Analphabetismus
Als Analphabetismus bezeichnet man kulturell, bildungs- oder psychisch bedingte individuelle Defizite im Lesen und/oder Schreiben bis hin zum völligen Unvermögen in diesen Disziplinen. Ist dagegen eine ganze Sprach- oder Kulturgemeinschaft betroffen, was im Laufe des 20. Jahrhunderts sehr selten geworden ist, spricht man von Schriftlosigkeit, "Mündlichkeitskultur" oder Oralität.
Der Alphabetisierungsgrad (englisch: Adult Literacy Rate) ist der Anteil derjenigen an der Erwachsenen (über 15 Jahre) an der Bevölkerung, die lesen und schreiben können. Der Gegenwert zum Alphabetisierungsgrad ist die Analphabetenrate. Sie trägt zur Ermittlung des Human Development Index der Vereinten Nationen bei.
Analphabeten gibt es noch zahlreich, auch in vielen Industrienationen, etwa in Europa, die ein allgemein zugängliches Bildungssystem aufweisen. Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung sind Analphabeten nicht unbedingt die dümmsten Mitmenschen, denn es bedeutet eine beachtliche Leistung, in einer auf der Schrift basierenden Gesellschaft ohne das geschriebene Wort zurecht zu kommen.
2003 gelten weltweit 862 Millionen als Analphabeten. In Deutschland sind 2004 nach Schätzungen 0,6% der Erwachsenen Analphabeten. Du bist keiner.
Definitionen und Differenzierungen
Für Analphabetismus gibt es mehrere Definitionen:
- Von totalem Analphabetismus spricht man, wenn Menschen nie lesen und schreiben gelernt haben.
- Von sekundärem Analphabetismus spricht man seit den 70er Jahren, wenn die Fähigkeiten zum schriftlichen Umgang mit Sprache wieder verlernt wurden. Eine der Hauptursachen hierfür ist die zunehmende Ablösung der Schrift- und Printmedien durch das Telefon und die Bildschirmmedien.
- Als funktionaler Analphabetismus wird die Unfähigkeit bezeichnet, die Schrift im Alltag so zu gebrauchen, wie es im sozialen Kontext als selbstverständlich angesehen wird. Funktionelle Analphabeten sind Menschen, die zwar Buchstaben erkennen und durchaus in der Lage sind, ihren Namen und ein paar Worte zu schreiben, die jedoch den Sinn eines etwas längeren Textes entweder gar nicht verstehen oder nicht schnell und mühelos genug verstehen, um praktischen Nutzen davon zu haben. Eine feste Grenze zwischen "verstehen" und "nicht verstehen" existiert freilich nicht.
Alphabetisierungsgrad in Deutschland
Strebt der Alphabetisierungsgrad in Deutschland (gemessen an der Zahl der totalen Analphabeten), wie in den meisten Industrieländern, gegen 100%, nimmt man doch an, dass es ca. 4 Millionen funktionale Analphabeten gibt. Nach einer OECD-Studie (1994-1998) liegt die Zahl der funktionalen Analphabeten in 2 von 3 Industriestaaten höher als 15%.
Alphabetisierungsgrad weltweit
Definition der OECD
Bei der funktionalen Alphabetisierung handelt es sich um relative Daten, die immer im Bezug auf die sozialen Standards der jeweiligen Gesellschaft gesehen werden müssen. Dagegen misst beispielsweise die OECD den Alphabetisierungsgrad mit einer global einheitlichen Definition. Die Zahlen beziehen sich auf Erwachsene (über 15 Jahre). Ein Alphabetisierter (literate) wird hier wie folgt definiert:
- „A person is said to be literate when he or she can both read and write with understanding a short and simple statement on his or her everyday life.“
- „Eine Person wird als alphabetisiert bezeichnet, wenn sie eine kurze, einfache Aussage zu ihrem alltäglichen Leben mit Verständnis sowohl lesen als auch schreiben kann.“
Alphabetisierte Bevölkerung; geschätzt (Quelle: OECD) | ||
1970 | 2000 | |
weltweit | 63 % | 79 % |
Entwickelte Länder und Transformationsländer | 95 % | 99 % |
Least Developed Countries (LDC) | 47 % | 73 % |
Landlocked Developing Countries (LLDC) | 27 % | 51 % |
Diese Daten werden der OECD von den jeweiligen Ministerien zur Verfügung gestellt. Es handelt sich meist um Selbstauskünfte, die geschönt sein können. Da es ein sogenanntes verdecktes Analphabetentum in allen Ländern der Erde gibt, kann die tatsächliche Alphabetisierung hinter den angegebenen Zahlen zurückbleiben. Auch ist die binäre Bewertung der Lese- und Schreibfähigkeit (entweder Analphabet oder Alphabet) wenig realitätsnah.
Der Alphabetisierungsgrad, engl. adult literacy rate, trägt zur Ermittlung des Human Development Index der Vereinten Nationen bei.
Beispiele für den Stand der Alphabetisierung ausgewählter Länder
(alles Angaben aus dem "Human Development Report 2003")
Hochentwickelte Länder nach UNDP
- Norwegen 99%, Rang 1 in der HDI-Liste
- Deutschland 99%, Rang 18 in der HDI-Liste
Mittelentwickelte Länder nach UNDP
- Rumänien 98%, Rang 72 in der HDI-Liste
- Bangladesch 41%, Rang 139 in der HDI-Liste
Niedrigentwickelte Länder nach UNDP
- Haiti 51%, Rang 150 in der HDI-Liste
- Niger 17%, Rang 174 in der HDI-Liste
Alphabetisierung und Entwicklung
Der Alphabetisierungsgrad gilt als einer der wichtigsten Entwicklungsindikatoren. Die OECD berechnet die Alphabetisierung gesondert für die 15-24jährigen, da hier die Resultate der Bildungsanstrengungen eines Landes am schnellsten wirksam sind und die Alphabetisierung der jungen Bevölkerung (die in Entwicklungsländern meist einen großen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachen) billiger ist. Die OECD hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2015 den Alphabetisierungsgrad der 15-24jährigen in allen Ländern auf 99% zu steigern. Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2003-2013 zur UNO-Alphabetisierungdekade erklärt.
Der Alphabetisierungsgrad ist in Ländern mit niedrigem und mittlerem Pro-Kopf-Einkommen seit 1960 von einem Drittel auf über die Hälfte gestiegen. 2003 galten weltweit 862 Millionen als Analphabeten. Mangelnde Bildung gilt als eines der größten Hindernisse gesellschaftlicher Entwicklung. Besonders betroffen sind arme und bevölkerungsreiche Länder wie z.B. Bangladesch, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Ägypten, Mexiko, Nigeria und Pakistan. Alphabetisierung ist eine notwendige Bedingung für Entwicklung, aber keine hinreichende. Gibt es keine Wirtschaft, die die gestiegene Alphabetisierung nutzt, kommt es zu Abwanderung, wie z.B. auf den Philippinen.
In vielen Ländern (vor allem in Afrika) ist der Alphabetisierungsgrad bei Männern weit höher als bei Frauen, da Frauen und Mädchen der Zugang zu Bildung dort vielfach verwehrt wird.
Alphabetisierung am Beispiel Nicaragua
Es gab immer wieder Versuche einzelner Länder, den Alphabetisierungsgrad kurzfristig zu erhöhen. Als beispiellos in der Geschichte der Bildung kann die Alphabetisierungskampagne in Nicaragua zu Beginn der 1980er Jahre gesehen werden. Nach dem Sturz der Somoza-Diktatur erklärte die sandinistische Regierung die Alphabetisierung des Landes zu einer ihrer Hauptaufgaben. Im sogenannten "Kreuzzug gegen die Ignoranz" zogen etwa 100.000 Freiwillige in die entlegenen Dörfer der ländlichen Gebiete und unterrichteten, zum Teil in drei Schichten am Tag. In nur zwei Jahren gelang es, die Analphabetenquote von 65% auf 12% zu senken. Nach der Abwahl der sandinistischen Regierung 1990 wurden die Bemühungen im Bildungswesen zurückgeschraubt. Zur Zeit besuchen ein Drittel der schulpflichtigen Kinder Nicaraguas - etwa 800.000 - keine Schule mehr. Die Analphabetenquote liegt laut UNO-Statistik wieder bei 30% - Tendenz steigend. Andere Kampagnen, wie die kubanische Alphabetisierungskampagne, erzielten einen längerfristigen Erfolg.
Siehe hierzu auch: Sonntagsschule und Rawa
Siehe auch
Weblinks
- Ich will schreiben lernen (Projekt des Deutschen Volkshochschul-Verbandes und des Bundesverbandes Alphabetisierung, BMBF gefördert)
- http://www.alphabetisierung.de/ Bundesverband Alphabetisierung e.V. Unterhält das anonyme Beratungstelefon "ALFA TELEFON"
- http://www.apoll-online.de/ Projekt APOLL zur Realisierung des E-Learning Portals "ich-will-schreiben-lernen.de". Bietet viele Informationen zum Thema
- http://www.alphabetisierung.at
- United Nations Literacy Decade (engl.)
- http://www.theliteracysite.com (engl.)