Geschichte der Stadt Ingelheim
Die Geschichte Ingelheims lässt sich mehrere Jahrtausende zurückverfolgen. Im Mittelalter hatte Ingelheim als Ort einer Kaiserpfalz besondere Bedeutung.
Vorgeschichte
Faustkeilfunde lassen darauf schließen, dass bereits vor etwa 50.000 Jahren das Gebiet um Ingelheim von Menschen durchzogen wurde. Seit der Jungsteinzeit lassen sich kontinuierlich Siedlungsspuren an den fruchtbaren Hängen des Selztales und am Rhein nachweisen. Vor der römischen Eroberung wurde das Gebiet wahrscheinlich von keltischen Treverern bewohnt.
Antike
Nach der Einbeziehung in das römische Reich diente die Gegend um Ingelheim mit vielen ländlichen Höfen (villae rusticae) in erster Linie der Versorgung von Truppen und Zivilisten im Stationierungsort Mainz. Durch das Gebiet zogen sich römische Straßen, die wichtigen Verbindungen zwischen Mainz/Moguntiacum und Trier bzw. Koblenz/Köln. Grab- und Münzschatzfunde lassen auf einen erheblichen Wohlstand der romanisierten Bewohner schließen, vor allem im 2. Jahrhundert n. Chr. Es scheint an den Straßen auch einen Vicus, d.h. ein Gewerbegebiet gegeben zu haben, dessen Name sich aber nicht erhalten hat. Als Durchzugsgebiet und aufgrund der Nähe zu Mainz war das Ingelheimer Gebiet auch vielen Kriegshandlungen und Plünderungszügen ausgesetzt, die im dritten und vierten Jahrhundert zu massiven Zerstörungen geführt haben, d.h. zum Ende des Vicus und wohl auch aller Villae.
Mittelalter
Spätestens ab dem 5. Jahrhundert wurde das Gebiet von Franken bäuerlich besiedelt. Wahrscheinlich nach einem von ihnen (namens „Ingilo“?) wurde – wie im seit dem 19. Jahrhundert so genannten Rheinhessen üblich – einer dieser fränkischen Gutshöfe Ingilen-heim genannt, woraus der heutige Namen entstanden ist. Es war wahrscheinlich der große Königshof, der mindestens seit merowingischer Zeit, also ab dem 6. Jahrhundert in Ingelheim existierte („villa regia“ oder „curtis regia“). Das ganze Gebiet um Ingelheim war als „Ingelheimer Grund“, ab dem 14. Jahrhundert „Ingelheimer Reich“ Königsland, somit reichsunmittelbar, und seine Einwohner hatten viele Jahrhunderte Sonderrechte, aber auch Sonderpflichten, vor allem die Versorgung der Pfalz und die Fährdienste am Rhein durch die Bewohner Frei-Weinheims.
Die im Jahre 741 erstmals urkundlich erwähnte Remigiuskirche gehört ab 750 mitsamt ihren feudalen Einkünften zum Bistum Würzburg. Wegen des durch den Würzburger Bischof Burkard ins Leben gerufenen Kilianskults erhielt sie ein zusätzliches Kilianspatrozinium.
Überregionale Bedeutung erlangte das Gebiet durch den Beschluss Karls des Großen, neben dem Königshof mit dem Bau einer Kaiserpfalz zu beginnen, eines imperialen Prachtbaues römischen Stiles. Der erste urkundlich belegte Aufenthalt Karls datiert aus dem Jahr 774. Fertig gestellt wurde diese Pfalz möglicherweise erst unter seinem Sohn Ludwig dem Frommen, der sich viel öfter (mindestens zehn Mal) als sein Vater (drei oder vier Mal) in Ingelheim aufhielt.
Seit Karl diente die später mehrfach umgebaute Pfalz für fast vier Jahrhunderte als wichtiger Stützpunkt der mittelalterlichen deutschen Könige und Kaiser, der von zahlreichen Besuchen der Herrscher, von Reichs- und Hoftagen gekennzeichnet ist: 787 feierte Karl der Große Weihnachten und Ostern (788) in Ingelheim. Während dieses Aufenthaltes wurde auf einem Reichstag der Bayernherzog Tassilo III. abgesetzt und in ein Kloster verbannt. Aus diesem Jahr stammt auch die erste urkundliche Erwähnung der Kaiserpfalz (als Palatium).
Nach seiner Kaiserkrönung weilte Karl erstmals 807 wieder in Ingelheim und hielt hier einen Hoftag ab. Sein Sohn Ludwig empfing 819 Gesandte des Kaisers Leo V. (Byzanz). Im gleichen Jahr fand ein Reichstag statt, auf dem wahrscheinlich die Politik des Reiches in Pannonien und Dänemark behandelt wurde.
823 wurde die Gründungsurkunde des Klosters Corvey wird in Ingelheim ausgefertigt. Drei Jahre darauf hielt Ludwig erneut einen Reichstag und eine Synode in Ingelheim ab. Er empfing hier den Dänenkönig Harald Klak, der am 24. Juni 827 in St. Alban (Mainz) in Mainz die Taufe empfing und anschließend in Ingelheim ein glänzendes Fest feierte. In den nächsten zehn Jahren stand Ingelheim nicht mehr im Zentrum der Reichspolitik. Lediglich 828 fand eine Reichsversammlung in Anwesenheit einer päpstlichen Delegation, sowie 831 ein Hoftag statt. Belegt ist auch ein kurzer Besuch Ludwigs im Jahre 836.
Am 18. Mai 839 empfing Ludwig Abgesandte des byzantinischen Kaisers Theophilus und handelte mit ihnen einen Freundschaftspakt aus. Ebenfalls anwesend war eine Abordnung der "Rhos", also des Normannenreiches um Kiew.
Ludwig der Fromme starb am 20. Juni 840 auf einer Rheininsel (Au) vor Ingelheim. Der Leichnam des Kaisers wurde aber nach Metz in die Begräbnisstätte seiner Familie im Kloster St. Arnulf überführt und dort beigesetzt. Kurz nach seinem Tode hielt sein Sohn Lothar in Ingelheim eine Versammlung ab, mit dem Ziel die Einheit des Reiches zu erhalten. Es bliebt aber letzten Endes bei dem Versuch und im Vertrag von Verdun wurd die Reichsteilung festgeschrieben. Ingelheim gehörte dadurch zum östlichen Reichsteil, dem späteren Deutschland.
Vom ersten Aufenthalt Karls des Großen bis zum Tode Ludwigs sind dreizehn oder vierzehn Herrscheraufenthalte in Ingelheim aktenkundig. Nach seinem Tode verlor Ingelheim an Bedeutung. Bis 940 sind nur noch neun Aufenthalte der späteren Karolinger bekannt.
937 besuchte Otto der Große zum ersten Mal Ingelheim. Mit diesem Besuch begann eine zweite Hochphase der Pfalz. Bis 1040 besuchten Könige bzw. Kaiser 34-mal die Ingelheimer Pfalz.
Besonders zu Ostern erfreute sie sich unter den sächsischen Herrschern großer Beliebtheit als Ort der Feierlichkeiten zu den Osterfest-Krönungen. Die Angaben schwanken zwischen 10 Besuchen, von denen man sicher weiß, und gehen bis zu vermuteten 17 Aufenthalten.
941 kerkerte König Otto der Große seinen Bruder Heinrich wegen Aufruhrs in Ingelheim ein.
Im Jahre 948 tagte im Vorgängerbau der heutigen Remigiuskirche unter Leitung des päpstliche Legaten Bischof Marinus von Bomarzo ein Konzil von 34 Bischöfen, an dem auch der mittlerweile zum Kaiser gekrönte Otto der Große und der französische König Ludwig IV. teilnahmen. Ziel war es die Machtkämpfe im westlichen Frankreich, sowie die Besetzung des Bischofsstuhles von Reims zu klären. Eine weitere Synode berief Otto 972 nach Ingelheim ein.
953: Otto feierte das Osterfest in Ingelheim.
974: Herzog Heinrich von Bayern (Heinrich der Zänker) wurde von Kaiser Otto II. in Ingelheim festgesetzt.
Auch im 11. Jahrhundert erfreute sich die Ingelheimer Pfalz unter verschiedenen Herrschern besonderer Beliebtheit zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten. So beging Heinrich II. 1017 das Oster- und 1018 das Pfingstfest in Ingelheim. 1018 besetzte er hierbei den seit kurzem vakanten Bischofsstuhl von Konstanz mit seinem bisherigen Kaplan Rothard.
1030: Der erste salische Kaiser Konrad II. beging Ostern in Ingelheim. Herzog Ernst von Schwaben verlor endgültig sein Herzogtum.
1043 heiratete hier Heinrich III. Agnes, die Tochter des Herzogs von Aquitanien und Poitou.
Bei einem Aufenthalt Heinrichs IV. kurz vor Weihnachten 1065 wurde einer seiner Begleiter beim Versuch, Lebensmittel zu konfiszieren, von der Bevölkerung erschlagen.
Unter dem Staufer Friedrich Barbarossa wurde im 12. Jahrhundert das engere Pfalzgebiet, erweitert um einen südlichen Bereich, der heute so genannte „Saal“ Nieder-Ingelheims, durch einen hohen Mauerring umgeben, so dass eine kleine burgähnliche Festungsstadt entstand. Ländliche Pfalzen wurden nicht mehr gebraucht, dafür befestigte Städte. Deshalb verfielen einige Gebäude des Pfalzgebietes seit dem 13. Jahrhundert, es wurde seit 1402 von Bewohnern überbaut und als Steinbruch benutzt.
Im Jahre 1105 wurde Heinrich IV. in Ingelheim von seinem Sohn Heinrich V. zur Abdankung gezwungen und bis zu seiner Flucht gefangen gehalten.
Ob Barbarossa sich wirklich 1155 hier mit Hildegard von Bingen getroffen hat, wie bisweilen angenommen wird, lässt sich nicht belegen. Aber 1163 weilte er erneut in Ingelheim.
Im Zuge der Kämpfe um die Kaiserwürde wurde Nieder-Ingelheim 1249 durch Gegenkönig Wilhelm von Holland und Siegfried III. von Eppstein belagert und am 28. März bezwungen.
Seit dem 13. Jahrhundert ging die Bedeutung der Ingelheim Pfalz und damit Nieder-Ingelheims stetig zurück. In den folgenden 250 Jahren sind nur noch acht Aufenthalte von Herrschern bezeugt. Deutlich wird der geschwundene Wert in der Verpfändung des Ingelheimer Grundes durch Ludwig den Bayern an den Mainzer Erzbischof Peter von Aspelt.
Demgegenüber stieg das selzaufwärts gelegene Ober-Ingelheim im späteren Mittelalter zu größerer Bedeutung auf. Hier hatten die Ingelheimer Adelsfamilien, die ursprünglich zur Verwaltung der Pfalz gehörten, ihre großen Höfe, darunter die Herrn, später "Grafen" von Ingelheim. Auch Ober-Ingelheim wurde mit einer hohen Wehrmauer umgeben, deren stattliche Reste bei der Burgkirche zu besichtigen sind. Ein Reichsgericht, der Ober-Ingelheimer "Oberhof", war über drei Jahrhunderte ein wichtiges Berufungsgericht. Ein Teil seiner Akten, die „Haderbücher“, ist noch im Ingelheimer Stadtarchiv erhalten.
Der böhmische Kaiser Karl IV. weilte 1345 in Ingelheim. Am 14. Januar stiftete er am angeblichen Geburtsort Karls des Großen ein Augustiner Chorherren-Stift, das sogenannte Karlsmünster. Die vier Kanoniker des Stiftes mussten in Böhmen geboren sein. Ihre Aufgabe war es, sich um die Pilger der Karlswallfahrt zu kümmern, die im Gedenken an den als Heiligen verehrten Karl den Großen alle sieben Jahre bis 1776 von Böhmen, Österreich, Steiermark, Slawonien und Ungarn durch Ingelheim hindurch nach Aachen führte. Im Zuge der Reformation wurde es 1576 säkularisiert.
1376 ist ein Hof des deutschen Ordens der Ballei Koblenz in Nieder-Ingelheim bezeugt.
Derselbe Kaiser Karl IV. verpfändete den Ingelheimer Grund am 24. Dezember 1356 erneut, diesmal an die Stadt Mainz. Zwei Jahrzehnte später 1375 wurde der offensichtlich nicht mehr benötigte Ingelheimer Grund mit seinen Orten Nieder-Ingelheim, Ober-Ingelheim, Groß-Winternheim, Frei-Weinheim, Bubenheim, Elsheim, Schwabenheim (damals: Sauerschwabenheim) und Wackernheim im Oberamt Oppenheim von Karl IV. an den Kurfürsten Ruprecht I. von der Pfalz verpfändet. Damit erlosch die Reichsunmittelbarkeit faktisch. In den Folgejahren war kein König mehr willens das Pfand auszulösen, so dass im westfälischen Frieden die Zugehörigkeit Ingelheims zur "Pfalz" festgeschrieben wurde.
Aber auch unter der pfälzischen Herrschaft, die bis zur französischen Revolution dauerte, behielten die Einwohner des Ingelheimer Grundes einen großen Teil ihrer früheren reichsunmittelbaren Privilegien, die sie von jedem neuen Kurfürsten immer wieder bestätigt bekommen.
Neuzeit
Im Jahre 1488 wurde der wohl bedeutendste Sohn Ingelheims geboren, der Theologe, Hebraist, Geograph, Historiker, Mathematiker und Herausgeber Sebastian Münster, dessen Portrait den vorletzten Hundertmarkschein geziert hatte. Er war Herausgeber und Mitautor eines der meistgelesenen Bücher des 16./17. Jahrhunderts, der „Kosmographie“.
Das untere Selztal des Ingelheimer Grundes unterbrach als kurpfälzisches Gebiet wie ein Sperrriegel den Besitz der Mainzer Erzbischöfe, der sich ansonsten auf beiden Seiten des Rheins von Mainz bis Bingen hinzog. Daher wurde das Ingelheimer Gebiet mit seinem Hafen Frei-Weinheim seit dem 15. Jahrhundert bisweilen zum Zankapfel zwischen Kurpfalz und Kurmainz. Während der dreißigjährige Krieg auch Ingelheim „völlig ruiniert“ hat, waren die Zerstörungen durch die Franzosen im Pfälzer Erbfolgekrieg anscheinend geringer als im sonstigen Pfälzer Gebiet, möglicherweise verhinderte der Graf von Auvergne die Einäscherung.
Mit der kurfürstlichen Düsseldorfer Religionsdeklaration vom 21. November 1705 wurde das dreiteilige Kirchenwesen in der Kurpfalz bestätigt. Die katholische Gemeinde von Nieder-Ingelheim erhielt die vormalige Kilianskirche, die evangelische Gemeinde die Kirche der Kaiserpfalz, die heutige Saalkirche.
1737 vermachte der in Ingelheim ansässige und verstorbene General Anton Otto von Cloß in seinem Testament einen Teil seines Ingelheimer Grundbesitzes den Jesuiten, die darauf ein Missionsgut errichten. Die Mission bestand bis zur Auflösung des Ordens am 21. Juni 1773. Die Bibliothek des Gutes mit 336 Werken wurde am 13. September 1801 öffentlich versteigert.
In den Jahren 1792/93 und erneut im Herbst 1797 besetzten französische Revolutionstruppen das linke Rheinufer. Mit dem Frieden von Campo Formio wurden die Kurstaaten aufgelöst. Mit dem Frieden von Lunéville wurde die Annexion 1801 rechtswirksam. Den französischen Truppen dienten die Ingelheimer Orte als Einquartierungsgebiet.
19. Jahrhundert
Die napoleonische Zeit, in der Ingelheim wie das gesamte linksrheinische Gebiet zu Frankreich gehörte, brachte auch hier den allgemeinen Modernisierungsschub, insbesondere eine große Besitzumschichtung: Säkularisiertes Kirchen- und Adelsgut wurde von Bürgerlichen erworben, es entstand die moderne Besitzstruktur Ingelheims. Der Adel musste Ingelheim verlassen. Eine neuzeitliche straffe Verwaltung wurde eingeführt und Ober-Ingelheim wurde französischer Kantonshauptort im Département Mont-Tonnerre.
Unter dem französischen Präfekten André Jeanbon de St. André wurde die die „Route Charlemagne“ gebaut, eine strategisch wichtige Straße, die von Mainz-Finthen an Wackernheim vorbei und dann fast schnurgerade durch Ingelheimer Gebiet hindurch bis Bingen führte und weiter. An dieser Achse, die möglicherweise einer der alten römischen Straßen folgte, entwickelte sich das Straßendorf Nieder-Ingelheim des 19. Jahrhunderts. An ihren Bau erinnert der zweisprachige sogenannte Napoleonstein gegenüber dem Hotel Multatuli.
Nach dem Wiener Kongress gehörte das Ingelheimer Gebiet ab 1816 (bis zur Auflösung der Reichsländer durch Hitler) mit dem gesamten jetzt so genannten Rheinhessen zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt.
Die Revolutionen des 19. Jahrhunderts fanden auch in Ingelheim ihr mehrfaches Echo: Der Ober-Ingelheimer Dr. Martin Mohr war Mitglied des Frankfurter Paulskirchenparlamentes bis zu seiner Auflösung 1849 in Stuttgart. Den Aufständischen in der Pfalz schlossen sich unter anderem auch Freischärler aus der Ingelheimer Region an, darunter allein aus Ober-Ingelheim angeblich ca. 270 Männer. Zwei Tage vor deren Gefecht bei Kirchheimbolanden fand in Ingelheim am 12. Juni 1849 sogar ein Attentat auf den Anführer der preußischen Truppen statt, den Kronprinzen und späteren Kaiser Wilhelm I.. Aus einem Kornfeld etwa im heutigen Zentrum von Ingelheim wurde auf die Fahrzeuge des Kronprinzen ein Pistolenschuss abgefeuert, der aber nicht den Wagen des Kronprinzen traf, sondern den Postillon eines zweiten Wagens verwundete. Ein später verhafteter 26jähriger Schneidermeister-Sohn aus Nieder-Ingelheim, Adam Schneider, wurde 1850 in Mainz mangels Beweisen freigesprochen.
Im noch ländlichen Nieder-Ingelheim siedelten sich nun einige zum Teil sehr wohlhabende (groß-)bürgerliche Familien an, die sich auch als Wohltäter Nieder-Ingelheims einen Namen machten:
- 1841 der Niederländer Albert de Roock
- 1855 die Familie von Harder
- 1859 das aus einer Frankfurter Bankiersfamilie stammende Ehepaar Caroline und Wilhelm von Erlanger
- 1880 der niederländische Kolonialbeamte und Schriftsteller Eduard Douwes Dekker, genannt Multatuli, der sich allerdings in seinem Haus oberhalb von Ingelheim völlig von der Ingelheimer Bevölkerung abschottete
- 1900 ersteigerte ein Sohn der Industriellenfamilie Opel aus Rüsselsheim das größte Hofgut Rheinhessens mit dem Schloss Westerhaus gegenüber von Ober-Ingelheim. Die Familie von Opel bewirtschaftet es bis heute als renommiertes Weingut und als Gestüt.
Industrielle Revolution
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte Ingelheim nach der französischen die zweite tiefgreifende Revolution, die Industrialisierung, die bis heute das Gesicht der Ingelheimer Orte immer weiter verändert. Durch den Bau der hessischen Ludwigsbahn 1859 von Mainz nach Bingen wurde das Nieder-Ingelheimer Gelände am neuen Bahnhof zum geschätzten Ansiedlungsbereich für Industriebetriebe – Nieder-Ingelheim wurde industrialisiert und der Frei-Weinheimer Hafen wurde zu einem modernen Hafen ausgebaut.
Unter den verschiedenen Industriebetrieben, die teilweise nur kurze Zeit bestanden, ragt ein chemisches Unternehmen heraus: Dr. h.c. Albert Boehringer, später Ehrenbürger Nieder-Ingelheims, kaufte 1882 eine Weinsteinfabrik, aus der sich das heute weltweit tätige Pharma-Unternehmen Boehringer Ingelheim entwickelt hat, das sich immer noch in Familienbesitz befindet. In Ingelheim liegt zum einen die Konzernzentrale von C. H. Boehringer Sohn mit 152 Gesellschaften auf allen Kontinenten und weltweit 34.000 Mitarbeitern sowie die Produktionsstätten von Boehringer Ingelheim.
Die Industrialisierung wandelte zuerst die Struktur Nieder-Ingelheims grundlegend: Das bäuerliche Dorf wurde immer stärker durch Industriearbeiter und Angestellte und ihre neuen Siedlungen in Fabriknähe geprägt, so dass die Bevölkerungszahl Nieder-Ingelheims im 20. Jahrhundert die von Ober-Ingelheim überholte. Das heutige moderne Zentrum des vereinten Ingelheims zwischen Bahnhof und neuem Rathaus ist aus dieser Industrialisierung entstanden.
20. Jahrhundert
Der nationalistische Geist des neuen Kaiserreiches fand auch in Ingelheim seinen klotzigen Ausdruck durch den Bau eines Bismarckturmes auf dem Westerberg, der heute ein beliebtes Ausflugsziel darstellt (Einweihung 1911). Von 1904 bis 1985 war sogar eine zweite Eisenbahnstrecke in Betrieb, die Selztalbahn, die vom Frei-Weinheimer Hafen das Selztal hinauf bis Partenheim fuhr und vor allem den Zuckerrübentransporten dienen sollte und daher das „Zuckerlottchen“ genannt wurde. Im Februar 1904 wurde bei Ausschachtungsarbeiten für die Winzergenossenschaft Nieder-Ingelheim ein römischer Münzschatz mit Prägungen der Kaiser(innen) Konstantin I., Konstantin II., Theodora und Helena gefunden.
Die sich verstärkende Industrialisierung und die bessere Verkehrsanbindung führten zu einem starken Bevölkerungswachstum in allen Ingelheimer Orten, das sich in zahlreichen Neubaugebieten niederschlug. Ober- und Nieder-Ingelheim wuchsen an und zwischen den Achsen Grundstraße und Bahnhofstraße immer enger zusammen, auch an der Rheinstraße nach Frei-Weinheim entstanden neue Siedlungen. Neue Volksschulen, Turnhallen, Kirchen, die „Rheinhessische“ (Energie- und Wasserversorgungs-GmbH) und ein Krankenhaus wurden gebaut; eine Realschule gab es als höhere Bürgerschule in Ober-Ingelheim.
Von 1909 bis 1914 führte Christian Rauch umfangreiche Grabungen im ehemaligen Pfalzgebiet, dem so genannten Saal, durch und legte große Teile der alten Pfalz wieder frei.
1. Weltkrieg
Nach dem ersten Weltkrieg gehörte Ingelheim zum Volksstaat Hessen.
Weimarer Republik
Von 1918 bis 1930 war Ingelheim französisch besetzt. Im Zusammenhang mit dem passiven Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung kam es 1923 zu zahlreichen Ausweisungen.
Nazizeit und 2. Weltkrieg
Auch in den Ingelheimer Orten übernahmen 1933 die Nationalsozialisten die Macht, die demokratisch gewählten Bürgermeister von Ober- und Nieder-Ingelheim, Kitzinger und Rückert, wurden abgesetzt, jüdische Bürger diskriminiert und vor allem nach der Reichspogromnacht 1938, der die 1841 erbaute Ober-Ingelheimer Synagoge zum Opfer fiel, enteignet und in die Emigration getrieben. Die letzten verbliebenen jüdischen Familien wurden 1942 in Vernichtungslager deportiert; von ihnen kehrte eine einzige Person zurück.
Am 1. April 1939 entstand aus den bis dahin selbständigen Ortschaften Nieder-Ingelheim, Ober-Ingelheim, Frei-Weinheim und Sporkenheim die Stadt Ingelheim am Rhein. Diesen Zusammenschluß bestätigte 1947 der neu gewählte, demokratische Stadtrat.
Während des Krieges wurde die Stadt nur von einzelnen verirrten Bomben getroffen und auch durch Kampfhandlungen nicht nennenswert zerstört, so dass sie ihrerseits eine große Anzahl Ausgebombter aus Mainz aufnehmen konnte. Ingelheim zählte 572 Gefallene und 98 Vermisste.
Am oder in der Nacht zum 16. März 1945 erreichten erste Meldungen über auf Ingelheim vorrückende alliierte Truppen die Stadt. Nach einer Besprechung des Volkssturmes in der Nacht zum 17. März fanden sich am darauffolgenden Tag an vielen Plätzen der Stadt Anschläge des Volkssturmkommandanten Hermann Berndes, mit dem Aufruf die Waffen niederzulegen und an einem zentralen Sammelpunkt abzuliefern, um unnötige Opfer zu vermeiden. Bereits errichtete Panzerhindernisse ließ Berndes niederbringen. Er wurde daraufhin am 18. März durch ein Schnellgericht unter Major Kraffert, dem Kampfkommandanten der Stadt, standrechtlich abgeurteilt und auf dem Rathausplatz in Nieder-Ingelheim erhängt.
Am 20. März 1945 besetzten amerikanische Truppen der 90. US-Division, aus südlicher und südwestlicher Richtung kommend, fast kampflos die Stadt. Auf die Verteidigung der Stadt durch den Volkssturm wurde auf Grund des vorangegangen Aufrufes verzichtet. Gegen 15.00 Uhr setzten sich die Spitzen der Stadtverwaltung, der Polizei sowie der Kampfkommandant und Gefolge über den Rhein in Richtung Wiesbaden ab. Um 17.30 Uhr übergaben Stadtoberinspektor Friedrich Weitzel als Bevollmächtigter der Stadt sowie Wilhelm Fries als Dolmetscher Ingelheim an die Amerikaner.
Da Ingelheim zur französischen Besatzungszone gehören sollte, übernahmen am 10. Juni 1945 französische Besatzungstruppen die Kontrolle.
Nachkriegszeit seit 1945
Die Gründung der neuen Universität in Mainz 1946 durch die Franzosen brachte Ingelheim den Zuzug einiger Professoren, die im stark zerstörten Mainz selbst keine Unterkunft finden. So entwickelte sich im Ingelheim der Nachkriegszeit ein reges kulturelles Leben. Ingelheim gab sich 1947 eine Volkshochschule. Die Zuweisung vieler Flüchtlinge und Vertriebener machte einen verstärkten Wohnungsbau in Ingelheim nötig. Handel und Gewerbe profitierten davon, mehrere neue Wohn- und Gewerbegebiete entstanden, die Stadt wuchs weiter, auch durch zahlreiche Pendler zu den Arbeitsplätzen des Rhein-Main-Gebietes. Nachdem die bisherige „Höhere Bürgerschule“ 1946 unter französischem Einfluss zu einem Gymnasium ausgebaut worden war, musste auch für diese Schule ein neues Gebäude gesucht werden. So entstand ab 1960 das „Sebastian-Münster-Gymnasium“, zu dem 1972 noch eine neue Realschule und die Integrierte Gesamtschule „Kurt Schumacher“, sowie eine Berufsschule kamen. Es entstanden ein Altersheim und ein Haus der Jugend; 1966 wurd ein Frei- und Hallenbad eingeweiht.
Im Verlauf der Kommunalreform wurde 1972 der Ort Groß-Winternheim im Selztal eingemeindet, dessen frühere Selbständigkeit heute noch ihren Ausdruck in einem eigenen Ortsvorsteher findet.
Ab 1984 wurden die Rheindeiche verbessert, um die Hochwasserbedrohung Frei-Weinheims zu verringern. 1982 wurde das neue Rathaus eingeweiht. Nach Errichtung der runden Kreisverwaltung in den Jahren 1994/95 wurde Ingelheim ab 1996 offiziell die Kreisstadt des Landkreises Mainz-Bingen.