen, dass er in der künftigen Gesellschaft zu den am schlechtesten Gestellten gehört. Daher ist es vernünftig, das Differenzprinzip zu einem allgemeinen Grundsatz zu erheben; denn dann kann der Betroffene damit rechnen, dass er im ungünstigsten Fall nicht mit weiteren Verschlechterungen durch Ungleichverteilung zu rechnen hat, sondern damit, dass Ungleichheiten stets auch seinem Vorteil dienen. So muss im Gegensatz zum Utilitarismus niemand seinen Vorteil zugunsten anderer abtreten.

Demokratische Gleichheit

Zur Interpretation des zweiten Grundsatzes lässt Rawls nur das Prinzip der demokratischen Gleichheit gelten. Was er damit meint wird erst deutlich, wenn man es von den von ihm verworfenen alternativen Auslegungen abgrenzt: Das System der natürlichen Freiheit als ein System ohne Regeln, in dem natürlicherweise jedem eben alle Möglichkeiten offen stehen, kann seines Erachtens nicht gerecht funktionieren, da die Ausgangs- oder Startbedingungen für alle unterschiedlich sind. Das Prinzip der liberalen Gleichheit reicht ihm auch nicht, da danach nur diejenigen gleiche Chancen haben, die auch von Natur aus die gleichen Voraussetzungen mitbringen. Wiederum würden natürliche Unterschiede nicht ausreichend durch Gesellschaftsgrundsätze egalisiert. Ganz deutlich lehnt er das Prinzip der natürlichen Aristokratie ab, nach dem denjenigen mehr Chancen zugesprochen werden, die auch über mehr Fähigkeiten verfügen, diese Chancen im Sinne der Gesellschaft nutzen zu können. Übrig bleibt seines Erachtens nur das Prinzip der Demokratischen Gleichheit. Hierdurch soll durch die Vernunft die Lotterie der Natur und historischer Kontingenzen eliminiert werden. Rawls geht dabei wiederum von seinem Diktum aus, dass niemand seine naturgegebene Besserstellung verdient hat. Daher sei diese Besserstellung auch weder als gerecht noch als ungerecht zu beurteilen. Sie ist ein vorgegebenes Faktum, das letztlich nur durch die Gesellschaftsverfassung korrigiert werden kann.

Legitime und illegitime Ungleichheiten

Entscheidungsverhalten und MaxiMin-Regel

Die MaxiMin-Regel ist eine Entscheidungsregel „unter Unsicherheit“. Unsicherheit bedeutet hier, dass der Entscheider den Möglichkeiten keine Wahrscheinlichkeiten zuordnen kann (wie etwa bei Entscheidungen „unter Risiko“, in denen jeder Möglichkeit eine Erwartungswahrscheinlichkeit zugeordnet werden kann). MaxiMin bedeutet nun, dass die entscheidende Person sich für die Alternative entscheidet, die das minimale denkbare Ergebnis maximiert.

Ein klassisches Beispiel zur Demonstration dieses Prinzips ist die Möglichkeit, dass eine Person, die in A wohnt, die Möglichkeit hat, mit dem Flugzeug nach B zu einem Vorstellungsgespräch zu einem um ein Vielfaches besser bezahlten Job zu fliegen. Sie muss nun drei Möglichkeiten abwägen: Sie bleibt in A und behält ihren alten Job. Sie fliegt nach B und bekommt dadurch den neuen Job. Sie fliegt nach B und kommt dadurch bei einem denkbaren Absturz des Flugzeuges ums Leben. Da sie für die zweite und dritte Möglichkeit keine Wahrscheinlichkeiten angeben kann, würde sie unter Berücksichtigung des MaxiMin-Ansatzes die erste Möglichkeit wählen (müssen).

Angewandt auf das Thema von Rawls heißt das für ihn, dass die Individuen im Urzustand annehmen, dass der schlechtest denkbare Fall eintritt, nämlich dass sie sich nach Lüftung des Schleiers des Nichtwissens in der Gruppe der am schlechtest gestellten Gesellschaftsmitglieder wiederfinden. Deshalb entscheiden sie sich für die Grundsätze, die gerade die Aussicht dieser Gesellschaftsgruppe maximiert.

Gerechtigkeit zwischen den Generationen

Der Schleier des Nichtwissens bezieht sich auch auf die Stellung der Gesellschaftsmitglieder in der Zeit. Sie wissen nicht, in welcher Generation sie leben. Sie wissen nicht, wie viele Generationen vor ihnen gelebt haben und auch nicht, wieviele noch nach ihnen kommen werden.

Der Schleier des Nichtwissens neutralisiert daher ihre Stellung in der Zeit. Damit meint Rawls wohl auch, dass die Mitglieder der Urzustandsgesellschaft denkmöglich auch unterschiedlichen Generationen angehören. Denn wüssten sie nichts von ihre relativen Position, hätten aber zumindest die Gewissheit, alle derselben Generation anzugehören, wäre keine hinreichende Bedingung gegeben, um jeglichen Zeitpräferenz auszuschalten.

Sie präferieren daher nicht die eigene Generation vor der nachfolgenden.

Die Anwendung des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes findet nun auch auf die intergenerative Verteilung Anwendung, was bedeutet, dass Ungleichheiten nur dann tolerabel sind, wenn dadurch die Schlechtestgestellten einen Vorteil erlangen. Diese Schlechtestgestellten können nun auch Angehörige einer fernen Generation sein.

Eine konsequente Anwendung dieses Grundsatzes führt unmittelbar zu dem Ergebnis, dass eine präsente Generation dem Grunde nach gar keine unwiederbringlichen Ressourcen verbrauchen darf, da diese nach dem Verbrauch definitiv nicht mehr den folgenden Generationen zur Verfügung stehen. Durch diese Handhabung kann der gegenwärtige Zustand allerdings dahin gelangen, dass sich wegen des Verzichts des Ressourcenverbrauchs mit Blick auf künftige Generationen die Aussichten der Schlechtestgestellten der gegenwärtigen Generation zu verschlechtern beginnen. Dies gilt es allerdings auch wegen des zweiten Grundsatzes zu vermeiden.

Um das Problem in den Griff zu bekommen, führt Rawls den Begriff des gerechten Spargrundsatzes ein.

Die gerechte Sparrate

Um zu einer für ihn befriedigenden Lösung zu kommen, muss Rawls nun erstmals ernsthaft den Begriff der Brüderlichkeit heranziehen, den er in seiner Einleitung bereits einmal erwähnte. Rawls hatte schon in der Einleitung auf diesen Begriff zurückgegriffen, um sein Verständnis einer gerechten Gesellschaft klarer zu machen. Er bringt zum Ausdruck, dass sich viele Gerechtigkeitsfragen eher dadurch lösen ließen, dass sich die entscheidenden Subjekte in die Lage versetzen, die Individuen, deren Interessen sie gegeneinander auszugleichen haben, seien Brüder bzw. Angehörige derselben Familie.

In Bezug auf den Spargrundsatz verdeutlicht er, was er damit meint: Man möge sich zur Herleitung einer angemessenen Sparrate vor Augen führen, wie viel die Individuen für ihre Söhne und Töchter zurücklegen würden und zu welchen Ansprüchen sie sich gegenüber ihren Vätern und Großvätern berechtigt fühlen würden. Dabei plädiert Rawls für eine faire Menge von Realkapital, das nicht nur aus materiellen Dingen bestehen müsse und das an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben sei. Den Schlussgedanken zu diesen Ausführungen bildet die Feststellung, dass eine gute und gerechte Gesellschaft nicht unbedingt mit einem hohen Lebensstandard und Reichtum verbunden sein müsse.

Zeitpräferenz

Rawls lehnt jede Zeitpräferenz ab, auch bei Einzelmenschen und unabhängig von dem Schleier des Nichtwissens. Nichts rechtfertigt für ihn die Bevorzugung eines geringeren gegenwärtigen Gutes gegenüber einem größeren zukünftigen Gut.

Wichtig ist hier, wahrzunehmen, dass er damit nicht indifferent zwischen zwei gleichwertigen Gütern jetzt und in der Zukunft ist. Durch die Begriffe „geringwertiges gegenwärtiges“/„größeres zukünftiges“ Gut impliziert er bereits das Prinzip der Abdiskontierung zukünftiger Güter auf die gegenwärtige Zeit.

Rawls Kritik des Utilitarismus

Rawls Theorie stellt einen Kontrapunkt zum Utilitarismus dar. Insbesondere John Stuart Mill als einer der Hauptvertreter dieser Philosophie wird von ihm angegriffen.

Seine Kritik stützt sich im Wesentlichen auf die folgenden Argumente:

  • Für Rawls impliziert der Utilitarismus eine unabsehbare Folgensequenz, die von keinem rational handelnden Individuum übersehen werden kann. Er meint damit, dass ein Nutzenmaximierer alle weiteren sich aus der Handlung ergebenden Folgehandlungen berücksichtigen muss. Dies kann ihm wegen der Beschränktheit seines Wissen nicht gelingen. Menschen können nicht über ein vollständiges Konsequenzenwissen verfügen, folglich auch nicht alle Folgen in ihren Entscheidungen berücksichtigen und somit auch nicht in der Lage sein, den Gesamtnutzen einer Gesellschaft zu maximieren.
  • Eine Beurteilung des Nutzens einer Handlung kann nur aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit folgen. Nun gibt es aber kein Gesetz, das besagt, dass ein einmal stattgefundenes Ereignis in der Zukunft immer wieder die gleichen Folgen mit sich bringt, wie in der Vergangenheit.
  • Die Maximierung des Nutzens kann nur aus der Perspektive der gegenwärtig entscheidenden Personen erfolgen. Damit werden aber auch deren gegenwärtigen Interessenslagen verabsolutiert und in alle Zukunft fortgeschrieben.
  • Individuelle Interessen sind allenfalls ordinal, nicht aber kardinal messbar.
  • Für Rawls birgt der Utilitarismus keine Gerechtigkeitserwägungen, da er auf Nutzenmaximierung abstellt und Gerechtigkeitserwägungen nicht explizit formuliert. Ebenso sieht Rawls in diesem Konzept eine Gleichgültigkeit gegen Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit.
  • Rawls hält die Vorteile eines Individuums nicht mit den Nachteilen eines anderen verrechenbar.
  • Rawls hält den Utilitarismus für indifferent zwischen den Interessen Einzelnen. Als Beispiel vergleicht er den Tierquäler mit dem Sozialarbeiter, dessen beider Beschäftigungen ihnen ein gleiches Maß an Befriedigung bringen. Er sieht nun im Utilitarismus keine Möglichkeit gegeben, zwischen beiden Handlungen zu entscheiden, wenn sie zur Wahl stünden.
  • Letztes Argument ist für ihn die Degradierung des menschlichen Individuums als reines „Glücksbehältnis“.

Kritik

Zur fiktiven Verfassungswahl

Rawls glaubt, dass das Ergebnis oder die Grundsätze fair, sprich: gerecht seien, auf die sich die Menschen im Urzustand unter rationalen Entscheidungen einigen würden.

Rawls gibt hier dem Leser den Anschein, als konzipiere er seine Theorie ergebnisoffen. Er entwickelt den Urzustand und lässt den Leser dann beobachten, wie sich die Gesellschaft im Urzustand ungesteuert und intuitiv auf das von ihm dargestellte Ergebnis zubewegt.

Es ist allerdings offensichtlich, dass dieses Ergebnis allein aus der von ihm gewählten besonderen Konzeption des Urzustandes resultiert. Er gibt keine hinreichenden Gründe dafür an, dass der Urzustand genauso wie von ihm dargestellt sein muss. Auch fehlt es an einer hinreichenden Begründung, warum die Menschen sich auf genau diese Grundsätze einigen sollten.

Zum unabdingbaren Vorrang der Freiheit

Dass die Freiheit unabdingbaren Vorrang genießen soll, erscheint ebenfalls allenfalls als persönliche Vorliebe von Rawls selbst, ist aber keineswegs empirisch belegt.

Zum einen müssen Menschen zunächst einmal die lebensnotwendigen Voraussetzungen für eine solche Präferenz erfüllen. Beispielsweise ist die Situation eines Verhungernden gut vorstellbar, für den die Freiheit im Vergleich zur lebensrettenden Essensportion eine unverhältnismäßig geringen Wert hat. Denn die größte Freiheit nützt ihm nichts, wenn er sie aufgrund eigenen Verhungerns nicht nutzen kann.

Außerdem kann vor dem Hintergrund der Alltagserfahrung die Unveräußerlichkeit demokratischer Teilhaberechte nicht unumstritten sein. An dieser Stelle dringt die Kritik durch, dass die von Rawls konzipierte Gerechtigkeitstheorie letztlich doch nur die Gerechtigkeitsauffassung des Okzidents seiner Zeit widerspiegelt. Das Phänomen ist in unterentwickelten Ländern häufig beobachtbar, dass Menschen ohne größere Not ihre Stimme in einer Wahl zum Verkauf dem Meistbietenden anbieten. Es ist auch ohne weiteres nicht einsehbar, was – bei unterstellter Entscheidungsfreiheit der Menschen bezüglich dieses Schrittes – eben daran falsch sein soll. Auch hier muss der Grundsatz gelten: volenti non fit iniuria.

Die Maximin-Regel

Die Menschen im Urzustand entscheiden schließlich anhand der so genannten Maximin-Regel. Sie äußern durch ihre Entscheidung ihre persönliche Risikopräferenz, nämlich dass sie von dem schlechtest möglichen Ergebnis ausgehen, denn jeder an der Verfassungswahl Beteiligte muss ja mit dem Risiko leben, sich nach Lüftung des Schleiers des Nichtwissens in der schlechtest gestellten Gruppe wiederzufinden. Demnach wird er sich für die Grundsätze entscheiden, die die Aussicht des Schlechtestgestellten maximiert.

Es kann allerdings mit Recht bezweifelt werden, dass diese Annahme realistisch ist; nicht jeder Mensch wird so eingestellt sein. Die Alltagserfahrung zeigt durchaus, dass Menschen vielfach bereit sind, teilweise erhebliche Risiken einzugehen. An dieser Stelle kann nur festgestellt werden, dass die durch die Grundsätze initiierte extreme Risiko-Aversion entweder die von Rawls selbst ist oder zumindest die, die er persönlich für die Gesellschaft insgesamt am förderlichsten hält.

Träfe Ersteres zu, so erübrigt sich jede weitere Diskussion, denn über die Risikopräferenz eines einzelnen Menschen kann man nicht streiten. Trifft jedoch die zweite Möglichkeit zu, so verändert sich die Fragestellung des Werkes: nämlich nicht, was gerecht oder fair ist, sondern welche Risikopräferenz für eine Gesellschaft insgesamt wünschenswert wäre.

Im Übrigen hat Rawls ja seinen Urzustand so konzipiert, dass die Individuen ihre persönliche Präferenzen gar nicht kennen. Sie wissen daher nicht um ihre Risikoscheu und können diese folglich auch nicht berücksichtigen.

Rawls hat das Problem des MaxiMin-Ansatzes in seinem Werk bereits erkannt – er hat es aber nicht zufriedenstellend gelöst.

Sind die Menschen im Urzustand überhaupt Menschen?

Wenn Rawls seinen Gesellschaftsmitgliedern im Urzustand sämtliche Präferenzen, Emotionen, sämtliche Gewohnheiten und jedes personelles Wissen nimmt, sind diese Subjekt überhaupt noch Menschen? Wie können Entscheidungen derartiger Subjekte für eine menschliche Gesellschaft relevant sein?

Alles, was Menschen zu ebensolchen macht, hat Rawls ihnen genommen. Das macht das Ergebnis seiner fiktiven Verfassungswahl zum einen völlig unrealistisch und im Übrigen nicht auf eine menschliche Gesellschaft anwendbar.

Ist die „Theorie der Gerechtigkeit“ überhaupt eine Vertragstheorie?

Man kann mit Recht fragen, inwieweit die Rawls’sche Theorie noch den Ansprüchen an eine Vertragstheorie genügt. Sie enthält keinerlei Verhandlungsmomente („bargaining“-Komponente). Die Einigung erfolgt einstimmig. Niemand verzichtet auf etwas zu Gunsten eines anderen. Die Prinzipien Rawls’ sollen auch explizit eben gerade nicht deswegen gelten, weil ein Vertrag existiert, sondern weil sie der Vernunft entsprechen und mit den intuitiven Moral-Gerechtigkeits-Fairness-Auffassungen der Gesellschaftsmitglieder entsprechen.

Damit unterscheidet sich die von Rawls selbst so bezeichnete „Vertragstheorie“ ganz grundlegend von den klassischen Vertretern dieser Art wie etwa die Theorien von Hobbes oder Nozick. Denn dort haben die Vertragspartner handfeste eigene Interessen, auf die sie zu Gunsten anderer verzichten, mit dem Ziel, wiederum eigene andere Interessen noch besser wahrnehmen zu können.

Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit als Kohärenztheorie

Nach Wolfgang Kersting ist die Rawlsche Konzeption daher kohärenztheoretischer Natur. Als kohärenztheoretisches Konzept bezeichnet man eine Theorie, die die Gültigkeit der getroffenen Aussagen mit unseren Alltagsurteilen abgleicht. Dabei werden emotional verzerrte, unvernünftige Urteile aussortiert. Dies geschieht bei Rawls durch die entsprechende Konzeption des Urzustandes. Eine inhaltliche Übereinstimmung wird durch Abstraktion von Einzelfällen und entsprechender Explikation der daraus gewonnen Erkenntnisse gewonnen. Dabei kristallisiert sich schrittweise ein widerspruchsfreier Zusammenhang heraus. Dadurch soll sich schließlich eine Kohärenz (= nach außen gerichteter Zusammenhang) mit unseren Alltagsurteilen ergeben.

Durch Rückkopplung zwischen Einzelurteilen und Prinzipien erfolgt eine stetige Weiterentwicklung. Rawls wird diesem Aspekt durch sein „Überlegungsgleichgewicht (‚reflective equilibrium‘)“ gerecht. Durch die prinzipielle Endlosigkeit dieses Reflexionsprozesses unterliegen die gefundenen Prinzipien dem Vorbehalt der Vorläufigkeit. Es entwickelt sich eine Common-sense-Moralität.

Die Alltagsurteile bilden dabei den logischen Vorrang und sind die Basis für die Explikationsprinzipien. Vor diesem Hintergrund ist allerdings unklar, was Rawls eigentlich mit seiner Theorie erreichen will. Sie reduziert sich anhand dieser Überlegung als bloße Niederlegung der aktuellen Moralauffassung, und dies auch nur auf einem geografisch eingegrenzten Bereich zu einem bestimmten Zeitpunkt. Allerdings wird sie noch nicht einmal dort Einstimmigkeit erzielen können.

Einzelnachweise

  1. Der deutschen Ausgabe von 1975, übersetzt von Hermann Vetter, liegt eine gegenüber der Originalausgabe durch Rawls überarbeitete Fassung von 1975 zugrunde, auf der auch alle weiteren Übersetzungen in andere Sprachen beruhen. In dieser aktualisierten Fassung ist Rawls bereits auf einige Kritiken insbesondere aus dem amerkanischen Raum eingegangen. Seine Erläuterungen hierzu sind abgedruckt in Otfried Höffe: John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Reihe Klassiker auslegen, Akademie Verlag, Berlin 1997, 2. Aufl. 2006, 295-301
  2. Zitate aus dem Buch erfolgen nach der deutsche Taschenbuchausgabe, Suhrkamp, Frankfurt 1975, (mehrfach nachgedruckt) mit: TG Kapitel.Abschnitt, Seite(n) (ggf. zusätzlich mit Angabe der Fußnote (FN))
  3. Two Concepts of Rules, in: The Philosophical Review 64, 1955, 3–32; deutsch in: Einführung in die utilitaristische Ethik, hrsg. von Otfried Höffe, UTB, München 1975
  4. Outline of a Decision Procedure for Ethics, in: Philosophical Review 60, 1951; deutsch in: Texte zur Ethik, hrsg. von Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster, Beck, München 1976, 177–191

Literatur