Kettenregel
Die Kettenregel ist eine der Grundregeln der Differentialrechnung zur Ermittlung der Ableitung. Sie bildet einen Spezialfall der verallgemeinerten Kettenregel für den eindimensionalen Fall. Sie ist auch das Gegenstück zur Integration durch Substitution in der Integralrechnung.
Eine zusammengesetzte Funktion ist eine Funktion, die sich aus zwei oder mehreren differenzierbaren Funktionen zusammensetzt. Die zusammengesetzten Funktionen nennt man verkettet. Man leitet die zusammengesetzte Funktion nach der Vorschrift der Kettenregel ab. Mit Hilfe der Kettenregel lässt sich also die Steigung einer Funktion bestimmen, deren zusammensetzende Funktionen beliebig ineinander verschachtelt sind.
Die Ableitung der verketteten Funktion erhält man, indem man jede Verkettungsebene (also jede zusammensetzende Funktion) für sich ableitet und diese Ergebnisse miteinander multipliziert.
Seien und Funktionen mit . Die Funktion v sei im Punkt differenzierbar und u sei im Punkt differenzierbar. Dann ist die zusammengesetzte Funktion
im Punkt differenzierbar und es gilt:
In Worten: Die Ableitung der Gesamtfunktion ist das Produkt aus der äußeren Ableitung und der inneren Ableitung .
Ist v(x) für das Intervall [a,b] definiert, und der Wertebereich für v, so muss u' im Bereich definiert sein.
Beispiel
Es wird die durch definierte Funktion f betrachtet. lässt sich darstellen als Verkettung der Funktion u, gegeben durch
mit der Funktion v, definiert durch
denn es gilt , wie man durch Einsetzen von u in v sofort herausfindet. In der Terminologie der Kettenregel bezeichnet u die äußere, v die innere Funktion. Für die Anwendung der Kettenregel benötigen wir die Ableitungen ("äußere Ableitung") und ("innere Ableitung"):
und
Da sowohl u als auch v differenzierbar sind, ist nach der Kettenregel auch differenzierbar, und es gilt für ihre Ableitung:
Nun ist , so dass wir insgesamt erhalten:
Es ist üblich, der Übersicht halber in der äußeren Funktion die unabhängige Variable mit dem Funktionssymbol der inneren Funktion zu identifizieren, obwohl die Benennung der Variable prinzipiell keine Rolle spielt. In diesem Sinne verwendet man die Variable v sozusagen als Abkürzung für den Term, der in der Klammer steht. In dieser Schreibweise ist dann die äußere Funktion durch
,
die innere durch
gegeben. An diesem Beispiel lässt sich die Kettenregel im Sinne der Konstruktivistischen Didaktik auch selbst entdecken. Durch Ausquadrieren ergibt sich:
- .
Nach Ableiten wird durch Ausklammern die innere Funktion herauspräpariert:
- .
Hieraus lässt sich dann die Kettenregel vermuten, die dann noch in ihrer Allgemeingültigkeit bewiesen werden muss.
Man beachte, dass die Darstellung einer Funktion als Verkettung einer inneren mit einer äußeren Funktion keineswegs eindeutig ist. So lässt sich die Beispielfunktion alternativ auch als Verkettung der Funktionen
und
auffassen, denn auch für diese beiden Funktionen gilt:
Die Anwendung der Kettenregel ist in diesem Fall allerdings nicht so simpel, da für die Ableitung von keine elementare Regel zur Verfügung steht. Ausmultiplizieren liefert:
und damit
Wegen liefert die Kettenregel mit diesen beiden Funktionen das Ergebnis
was mit unserem ersten Ergebnis übereinstimmt. Man kann also durchaus verschiedene, rechentechnisch günstigere und weniger günstige Darstellungen einer Funktion als Verkettung zweier Funktionen ansetzen.
Geometrische Veranschaulichung
Von x zum Funktionswert u(v(x)) kann man gelangen, indem man zuerst v(x) und dann u(v) berechnet. Die Funktion v(x) hat die Steigung v'(x) (=innere Ableitung). Die Funktion u(v) hat die Steigung u'(v) (=äußere Ableitung). Die Steigung von u(v(x)) ist u'(x). (=Gesamtableitung)
Der Term entsteht dabei durch Erweiterung des Bruchs mit , also Multiplikation mit und Umschreibung. Zu beachten ist hierbei: Die Verkettung von Funktionen ist etwas ganz anderes als die Multiplikation von Funktionen.
Für die Differenzenquotienten gilt (siehe Abbildung):
Durch den Grenzübergang Δx → 0 werden aus den Differenzenquotienten die Differentialquotienten. Aus der obigen Abbildung geht hervor: Wenn Δx → 0, dann auch Δv → 0.
Man erhält dann insgesamt für die Ableitung der verketteten Funktion:
Anmerkung: Die hier verwendete Schreibweise mit Differentialen (z. B. ) nach Leibniz ist äquivalent zur obigen Schreibweise nach Lagrange, vgl. auch den letzten Absatz dieses Artikels.
Beweis
Sei
Weil in differenzierbar ist, gilt
das heißt, ist bei stetig. Außerdem gilt für alle
Daraus folgt
Verallgemeinerung auf mehrfache Verkettungen
Etwas komplizierter wird das Differenzieren, wenn mehr als zwei Funktionen verkettet sind. In diesem Fall wird die Kettenregel rekursiv angewendet. Beispielsweise ergibt sich bei Verkettung von drei Funktionen u, v und w:
- aussehen
Beim praktischen Berechnen der Ableitung multipliziert man also Faktoren, die sich folgendermaßen ergeben:
Den ersten Faktor erhält man dadurch, dass man die äußerste Funktion durch eine unabhängige Variable ausdrückt und ableitet. Anstelle dieser unabhängigen Variablen ist der Rechenausdruck für die restlichen (inneren) Funktionen einzusetzen. Der zweite Faktor wird entsprechend berechnet als Ableitung der zweitäußersten Funktion, wobei auch hier der Rechenausdruck für die zugehörigen inneren Funktionen einzusetzen ist. Dieses Verfahren setzt man fort bis zum letzten Faktor, der innersten Ableitung.
Verallgemeinerung für höhere Ableitungen
Eine Verallgemeinerung für höhere Ableitungen ist wesentlich komplizierter und schwieriger zu beweisen. Sie ist als Formel von Faà di Bruno bekannt.
Abweichende Notationen in der Physik und anderen Wissenschaften
In vielen Naturwissenschaften wie der Physik, aber auch in der Ingenieurswissenschaft findet die Kettenregel breite Anwendung. Allerdings hat sich hier eine besondere Notation entwickelt, die von der mathematischen Notation der Kettenregel deutlich abweicht.
Vorstellung der Notation
In physikalischer Literatur wird für die Ableitung einer Funktion nach der Variable in der Regel die Schreibweise
bevorzugt. Ist eine Verkettung zweier Funktionen: mit , so präsentiert sich die Kettenregel in dieser Notation:
Es ist zusätzlich gängige Konvention, die unabhängige Variable der Funktion mit dem Funktionsymbol der inneren Funktion zu identifizieren, dafür aber sämtliche Argumentklammern auszulassen:
Letztlich wird für die Verkettung kein neues Symbol eingeführt, sondern die gesamte Verkettung mit der äußeren Funktion identifiziert: . Die Kettenregel nimmt dann das folgende, etwas fremdartige Aussehen an:
Rein formal stellt sich die Kettenregel hier als eine Erweiterung des "Bruches" mit dar, so dass es in physikalischer Fachliteratur (und auch in anderen Natur- und Ingenieurswissenschaften) gängig ist, die Kettenregel bei Anwendung nicht namentlich zu erwähnen. Stattdessen findet man oft Ersatzformulierungen, so ist etwa von der "Erweiterung von mit " die Rede, teilweise fehlt eine Begründung vollständig. Auch wenn dies für das ungeübte Auge nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist, steckt hinter all diesen Formulierungen ausnahmslos die Kettenregel der Differenzialrechnung. Obwohl die vorgestellte Notation mit einigen mathematischen Konventionen bricht, erfreut sie sich großer Beliebtheit und weiter Verbreitung, da sie es ermöglicht, mit Ableitungen (zumindest rein formal) wie mit "normalen Brüchen" zu rechnen. Viele Rechnungen gestaltet sie außerdem übersichtlicher, da Klammern entfallen und nur sehr wenige Symbole verwendet werden müssen. Vielfach stellt auch die durch eine Verkettung beschriebene Größe eine bestimmte physikalische Variable dar (z.B. eine Energie oder eine Spannung), für die ein bestimmter Buchstabe "reserviert" ist (etwa E für Energie und U für Spannung). Die obige Notation ermöglicht es, diesen Buchstaben in der gesamten Rechnung durchgängig zu verwenden.
Beispiel
Die kinetische Energie eines Körpers hängt von seiner Geschwindigkeit v ab: . Hängt die Geschwindigkeit wiederum von der Zeit t ab, v = f(t), so ist auch die kinetische Energie des Körpers eine Funktion der Zeit, die durch die Verkettung
beschrieben wird. Möchten wir die Änderung der kinetischen Energie nach der Zeit berechnen, so gilt nach der Kettenregel
In physikalischer Literatur würde man die letzte Gleichung in folgender (oder ähnlicher) Gestalt vorfinden:
Klarer Vorteil ist die durchgängige Verwendung von Funktionssymbolen, deren Buchstaben mit denen der zugrunde liegenden physikalisch relevanten Größe (E für Energie, v für Geschwindigkeit) übereinstimmen.