Asperger-Syndrom
Das Asperger-Syndrom (AS) ist eine ausgeprägte Kontakt- und Kommunikationsstörung, die früher auch autistische Psychopathie genannt wurde. Medizinisch gehört es in den Bereich der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (engl. Pervasive Development Disorder) und ist eine Form des Autismus. Benannt ist das Asperger-Syndrom nach dem Wiener Kinderarzt Hans Asperger, der das Syndrom 1944 als Erster beschrieb.
Symptome und Beschwerden
Das AS macht sich in vier Bereichen bemerkbar:
- wesentliche Beeinträchtigung des Interaktionsverhaltens,
- fehlende oder sehr eingeschränkte Empathie
- motorische Auffälligkeiten und
- ausgeprägte Sonderinteressen.
Das wohl schwerwiegenste Problem ist das des beeinträchtigten Interaktionsverhaltens. Menschen mit AS können schlecht Augenkontakt mit anderen Menschen aufnehmen oder halten. Sie vermeiden Körperkontakt, wie etwa Händeschütteln. Sie sind unsicher, wenn es darum geht, Gespräche mit anderen zu führen, besonders, wenn es sich um einen eher belanglosen Smalltalk handelt. Soziale Regeln, die andere intuitiv beherrschen, verstehen Menschen mit AS nicht intuitiv, sondern müssen sie sich erst mühsam aneignen. Daher haben Menschen mit AS oft keine oder kaum Freunde. In der Schule etwa sind sie in den Pausen lieber für sich, weil sie mit dem üblichen Umgang anderer Schüler untereinander nur wenig anfangen können. Im Unterricht sind sie in der Regel westentlich besser im schriftlichen als im mündlichen Bereich. In der Ausbildung und im Beruf macht ihnen der fachliche Bereich meist keine Schwierigkeiten, nur der Small-Talk mit Kollegen oder der Kontakt mit Kunden. Auch das Telefonieren kann Probleme bereiten. Im Studium können mündliche Prüfungen oder Vorträge große Hürden darstellen. Da auf dem Arbeitsmarkt wohl in allen Bereichen Kontakt- und Teamfähigkeit genauso viel zählt wie fachliche Eignung, haben Menschen mit AS Probleme, überhaupt eine geeignete Stelle zu finden. Viele sind selbständig, jedoch können sie sich bei Problemen mit Kunden kaum druchsetzen, etwa wenn ein Kunde nicht bezahlt. In einer Behindertenwerkstatt indes wären sie völlig unterfordert. Die meisten Menschen mit AS können durch hohe Schauspielkunst nach außen hin eine Fassade aufrecht erhaltenen, sodass ihre Probleme auf den ersten Blick nicht direkt sichtbar sind, jedoch bei persönlichem Kontakt durchscheinen, etwa in einem Vorstellungsgespräch. Menschen mit AS gelten nach außen hin zwar als extrem schüchtern, jedoch ist das nicht das eigentliche Problem. Schüchterne Menschen verstehen die sozialen Regeln, trauen sich aber nicht, sie anzuwenden. Menschen mit AS würden sich trauen sie anzuwenden, verstehen sie aber nicht und können sie deshalb nicht anwenden.
Der zweite Problembereich ist fehlende oder sehr eingeschränkte Empathie. Menschen mit AS können sich schlecht in andere Menschen hineinversetzen und deren Stimmungen oder Gefühle an äußeren Anzeichen ablesen. Überhaupt bereitet es ihnen Schwierigkeiten, zwischen den Zeilen zu lesen und nicht-wörtliche Bedeutungen von Ausdrücken oder Phrasen zu verstehen. Dadurch können sie im sozialen Umgang anecken, da sie für andere Menschen offensichtliche nonverbale Signale nicht verstehen. Auch können sie in gefährliche Situationen geraten, da sie äußere Anzeichen, die auf eine bevorstehende Gefahr etwa durch Gewalttäter hindeuten nicht richtig deuten können.
Motorische Auffälligkeiten treten individuell unterschiedlich ausgeprägt auf. Sie sind kein zwingendes Diagnosekriterium. So können Menschen mit AS tollpatschig in ihren Bewegungen wirken.
In ihren Interessen sind Menschen mit AS in der Regel auf ein Gebiet beschränkt, auf dem sie meist ein großes Fachwissen haben. Für andere Gebiete als das eigene sind sie meist nur schwer zu begeistern. Da Menschen mit AS meist gut logisch denken können, liegen ihre Interessensgebiete oft im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, aber auch andere Gebiete sind möglich.
Im Vergleich zum frühkindlichen Autismus fehlt beim AS eine sprachliche Verzögerung oder ein Ausbleiben der Sprachentwicklung. Menschen mit AS haben eine normale, oft auch eine überdurchschnittliche Intelligenz. Auch in Kombination mit Hochbegabung kann das AS auftreten.
Häufig zeigen sich komorbide Symptome, beispielsweise
- Bipolarstörung,
- Phobien,
- Schlafstörungen,
- Essstörungen (z.B. Anorexia nervosa , insb. bei Mädchen),
- Wutausbrüche,
- Aggressionen oder Autoaggression,
- Epilepsie,
- Migräne,
- zentral-auditive Verarbeitungsstörungen,
- Aufmerksamkeitsstörungen mit oder ohne Hyperaktivität,
- Depressionen,
- Zwangsstörungen,
- Ticstörungen (die an das Tourette-Syndrom erinnern),
- posttraumatische Stressstörungen (PTSD),
- sensorische Integrationsstörungen (oder sensorisch-integrativen Dysfunktionen - SID) sowie
- Prosopagnosie (Gesichtsblindheit).
Ursachen
Das AS wird heute bei der Mehrheit der Experten als neurologische Störung und nicht mehr als psychische Krankheit gesehen. Die Genetik lässt darauf schließen, dass es polygen bedingt ist. Außerdem weiß man, dass Autismus im Allgemeinen und das AS im Besonderen genetisch sehr heterogen ist, so dass Betroffene jeweils eine individuell einzigartige Ausprägung von Autismus zeigen.
Meist zeigt sich die Störung erstmals im Vorschulalter, wobei mehrheitlich Jungen betroffen sind. Teilweise wird angenommen, dass mehrere berühmte Wissenschaftler, unter anderem Albert Einstein und Michelangelo, an AS gelitten haben.
Das AS hat 1991 in das internationale Klassifikationssystem der WHO (ICD-10) und 1994 in das diagnostische statistische Manual psychischer Störungen (DSM-IV) der American Psychiatric Association Eingang gefunden.
Definition nach ICD 10
ICD-Schlüssel: F84.5
- Es existiert keine klinisch bedeutsame allgemeine Verzögerung in der gesprochenen oder rezeptiven Sprache oder in der kognitiven Entwicklung. Die Diagnose verlangt, dass bis zum Alter von zwei Jahren oder früher einzelne Worte gesprochen werden können und dass bis zum Alter von drei Jahren oder früher kommunikative Redewendungen benutzt werden. Fähigkeiten zur Selbsthilfe, anpassungsfähiges Verhalten und Wissbegierde in Bezug auf das Umfeld sollten um das dritte Lebensjahr herum auf einem mit der normalen intellektuellen Entwicklung übereinstimmenden Niveau liegen. Dennoch können motorische Meilensteine etwas verzögert sein, und die motorische Unbeholfenheit ist die Regel (obwohl kein notwendiges diagnostisches Merkmal). Es bestehen häufig einzelne spezielle Fertigkeiten, die sich meist auf abnorme Beschäftigung beziehen, aber sie sind für die Diagnose nicht relevant.
- Qualitative Abnormitäten in der wechselseitigen sozialen Interaktion zeigen sich in mindestens zwei der folgenden Merkmale:
- Unvermögen, einen angemessenen Blickkontakt herzustellen und aufrechtzuerhalten, Mängel in Mimik und Körperhaltungen, Mängel in der Gestik zur Regulierung der sozialen Interaktion;
- Unvermögen (trotz ausreichender Gelegenheit dem geistigen Alter entsprechende), Beziehungen zu Gleichaltrigen zu entwickeln, die das Teilen von Interessen, Aktivitäten und Emotionen betreffen;
- Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer unzulänglichen oder von der Norm abweichenden Reaktion auf die Emotionen anderer Menschen zeigt; oder der Mangel an Verhaltensmodulation gemäß dem sozialen Kontext; oder eine geringe Integration der sozialen, emotionalen und kommunikativen Verhaltensweisen;
- fehlender spontaner Wunsch, mit anderen Menschen Vergnügen, Interessen und Errungenschaften zu teilen (beispielsweise mangelndes Interesse, anderen Menschen Gegenstände, die dem Betroffenen wichtig sind, herzubringen oder darauf hinzuweisen);
- der Betroffene legt ein ungewöhnlich starkes, sehr spezielles Interesse oder begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten an den Tag, die sich in mindestens einem der folgenden Bereiche manifestieren:
- einer konzentrierten Beschäftigung mit stereotypen und begrenzten Interessensmustern, die in Inhalt oder Gebiet abnorm sind; oder eine oder mehrere Interessen, die in ihrer Intensität und ihrer speziellen Natur, aber nicht in Inhalt oder Gebiet begrenzt sind;
- offenkundige zwanghafte Befolgung spezifischer, nonfunktionaler Routinen oder Rituale;
- stereotype und repetitive motorische Manierismen, die entweder das Flattern oder Drehen mit Händen oder Fingern oder komplexe Ganzkörperbewegungen mit einschließen;
- Beschäftigungen mit Teil-Objekten oder nonfunktionalen Elementen oder Spielmaterialien (wie den dazugehörigen Farben, dem Gefühl, das die Oberfläche vermittelt, oder dem Geräusch/der Vibration, das sie hervorrufen).
Doch kommt es seltener vor, dass diese Merkmale motorische Manierismen oder Beschäftigungen mit Teil-Objekten oder nonfunktionalen Elementen der Spielmaterialien einschließen.
- Die Störung ist den anderen Varianten der tiefgreifenden Entwicklungsstörung nicht zuzuschreiben, wie: einfache Schizophrenie, schizo-typische Störung, Zwangsstörung, anankastische Persönlichkeitsstörung, reaktive und enthemmte Bindungsstörungen der Kindheit.
Diagnose
Es gestaltet sich schwierig, die Entwicklungsstörung – insbesondere in ihrer leichten Form – zu erkennen, da die Symptome bei den Betroffenen sehr unterschiedlich sein können. Experten empfehlen daher, eine Diagnose nur von sehr erfahrenen Ärzten erstellen zu lassen. Da das Syndrom im Erwachsenenalter praktisch unbehandelbar scheint, ist eine Diagnose nicht immer hilfreich. Gleichwohl kann eine entsprechende Erkenntnis in manchen Situationen Verhaltensänderungen bewirken.
Autistisches Verhalten kann auch bei anderen Krankheiten auftreten, so zum Beispiel bei andauernder Kindesmisshandlung, Verwahrlosung, Vernachlässigung und Deprivation, bei frühkindlichem oder atypischem Autismus, bei Fragilem X-Syndrom, bei geistiger Behinderung, bei schizoider Persönlichkeitsstörung, bei bestimmten Formen der Schizophrenie, bei Angststörungen und bei Mutismus.
Unterscheidungsmerkmale sind zum Beispiel fehlerhaftes Erbgut (bei Fragilem X-Syndrom), Wahn (bei Schizophrenie), rasche Besserung der sprachlichen Fähigkeiten in adäquatem Milieu bei Deprivation, gutes Sozialverhalten bei Mutismus. Im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus besteht beim Asperger-Syndrom keine Sprachverzögerung. Die Unterscheidung zwischen Asperger-Syndrom und schizoider Persönlichkeitsstörung kann schwierig sein. Die Klassifikation von Autismus in verschiedene Unterkategorien wird allerdings zunehmend in Frage gestellt.
Darüber hinaus kann eine Differentialdiagnose zwischen Asperger-Syndrom, ADHS, Hyperlexie, nonverbaler Lernstörung oder sensorischer Integrationsstörung sehr schwierig sein. Die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom haben auch eine nonverbale Lernstörung, das heisst, sie verstehen Körpersprache nicht.
Verlauf und Vorkommen
Die mit AS in Verbindung stehenden Ausprägungen reichen bis weit in normale menschliche Verhaltensmuster hinein. Es kann von einem Kontinuum, also einem durchgehenden Spektrum von Auffälligkeiten ausgegangen werden. Für ein unklar umrissenes Sammelsurium von Auffälligkeiten kann ab einem gewissen Maße die Bezeichnung Asperger-Syndrom als zutreffend herangezogen werden.
Über das Vorkommen in der Gesellschaft gibt es nur grobe Schätzungen, wobei sich die Zahlen in den letzten Jahren erhöht haben. Die Verhaltensweisen treten bei viel mehr Männern als Frauen auf, wobei die Angaben des Zahlenverhältnisses von 4:1 bis 8:1 schwanken.
Obwohl viele Verhaltensweisen das soziale Netz der Betroffenen, insbesondere der nächsten Bekannten, und der Familie stark in Anspruch nehmen, sind es nicht nur negative Aspekte, die Asperger qualifizieren. Es gibt zahlreiche Berichte über das gleichzeitige Auftreten von überdurchschnittlicher Intelligenz oder auch für als normal geltende Menschen unfassbare Inselbegabungen.
Literatur
- Tony Attwood, Das Asperger-Syndrom. Ein Ratgeber für Eltern, Trias 2000 - ISBN 3-893-73592-5
- Gunilla Gerland, Ein richtiger Mensch sein. Autismus, das Leben von der anderen Seite. Verlag Freies Geistesleben 1998 - ISBN 3-772-51667-X
- Ole Sylvester Jørgensen, Asperger: Syndrom zwischen Autismus und Normalität, Beltz 2002 - ISBN 3-407-22112-6
- Ami Klin u. a. (Herg.), Asperger Syndrome, Guilford Publications 2000 - ISBN 1-572-30534-7
- Joan Matthews/ James William, Ich bin besonders! Trias 2001 - ISBN 3-893-73668-9
- Valerie Paradiz, Hörst du mich? Walter-Verlag 2003 - ISBN 3-530-40147-1
- Peter Vermeulen, Ich bin was Besonderes, Verlag Modernes Lernen 2002 - ISBN 3-808-00491-6
- Susanne Schäfer, Sterne, Äpfel und rundes Glas, Verlag Freies Geistleben 2002 - ISBN 3-772-51814-1
- Temple Grandin, Margaret M. Scariano: Durch die gläserne Tür. Lebensbericht einer Autistin. dtv, München 1994 - ISBN 3-423-30393-X
- Temple Grandin: Ich bin die Anthropologin auf dem Mars. Mein Leben als Autistin. Droemer Knaur, München 1997 - ISBN 3-426-77288-4
- Temple Grandin, Catherine Johnson: Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier. Ullstein, München 2005 - ISBN 3-550-07622-3
- Liane H. Willey, Ich bin Autistin, aber ich zeige es nicht. Leben mit dem Asperger-Syndrom, Herder 2003 - ISBN 3-451-05300-4
Weblinks
- Aspies e.V. - Verein zur Förderung und Integration von Menschen mit Asperger
- aspergia.de - Information für Interessierte und Anlaufpunkt für Betroffene
- Asperger-Online
- Aspies for Freedom (eng.)
- Autismus und Computer
- Informationsangebot zum Asperger-Syndrom bei Kindern
- DSM-IV Kriterien (299.80) für das Asperger-Syndrom
- Forum: Asperger Autismus
- Selbsthilfegruppe ADHS, Autismus, Tourette
- 1001 Autism links (eng.)
- Bundesverband Hilfe für das autistische Kind
- Aspie-Art - Asperger-Autismus und Kreativität
- Asperger-Screening-Test nach Simon Baron-Cohen vom Autism Research Centre in Cambridge (eng.)
- Liebe und andere Unmöglichkeiten Fernsehsendung vom 27. Juli 2004 zum Thema Asperger-Autismus in der ZDF-Reihe 37 Grad
- Die Geek-Autismus-Connection von Michaela Simon
- Ups... falscher Planet! von Michaela Simon
- Dianas Aspergerseite
- Aspergia (eng.)
- Aspergian Pride(eng.)
- Neurodiversity.com (eng).
siehe auch: Psychische Krankheiten, Autismus, Kanner-Autismus