Icmesa
Am 10. Juli 1976 passierte in der chemischen Fabrik Icmesa S.p.A in Meda bei Mailand eine der schlimmsten Chemieunglücke des 20. Jahrhunderts. Die Katastrophe ging als Seveso-Unglück in die Annalen der Geschichte ein.
Firmengeschichte
Die Icmesa wurde 1921 als "Industrie Chimiche Mendionali Società Azionaria" in Neapel gegründet. Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Fabrikanlagen in Neapel zerstört.
1946 erfolgte eine Neugründung unter dem Namen "Industrie Chimiche Meda Società Azionaria". Das Akronym "Icmesa" wurde also beibehalten und der Firmensitz von Neapel nach Meda bei Mailand verlegt.
Im Jahre 1963 kaufte der 1896 gegründete Konzern Hoffmann-La Roche in Basel die Riechstoff- und Aromenfirma Givaudan S.A. in Vernier bei Genf als Teilaktionär der Icmesa.
Givaudan erwarb 1965 die Aktienmehrheit der Icmesa. Nach dem Kauf der restlichen Aktien begann 1969 bei Icmesa die Produktion von Trichlorphenol, einem Zwischenprodukt bei der Herstellung von Hexachlorophen. Hexachlorophen ist ein Desinfektionsmittel, welches in den Medizinalseifen der Roche-Gruppe Verwendung fand.
Vorgeschichte des Unfalls
Bis Sommer 1976 wurde die Trichlorphenolproduktion beträchtlich gesteigert, obwohl einige Anwohner der Icmesa über Geruchsbelästigungen und gesundheitliche Beschwerden klagten. Auch die immer wieder in der Konzernleitung diskutierte notwendige Modernisierung der Produktion wurde nicht umgesetzt.
Die Arbeitsbedingungen in der TCP-Produktion waren schlecht. Die Arbeiter waren hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt und verfügten über eine unzureichende Ausbildung. Ein Arbeiter berichtete später Folgendes: "Wenn eine Birne der Beleuchtungsanlage unserer Abteilung kaputt war, musste man erstmal Dampf unter Druck austreten lassen, um die giftigen Rauchwolken, die sich ständig unter dem Dach sammelten, zu entfernen, bevor einer von uns mit einer Leiter die Birne wechseln durfte." Außerdem musste die Belegschaft, die zum Zeitpunkt des Unglücks 163 Beschäftigte umfasste, ständig die Abteilungen wechseln und konnte sich nicht richtig einarbeiten und Erfahrungen sammeln.
Chronlogie des Unfalls
Im Juli 1976 kam es zu einem fatalen menschlichen Versagen. Am Nachmittag des 9. Juli besprach der Produktionsleiter mit den Vorabeitern der TCP-Produktion den Plan für die kommende Woche. Im Bau B auf dem Werksgelände der Icmesa sollte wie üblich Trichlorphenol produziert werden. Hierzu wurde um 16.00 Uhr des gleichen Tages mit der Beschickung und Beheizung des "Reaktionskessels 101" begonnen. Gegen Abend begann der Reaktor zu arbeiten. Die Nachtschicht führte die Produktion. Um 2.30 Uhr am 10. Juli war laut Temperaturdiagramm die Reaktion des Kesselinhalts beendet. Der frühe Samstagmorgen wurde von der Destillation des Endproduktes bestimmt. Um 6.00 Uhr war die Nachtschicht beendet. Vor dem Verlassen seiner Arbeitsstelle schaltete ein Operateur das Rührwerk des Autoklaven 101 ab. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich später herausstellt.
Die zu diesem Zeitpunkt gemessene Temperatur von 158 °C war zu hoch. Dadurch, dass der Kesselinhalt keine Umschichtung mehr erfuhr, kam es quasi zu einem Wärmestau.
Das Wartungs- und Reinigungspersonal im "Raparto B" merkte von der sich anbahnenden Katastrophe nichts. Außerdem besaß es unzureichende Instruktionen, wie in einem Notfall zu handeln wäre.
Die chemische Kettenreaktion begann gegen halb eins, zunächst langsam, dann mit schnellem Druck- und Temperaturanstieg und endete schließlich in einer Explosion.
Um 12.37 Uhr platzte die Berstscheibe eines Sicherheitsventils infolge von 4 atü Überdruck. Über eine Abblasestation entlud sich Kessel 101 an die Umwelt. Ein Auffangreservoir, wie es in vielen Betrieben für möglicherweise hochtoxische Produkte Vorschrift ist, gab es in der Icmesa nicht.
Über eine halbe Stunde wurde abgeblasen. Das abgegebene Gemisch bestand im Wesentlichen aus folgenden Substanzen: 2,4,5-Trichlorphenol, Natrium-2,4,5-Trichlorphenolat, 1,2,3,4-Tetrachlorphenol, Natriumhydroxid, 2,3,7,8-Tetrachlor-dibenzo-p-dioxin (TCDD). Davon waren etwa ein bis zwei Kilogramm TCDD, eine hochgiftige Substanz, zehntausendmal giftiger als Zyankali!
Die sich ausbreitende Giftwolke trieb in südöstliche Richtung und ging hauptsächlich über den Gemeinden Seveso, Meda, Desio und Cesano Maderno nieder.
Erst um 13.45 traf fachkundiges Personal in der Icmesa ein und konnte den Reaktor auf ungefährliche Grade abfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 1800 Hektar Land auf Jahre verseucht.
In den folgenden Tagen warnte die Werksleitung Anwohner der Fabrik, Obst und Gemüse aus heimischen Gärten zu verzehren und informierte die zuständigen Behörden. Außerdem wurden Proben vom Werksgelände und der Umgebung gesammelt und ins Zentrallabor der Givaudan nach Dübendorf/Schweiz überstellt. Den Chemikern in Dübendorf gelang nach aufwändigen chemischen Analysen in Tag- und Nachtschicht, TCDD in den Proben nachzuweisen, und eine Karte über die Ausbreitung der hochgefährlichen Substanz zu erstellen.
Trotzdem wurde noch eine ganze Woche in der Fabrik weiter gearbeitet. Obwohl die Blätter von Bäumen und Sträuchern in der Umgebung welkten und verdorrten, zahlreiche Tierkadaver aufgefunden wurden sowie viele Kinder und Erwachsene an schwerer Chlorakne litten, reagierten die Behörden zu spät und schlossen die Fabrik zum 17. Juli. Und das auch erst, nachdem Arbeiter der Icmesa in einen wilden Streik getreten waren und der Druck seitens der Öffentlichkeit zunahm.
Am 26. Juli verließen zunächst 208 Bewohner das verseuchte Gebiet. Die Zwangsräumung wurde behördlich angeordnet und das gefährdete Gebiet militärisch abgesperrt. Bewaffnete Sodaten mit zum Teil schweren Schutzanzügen und Gasmasken patroullierten in den Straßen. Stacheldraht und Barrikaden wurden ausgelegt, Straßen voll gesperrt. In der verängstigten Bevölkerung spielten sich teils erschütternde Szenen ab. Viele wollten Ihre Häuser nicht verlassen und mussten quasi mit Waffengewalt herausgeholt werden. Viel mitnehmen durften sie nicht: die Kleidung am Körper, Wertsachen, amtliche Dokumente, vielleicht ein Fotoalbum - das war's.
Weitere 500 Personen wurden am 2. August evakuiert, nachdem noch schockierendere Analysenergebnisse aus Dübendorf und von unabhängigen Laboratorien eingetroffen waren. Roche rief seinen Krisenstab zusammen. Die Gesundheitsbehörden rieten Schwangeren zu einer Abtreibung.
Zusammen mit der Roche-Konzernleitung, Spezialisten aus dem In- und Ausland versuchte die italienische Regierung einen Dekontaminationsplan für das verseuchte Gebiet zu erarbeiten. Es kamen zum Teil absurde Vorschläge. Die italienische Armee schlug vor, Boden und Gebäude mit Flammenwerfern zu "bearbeiten".
Roche verpflichtete sich, grundsätzlich für alle Schäden und Dekontaminationsarbeiten aufzukommen. Die Icmesa-Aktionäre gründeten einen Hilfsfonds. In Mailand wurde nach endgültiger Schließung der Fabrik eine Agentur der Icmesa eingerichtet.
Im Herbst 1976 begannen die ersten Entseuchungsarbeiten. Zunächst wurde verseuchtes Laub eingesammelt und Gebäude mit speziellen Seifenlösungen behandelt, sofern deren Entseuchung überhaupt möglich war. Genaue Bodenanalysen sollten klären, wie stark das Erdreich verseucht war und ob eventuell das Grundwasser gefährdet war.
Bis im Sommer 1977 waren die ersten Dekontaminations-Maßnahmen beendet. Einige Betriebe und Schulen waren wieder nutzbar. Viele Gebäude waren jedoch so verseucht, dass nur deren Abbruch in Frage kam. Die innere Zone um die Fabrik blieb gesperrt. Das Erdreich in dieser Zone musste teilweise entfernt werden. Bis Jahresende 1977 konnten insgesamt 511 Personen ihre Häuser wieder beziehen.
Im Juli 1978 wurden die letzen Chemikalien aus der Icmesa entfernt.
Im Januar 1980 wurde die Straße von Meda zur Autobahn Mailand-Como für den Verkehr freigegeben.
Erst im Frühjahr 1980 begannen die Dekontaminations-Maßnahmen in der Kernzone. Hierzu wurde eine Grube mit 85.000 Kubikmetern Fassungsvermögen bei der Fabrik ausgehoben. Diese Grube wurde mit dicken verschweißten Kunststoffbahnen ausgekleidet. Um die Auffanggrube wurden Testbrunnen gebohrt, mit denen Undichtigkeiten festgestellt werden konnten. Die Grube sollte verseuchte Erde, Bauschutt und Schrott sicher einschließen.
In der Fabrik selbst beginnen die Demontage- und Abbrucharbeiten. Das Gebäude B mit dem Havariekessel wurde aus Sicherheitsgründen nicht angetastet.
Die italienischen Behörden bauftragten Anfang 1982 die Firma Mannesmann Italiana mit Entsorgung des Reaktorinhaltes.
Eine weitere Grube mit 160.000 Kubikmetern Inhalt wurde im Mai 1982 ausgehoben, um abgerissene Gebäude und Erdreich zu schlucken.
Im Sommer 1982, sechs Jahre nach dem Unglück, wurde der Raparto B geöffnet. Darin verbliebene Rohrleitungen, Behälter und Aggregate wurden demontiert. Die Arbeiter, alles Freiwillige, trugen dabei schwere Schutzanzüge. Schließlich wurde der Reaktorkessel 101 entleert. Der hochgiftige Inhalt wurde in 41 Stahlfässer gefüllt. Diese Stahlfässer erhielten zusätzlich eine Umverpackung. Die Entleerung geschah unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen und Videoüberwachung. Die raumanzugähnlichen Monturen der Arbeiter wurden extern mit Frischluft versorgt und die Arbeitszeiten am Reaktor waren genau reglementiert. Zur Dekontamination der Arbeiter wurden spezielle Duschen eingerichtet.
Am 10. September 1982 wurden die Fässer mit dem Reaktorinhalt mit Lastkraftwagen abtransportiert.
Die Lkw fuhren Richtung Frankreich. Ab St.Quentin verlor sich ihre Spur. Als die französische Presse vom "Verlust" der Fässer erfuhr, kam es zum öffentlichen Skandal. Es begann eine verzweifelte Suche nach den Giftfässern. Die Fässer wurden an allen möglichen und unmöglichen Orten vermutet. Die Roche-Gruppe geriet erneut in die Schlagzeilen.
Schließlich wandte sich das französische Umweltministerium an das deutsche Innenministerium, da dieses den Giftmüll in der Bundesrepublik Deutschland vermutete. Danach wurde in allen Deponien Westdeutschlands nach den Fässern gefahndet. Einige vermuteten die Fässer in der DDR.
Die deutsche Bundesregierung beauftragte nach erfolgloser Suche den Top-Agenten Werner Maus mit der Recherche nach dem Verbleib der Fässer.
Am 19. Mai 1983 wurden die Fässer schließlich in einem ehemaligen Schlachthof im nordfranzösischen Dorf Anquilcourt-le-Sart gefunden und in die französische Kaserne Sissone gebracht.
Die Schweizer Regierung erteilte Roche die Erlaubnis, die Fässer in Basel zwischenzulagern, wo sie am 4. Juni eintrafen.
Am 24. September 1983 verurteilte ein Gericht in Monza fünf Mitarbeiter der Icmesa und Givaudan zu Freiheitsstrafen von zweieinhalb bis zu fünf Jahren. Alle Verurteilten gingen in Berufung.
Im April 1984 waren alle Dekontaminationsarbeiten in Seveso abgeschlossen. Die Regio Lombardia ließ einen Park und ein Sportgelände auf dem ehemaligen Areal der abgerissenen Icmesa anlegen. Über die Seveso-Katastrophe konnte erstes Gras wachsen.
Nach zwei geglückten Testverbrennungen, konnte der Reaktorinhalt vom 17. bis 21. Juni 1985 bei der Ciba Geigy AG in Basel verbrannt werden.
Im Oktober 1993 wurde von einem deutschen Fernsehjournalisten behauptet, dass der Reaktorinhalt der Icmesa nicht verbrannt, sondern in der Deponie Schöneberg in Mecklenburg-Vorpommern endgelagert worden sei. Es wurde eine Untersuchungskommission gegründet, die aber nach erfolgloser Suche aufgelöst wurde.