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Moderne Architektur in Indien

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Architektur und Moderne in Indien – ein Überblick

Dieser Text gibt einen Überblick über die Entwicklung der indischen Architektur seit der Unabhängigkeit von 1947. Zur Einführung soll dieser historische Abriß der indischen Architektur seit der Kolonialzeit dienen. Der Schwerpunkt liegt auf den letzten beiden Jahrzehnten, jedoch werden auch solche Bauwerke vorgestellt, die beispielhaft die Entwicklungsphasen hin zu einer eigenständigen und selbstbewussten indischen Architektur illustrieren.

Beim Studium der bisherigen Literatur zu indischer Architektur fällt - neben einer ausführlichen Rezeption älterer Bauformen aus hinduistischer und Mogulzeit - ein eklatanter Mangel an Besprechungen neuer indischer Architektur auf. Dem scheint das implizite Missverständnis zugrunde zu liegen, nur Architektur vor dem britischen Raj sei „indisch“, verkennend, dass zu allen Zeiten Fremdeinflüsse auf dem Subkontinent wirksam wurden, mit den autochthonen Stilen verschmolzen, diese befruchteten und weiterentwickelten.

Typische Stilelemente, wie die aus der hinduistischen Architektur stammende Ausbildung des Daches als Tonnengewölbe, das Shikhara genannte, steil aufragende Tempeldach und sein buddhistischer Vorläufer, die Stupa, der mit den islamischen Eroberern eingeführte echte Bogen, das Kuppeldach und der Arkadengang bereicherten den Kanon der Architektur des Subkontinents und finden sich auch in vielen neueren Bauwerken wieder. Gleiches gilt für klassische indische Werke zur Gartenbaukunst und Stadtplanung.

Während der britischen Kolonialzeit bildeten die zunächst befestigten Handelsniederlassungen der East India Company Madras, Bombay und Calcutta und von ihnen ausgehend die rund 175 Militärstationen - „Cantonments“ genannt - den Nukleus erster britischer Stadtgründungen. Die Siedlungen waren auf einem rechtwinkligem Raster angelegte, autarke Einheiten mit eigenen Kirchen, Märkten, Wohnvierteln und wurden in einem Abstand von 8-10km von den indischen Siedlungen angelegt und durch Straßen und Eisenbahnen mit ihnen verbunden.

Mit der Konsolidierung der britischen Kolonialmacht beginnt britische Architektur auch den öffentlichen Raum indischer Städte zu formen. Die ab 1840 im neogotischen Stil errichteten Kirchen (Christ Church, Shimla, 1844), Museen (Indian Museum Calcutta, 1875), Bildungseinrichtungen (Bombay University, Bombay, 1870) und Bahnhöfe (Victoria Terminus Bombay, 1887) zeigen, wie sehr diese Architektur ein Spiegelbild europäischer Strömungen war. Sie sollten, da sie mit dem Höhepunkt britischer Kolonialmacht in der Welt zusammenfielen, die Größe und Überlegenheit der europäischen Kultur demonstrieren.

Mit dem Umzug der britischen Kolonialregierung nach Delhi und der Errichtung New Delhis ging ein Umdenkungsprozess einher. Die Bauwerke aus dieser Zeit zeigen den Versuch, indische Elemente mit dem europäischen Klassizismus zu einer neuen indischen Architektur zu verschmelzen. Großzügige Kolonnaden, offene Veranden, schlanke hohe Fensteröffnungen, Chhajjas (weite Dachüberstände) und Gesimse, Jaalis (Lochblenden aus Stein) und Chhatris (frei stehende Pavillons) wurden als Zierelemente eingesetzt. Beispiele sind der Capitol Complex in Delhi (Herbert Baker, 1912) und der Palast des Vizekönigs (Edwin Luyens). Neben dem Einsatz indischer Elemente als appliziertes Ornament erinnert hier der Baukörper selbst mit seiner zentralen hohen Kuppel an die buddhistische Stupa, die Geländer erinnern an die Stupa in Sanchi - auch der Park wurde nach dem Vorbild der Mogul-Gärten geplant.

Während sich repräsentative Gebäude der Regierung also weiterhin an historischen Stilen orientierten und eine Synthese indischer Architektur mit dem europäischen Klassizismus anstrebten, hielt die Moderne in Indien ab den 20er Jahren zunächst in kleineren Funktionsgebäuden Einzug. Die Notwendigkeit, Architektur für die lokale Bevölkerung nach den lokal vorhandenen Baustoffen, Baumethoden und klimatischen Bedingungen auszurichten, zeigt sich in Beispielen wie der St. Martin’s Church (1928) und St. Thomas’s Church (1929), New Delhi (Arthur Shoosmith), dem St. Stephens College, Old Delhi (1938, Walter George), ebenso im „Low Income Housing Complex“ im Gole Market und dem „Middle Income Complex“ in der Ferozshah Road, New Delhi (beide Henry Nicholls, 1920er Jahre). Sie zeigen die Anstrengung eine Architektur zu realisieren, die den einfachen Lebensbedingungen der Bevölkerung entspricht und ohne überflüssigen Zierrat mit lokalen Baustoffen und Bautechniken funktionale Gebäude hervorbringt. Mehr als drei Jahrzehnte vor Pierre Jeanneret, Maxwell Fry und Jane Drew in Chandigarh, waren diese Architekten vom handgeformten Backstein als Baumaterial fasziniert und machten ihn in Indien populär.


Architektur nach der Unabhängigkeit

Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit (1947) gab es nur rund 300 ausgebildete Architekten in Indien, einem Land mit zu diesem Zeitpunkt 330 Millionen Einwohnern und nur einer Ausbildungsstätte, dem Indian Institute of Architects in Bombay. Die frühe Periode der Unabhängigkeit war eine Zeit der Ambivalenz und Neuorientierung. Zwei Architekturströmungen dominierten, man kann sie als die „Revivalists" und die „Internationalisten" bezeichnen.

Die Revivalists suchten in ihrer Formensprache überkommene Muster zu integrieren. Ein wichtiger Vertreter war der Direktor des Indian Instiute of Architects in Bombay, Claude Batley, ein Engländer, der Wert auf das Studium klassischer griechisch-römischer und indischer Architektur legte. Seine Bauwerke waren einem indischen Art Deco verhaftet. Andere Revivalisten versuchten Bauformen zu entwickeln, die den zeitgemäßen Ansprüchen genügen, jedoch Anklänge an traditionelle Architektur beinhalten sollten. Dies führte zur Applizierung traditioneller dekorativer Motive auf ansonsten zeitgemäßen Gebäuden, um die Gebäude „indisch" aussehen zu lassen. So wurden z. B. horizontal gegliederte schlichte Fassaden durch die Bekrönung der Dächer mit Kuppeln und Kiosken dekoriert.

Die rückwärtsgewandte Ansatz der Revivalists entsprach nicht der Euphorie der frühen Jahre der Unabhängigkeit - im Gegensatz zum Internationalen Stil, der mit seinem Anspruch, universal und unbelastet von historischen oder kulturellen Einschränkungen zu sein, als Möglichkeit gesehen wurde, die Aufbruchstimmung nach der Unabhängigkeit zu verkörpern.

Prominentester indischer Vertreter der Internationalisten war Achyut Kanvinde, er kehrte 1947 als der erste in den USA ausgebildete indische Architekt zurück. Er hatte bei Walter Gropius in Harvard studiert und war stark beeinflusst von der Bauhausästhetik. Er wurde Chief Architect des Council of Scientific and Industrial Research und propagierte mit seinen Bauwerken - Verwaltungskomplexen und wissenschaftlichen Einrichtungen - den neuen Stil, der in seiner Ästhetik dem internationalen Stil verpflichtet war.

Westliche Vorbilder

Die Stadtneugründung Chandigarh, neue Hauptstadt des Punjab, wurde ein Schrittmacher moderner Architektur in Indien und eröffnete ein weites Feld für Planer, Architekten und Ingenieure. Hier konnten neue Baumaterialien (Sichtbeton, Sichtmauerwerk im Geschosswohnungsbau), Lösungen für klimagerechtes Bauen (Brise Soleil) und städtebauliche Lösungen erprobt werden. Bis in die 70er Jahre waren maßgebliche indische Architekten von LeCorbusiers Stil beeinflusst.

Nachdem die amerikanischen Architekten Albert Mayer und Mathew Nowicki einen ersten Masterplan entwickelt hatten, wurde 1950, nach dem Tod Nowickis, LeCorbusier - ein prominenter Vertreter der Moderne seit den 20er Jahren - beauftragt, den Masterplan zu überarbeiten und den Capitol Complex zu entwerfen. Sein Cousin Pierre Jeanneret und die britischen Architekten Maxwell Fry und Jane Drew wurden mit der Planung und Realisierung des Stadt beauftragt.

Louis Khan wurde 1962 eingeladen, den Campus des Indian Institute of Management in Ahmedabad zu entwerfen. Khans Experimente mit Sichtmauerwerk verhalfen dem Material zu einer herausragenden Stellung im Vokabular indischer Architektur. Da die Bauphase ein Jahrzehnt in Anspruch nahm und auch seine Projekte in Dhaka, der neuen Hauptstadt des heutigen Bangladesh, (damals Pakistan) sich verzögerten, wurde der Einfluss seiner expressiven Architektur mit ihren geometrischen Grundelementen und ihrem monumentalen Anspruch erst ab Mitte der 70er Jahre wirksam.

Emanzipation indischer Architekten

Aber schon in den 50er Jahren fand parallel zu den Arbeiten westlicher Architekten in Indien auch eine Fortentwicklung durch eine neue Generation indischer Architekten statt. Einer dieser Architekten war Balkrishna Vitalis Doshi, ein enger Mitarbeiter LeCorbusiers, und zunächst, bis 1950, in dessen Büro in Paris tätig. Ab 1954 war er mit der Bauleitung von LeCorbusiers Projekten in Ahmedabad beauftragt und entwickelte hier seine eigene Formensprache aus Projekten wie dem Sarabhhai House weiter. Unter Verwendung der gleichen Materialien wie sie die Chandigarh Baumeister einsetzten, führte er eine zeitlosere und undogmatische Qualität in seine eigenen Projekte ein.

Ein anderer junger indischer Architekt, Charles Correa, kehrte von seinem Studium in den USA zurück und entwarf mit dem Gandhi Smarak Sangrahalaya, einem kleinen Museum in Ahmedabad, 1960 eine Ruhe ausstrahlende Synthese aus westlicher Inspiration (Louis Khan‘s Trenton Bath Houses) und ihrer Umsetzung in der Materialität des benachbarten Gandhi-Ashrams.

Während der 60er ließ die Tendenz, ausländische Architekten nachzuahmen, nicht nach, vielmehr diversifizierten sich die Quellen der Inspiration durch gebaute Beispiele, deren Rezeption in den Medien und die Rückkehr vieler angehender Architekten von ihrem Auslandsstudium.


Architekturströmungen und Transformationen

Für sein Indian Institut of Technology in Kanpur verwarf Achyut Kanvinde die Geradlinigkeit des internationalen Stils, die seine ersten Arbeiten auszeichnete, zugunsten einer ausdrucksstarken Architektur räumlicher und struktureller Elemente und entwickelte so eine neue Formensprache, die in den Folgejahren in vielfältiger Weise adaptiert und mit neuen Materialien wie Sandstein umgesetzt wurde.

Kanvindes Mitarbeiter Morad Chowdurry, Ranjit Sabikhi und Ajoy Choudhury gründeten 1961 die Design Group, Delhi und errichteten in der ersten Hälfte der 60er Jahre verschiedene Institutsgebäude sowie niedrige Wohngruppen mit expressiver Artikulation, die Moshe Safdies Experimental-Wohnprojekt Habitat für die Weltausstellung 1967 in Montreal antizipierten.

Ab den 70er Jahren waren Lösungen für städtisches Wohnen ein Schwerpunkt indischer Architekten. Ranjit Sabikhi und Ajoy Choudhury warben für die Qualitäten verdichteter traditioneller Wohnformen und zeigten mit Projekten wie der Yamuna Housing Society in New Delhi die Qualitäten einer Wohnsiedlung mit niedrigen Gebäuden, halböffentlichen Chowks (kleinen Plätzen) und Fußgängerstraßen auf. Charles Correa entwickelte mit den benachbarten Tara Appartements eine ähnliche introvertierte Anordnung. Raj Rewal orientierte sich bei seinem Wohnprojekt Asian Games Village in New Delhi 1982 noch stärker an einheimischen Vorbildern.


Ausblick

Die aktuelle Entwicklung indischer Architektur zeigt ein weites Spektrum architektonischer Stile und einen undogmatischen Pluralismus. Seit Ende der 80er Jahre öffnet sich die indische Wirtschaft. Ausdruck findet die neue Ökonomie in Gebäuden wie Charles Correas L.I.C. Building in New Delhi, Raja Aederi's Hotel Le Meridien, New Delhi oder den Mahindra and Mahindra Head Office in Bombay. Seit Mitte der 90er entstehen nach westlichem Vorbild Shopping Malls wie Gurgaon bei Delhi.

Seit dem Ende der 80er Jahre halten auch Ideen des ökologischen Bauens Einzug in Indien. Ressourcenschonende Herstellung der Materialien aus lokalen Baustoffen, Regenwassergewinnung und Lehmbau sind Ansätze, wie sie Chitra Vishwanath in ihren Wohngebäuden in Bangalore für ihre Kunden aus der neuen indischen Mittelschicht errichtet. Ein anderer Ansatz ist die mehr technologisch orientierte Herangehensweise, die traditionelle Elemente wie Windtürme paart mit Solaranlagen zur Stromgewinnung und durch Arvind Krishan vertreten wird. Sie ähnelt somit sehr unserer in Deutschland aktuellen Debatte um energieeffizientes Bauen.

Gleichzeitig zeigen die letzten Jahre eine neue Bewusstheit und Suche nach einer indischen Identität. Die Architekten beziehen sich dabei explizit auf ihre Inspiration aus der indischen Philosophie, so bei Balkrishna Doshis Hussain-Doshi Gufa in Ahmedabad oder dem British Council in Delhi von Charles Mark Correa und zeigen dabei in ihren Werken voller Poesie eine virtuose künstlerische Umsetzung einheimischer Gedankenwelt und Weltanschauung.

Siehe auch: Geschichte Indiens

Unter folgende Adresse können drei PDF-Dateien mit detailierten Bauwerksbeschreibungen sowie dieser Text mit Abbildungen kostenlos heruntergeladen werden. Die drei Dateien sind im Format DIN A4 quer layoutet, so daß sie ausgedruckt und als handlicher Flyer mit auf die Indienreise genommen werden können.


Literatur

  • Modern Architecture in India. Post-Independence Perspective. Sarbjit Bahga, Surinder Bahga, Yashinder Bahga. Galgotia Publishing Company, New Delhi, 1993.
  • After the Masters. Contemporary Indian Architecture. Vikram Bhatt, Peter Scriver, Mapin Publishing Pvt. Ltd., Ahmedabad, 1990
  • A History of Indian Architecture. India's Architectural Heritage. Ashish Nangia. www.boloji.com, 2001