Vergangenheitsbewältigung

In Deutschland und Österreich versteht man unter Vergangenheitsbewältigung gewöhnlich den Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus und speziell des Holocaust, insbesondere die Konsequenzen, die aus dieser Zeit auf politischer und kultureller Ebene gezogen wurden.
Im weiteren Sinn ist Vergangenheitsbewältigung ein Sammelbegriff für unterschiedliche Methoden, die Geschichte allgemein oder in Bezug auf bestimmte Ereignisse aufzuarbeiten und durch eine Erinnerungskultur im Bewusstsein zu halten.
Übergreifende Gemeinsamkeiten und Unterschiede
In der Vergangenheitsbewältigung unterschiedlicher Länder lassen sich trotz länderspezifischer Individualitäten dennoch einige Gemeinsamkeiten feststellen. So sind häufig, auch abhängig von der politischen Funktion und Positionierung der jeweiligen Personen in der zu thematisierenden vergangenen Epoche, folgende Grundmodelle in der Haltung der Bevölkerung und/oder der neuen polischen Führung zu beobachten.
- Die nach vielen Regimewechseln besonders in ideologisch begründeten Diktaturen zu beobachtende Ansicht, dem früheren System habe eine "gute Idee, die schlecht verwirklicht wurde" zugrunde gelegen, war in Deutschland nach 1945 sowie auch im postkommunistischen Osteuropa eine weit verbreitete Ansicht.
- Auch die Forderung nach einer Beendigung der öffentlichen Thematisierung der Vergangenheit (Schlusstrich oder Stunde Null), häufig verbunden mit Amnestieforderungen, war nach 1945, und ist in Osteuropa anzutreffen. In Polen war dies beispielsweise (gruba kreska = dicker Strich) 1989 die explizite Politik des ersten demokratischen Präsidenten Tadeusz Mazowiewski. Als Argumente werden häufig die Notwendigkeit der Bewahrung des inneren Friedens, die Integration aller Gesellschaftsgruppen in die postdiktatorische Gesellschaft, die Bewahrung eines intakten Nationalbewusstseins, oder der Verweis auf die erforderliche Hinwendung zu Zukunftsaufgaben (deutscher Wiederaufbau nach 1945) ins Feld geführt.
- Die Forderung nach einer gründlicheren Vergangenheitsaufarbeitung kommt häufig von Gruppen welche schon vor dem Regimewechsel in Oppostion zum alten Regime standen, und nun eine konsequente Abkehr von den alten Institutionen, Eliten und Traditionen fordern. Im Mittelpunkt steht meist auch die Forderung nach Rechtfertigung der Opfer, Offenlegung der historischen Wahrheit, und einer Klärung bzw. Bestrafung früher verantwortlicher Repräsentanten. Dies soll auch durch symbolische Akte möglichst häufig und öffentlichkeitswirksam demonstriert werden.
Auch der vermehrte Rückzug ins Private und Aplotische ist, besonders nach der Überwindung ideologisch stark indoktrinierender Systeme, häufig zu beobachten, und blockiert eine Vergangenheitsaufarbeitung.
Die Aufarbeitung wird mit zunehmenden zeitlichen Abstand, und damit verbunden der demographischen Abnahme von Personen,welche in dieser Zeit gelebt haben, sowie der besseren Zugänglichkeit von gesperrten Archiven wissenschaftlich fundierter, unproblematischer und unverkrampfter.
Vergangenheitsbewältigung der NS-Zeit in der Bundesrepublik Deutschland
Mit dem Begriff der Vergangenheitsbewältigung der NS-Zeit werden mehrere Aspekte zusammengefasst: Die juristische (d.h. sowohl strafrechtliche, zivilrechtliche, als auch öffentlich-rechtliche) Aufarbeitung des Dritten Reiches, die geschichtswissenschaftliche, ethische, und auch soziale Aufarbeitung dieser Zeit. Am Anfang der Vergangenheitsbewältigung stand die juristische Aufarbeitung, d.h. die Bestrafung einiger Täter, die Rehabilitierung der Opfer und die Revision der nationalsozialistischen Rassegesetze (z.B. der sogenannten Nürnberger Gesetze). Im weiteren Verlauf sollte sich jedoch zeigen, dass beiden erstgenannten Bereiche eine Aufgabe für Jahrzehnte werden würden. Die juristische Seite wurde bald begleitet von einer historischen Erforschung der nationalsozialistischen Herrschaftszeit. Parallel begann man mit der personellen wie ideologischen Entnazifizierung und damit der Hinterfragung der im NS-Staat gesetzten Werte und Normen. Es galt einer breiten Öffentlichkeit deren menschenverachtenden Charakter deutlich zu machen und ihnen demokratische und ethisch-moralische Wertvorstellungen entgegenzusetzen. Diese Prozesse wurden durch die Siegermächte initiiert und hatten das Ziel, begangenes Unrecht nicht folgenlos zu lassen, das Leid der Opfer zu mildern, eine Wiederholung des Geschehens unter allen Umständen auszuschließen und die Ursachen sowie die Hintergründe dieser Verbrechen zu verstehen bzw. zumindest zu dokumentieren.
Integrationspolitik
Ehemalige Angehörige der NSDAP, ehemalige Wehrmachtsangehörige, Flüchtlinge und Vertriebene, die sich nach Jahren der Entnazifizierung, der Internierung und des Lagerlebens sozial und wirtschaftlich deklassiert fühlten, den Untergang des Nationalsozialismus als schweren Sinnverlust erlebten, bildeten ein erhebliches Potential für eine Destabilisierung der neu formierten Demokratie Westdeutschlands. Die SRP profilierte sich als Nachfolgepartei der NSDAP, ihre Parolen fanden in diesen Bevölkerungsgruppen begeisterte Zustimmung.[1]. Die deutsche Politik begegnete dieser Lage, indem sie von der Entnazifizierung zur Integration überging.
In der ersten Legislaturperiode der Bundesrepublik Deutschland (1949-1953) wurden wesentliche juristische Voraussetzungen geschaffen, um die große Zahl der NS-Täter gesellschaftlich integrieren zu können. 1949 verabschiedete der Bundestag einstimmig ein Amnestiegesetz, 1954 ein zweites. Die große Mehrheit der von deutschen Gerichten verurteilten Nationalsozialisten wurde auf diese Weise begnadigt. Die Urteile der Spruchgerichte aus der Entnazifizierung der Alliierten wurden aus dem Strafregister gestrichen. Das "131er-Gesetz" von 1951 (nach dem Paragraphen 131 des Grundgesetzes) regelte die Wiedereingliederung von Beamten, die 1945 von den Alliierten aus politischen Gründen entlassen worden waren, und von ehemaligen Berufssoldaten in den Öffentlichen Dienst. Auch dieses Gesetz wurde einstimmig verabschiedet. Damit wurden die Millionen von Mitgliedern der NSDAP entlastet, fast die gesamte NS-Elite war amnestiert und konnte dank des vom 131-Gesetz garantierten Wiedereinstellungsanspruchs in ihre Positionen in Politik, Justiz und Verwaltung zurückkehren. Der Wiederaufbau rückte in den Vordergrund, sich daran aktiv zu beteiligen kompensierte das moralische Versagen in der NS-Zeit.
Besonders laute Forderungen nach einem Ende der Entnazifizierung und nach einer Amnestie kamen von den Parteien, in denen sich viele alte Nationalsozialisten sammelten, wie von der DP und der FDP, sowie den Soldatenverbänden und dem BHE. „Mitte der fünfziger Jahre mußte niemand mehr befürchten, ob seiner NS-Vergangenheit von Staat und Justiz behelligt zu werden. Angeheizt von den ebenso profilierten wie populären vergangenheitspolitischen Forderungen der rechten Kleinparteien hatte eine Allparteienkoalition des Bundestages die den Deutschen nach der Kapitulation aufgezwungene individuelle Rechenschaftslegung beendet; fast alle waren jetzt entlastet und entschuldigt.“[2] Das Bundesjustizministerium rief eine Zentrale Rechtsschutzstelle ins Leben, die von Strafverfolgung bedrohte Häftlinge im alliierten Gewahrsam unterstützte. Die westdeutsche Strafverfolgung von NS-Verbrechen wurde fast vollständig eingestellt, Bundesjustizministerium und Bundesgerichtshof untersagten die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10, nach dem die Nürnberger Gerichte geurteilt hatten.
Die Verschärfung des Ost-West-Konfliktes zum Kalten Krieg begünstigte den Übergang zur Integrationspolitik. Im Vorfeld der Wiederbewaffnung Deutschlands wurde die ehemalige Führungsschicht der Wehrmacht von den Politikern umworben. Diese nutzten die neue Lage. In der Himmeroder Denkschrift legten sie ihre Vorstellungen von den neuen deutschen Streitkräften nieder und verlangten von den Regierungen der Westmächte eine Ehrenerklärung für die Wehrmacht. Fast alle Kriegsverbrecher, die in den Nürnberger Prozessen verurteilten worden waren, wurden vom amerikanischen Hochkommissar John J. McCloy freigelassen, fast alle der zum Tode Verurteilten begnadigt. Im Gewahrsam blieben nur die Spandauer Gefangenen. Im Wahlkampf 1953 besuchte Bundeskanzler Adenauer demonstrativ das britische Kriegsverbrecher-Gefängnis in Werl.
Erst nachdem diese Gesetze für Strafaufhebung und Reintegration der NS-Täter beschlossen waren, wandte sich der Bundestag der Wiedergutmachung zu. Nach Kriegsende mussten auf Anordnung der westlichen Besatzungsbehörden finanzielle Zuwendungen an NS-Verfolgte geleistet werden, und diese Verpflichtung musste nach der Gründung der Bundesrepublik vom Bundestag und von der Verwaltung übernommen werden. Einige Jahre später, am Ende der Legislaturperiode 1953, wurde das erste Wiedergutmachungsgesetz beschlossen.
Wiedergutmachungspolitik
Um die materiellen Schäden der Opfer zu ersetzen und der durch die Geschichte auferlegten Verantwortung gerecht zu werden, wurde die Wiedergutmachung eine feste Größe der bundesrepublikanischen Politik. In deren Geschichte wurde die NS-Vergangenheit in den ersten zwei Jahrzehnten nach Ende des Krieges jedoch weitgehend verdrängt. Die ungesühnten NS-Verbrechen rückten dann in den angehenden fünfziger Jahren mit dem Einsetzen der Strafverfahren gegen sogenannte „Exzesstäter“, verschiedene Skandale um wiederamtierende ehemalige nationalsozialistische Funktionsträger und mehrere studentische Aktionen wie die Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz (1959–1962) und die Ausstellung „Die Vergangenheit mahnt“ (1960–1962) wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Große Aufmerksamkeit erregte insbesondere der Prozess gegen Adolf Eichmann und der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Aber im Spannungsfeld des Kalten Krieges war die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung bis zur Verjährungsdebatte des Bundestages umstritten. In einer Umfrage im Jahre 1965 plädierte die Hälfte der Befragten für eine sofortige Beendigung aller NS-Prozesse.
Schlussstrich und Erinnerungskultur
Die Strafverfolgung der achtziger und neunziger Jahre vollzog sich nach einem Generationswechsel in einem anderen gesellschaftspolitischen Klima, in dem die Bereitschaft deutlich gestiegen war, sich mit den dunklen Seiten der deutschen Geschichte zu beschäftigen. Diese weit verbreitete Beurteilung muss aber relativiert werden. In einer Meinungsumfrage vom Mai 2005 sprachen sich 41 % der Befragten dafür aus, einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit der NS-Zeit zu setzen; für eine weitere Aufarbeitung stimmten 51 %. Derartige Schlussstrichdebatten und auch offene oder verdeckte Holocaustleugnung stehen immer wieder als Gegenpol zu einer Fortsetzung der Vergangenheitsbewältigung. Trotzdem hat sich in der Bundesrepublik wie auch in Österreich eine breite öffentliche Erinnerungskultur entwickelt, sowohl im Rahmen der politischen wie staatlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, als auch in Bezug auf eine Vielzahl privater Initiativen. Hieran trägt auch die hohe Zahl von Gedenkstätten einen wichtigen Anteil.
Vergangenheitsbewältigung der NS-Zeit in der DDR
Nach einer Periode der Entnazifizierung ging auch die DDR trotz des offiziellen Antifaschismus der SED dazu über, eine Politik der innenpolitischen Stabilisierung zu betreiben. Die großen Gruppen der ehemaligen NSDAP-Mitglieder, der aus der Kriegsgefangenenschaft heimgekehrten Soldaten und Offiziere sowie der Flüchtlinge und Vertriebenen bildeten auch in der DDR eine Gefahr der Radikalisierung. Nachdem die Volkskammer bereits im November 1949 ein Gesetz über den Erlaß von Sühnemaßnahmen für ehemalige Anhänger der Nazipartei und Offiziere der Wehrmacht verabschiedet hatte, wurden am 2. Oktober 1952 diesem Personenkreis die vollen staatsbürgerlichen Rechte zugesprochen.
Weitere Verwendung des Begriffs
Manchmal wird mit dem Begriff auch die Untersuchung von fraglichen Aktivitäten der ehemaligen DDR-Staatsicherheitsorgane (Stasi) und deren Vergehen belegt.
Im weiteren Sinne wird der Begriff Vergangenheitsbewältigung auf entsprechende Aktivitäten übertragen, in denen andere demokratische Staaten oder Gesellschaften ihre eigene Geschichte aufarbeiten, soweit sie von Diktatur, Verbrechen staatlicher Organe oder Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet ist. Dies geschieht oft in Form einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, die zeitlich begrenzt arbeitet und deshalb nicht alle Bereiche abdeckt.
In engsten Sinne wird der Begriff Vergangenheitsbewältigung auch für das Eingeständnis individueller Schuld verwendet, teilweise auch für das Eingeständnis des Versagens einer gesellschaftlichen Gruppe sowie für die persönliche oder gemeinsame Auseinandersetzung mit dieser Schuld.
Kritik am Begriff
Der Begriff Vergangenheitsbewältigung lässt sich auf den Historiker Hermann Heimpel zurückführen [3] und wurde vom Bundespräsidenten Theodor Heuss in vielen Reden verwendet. Der Begriff steht heute in der Kritik, weil er suggeriere, dass man die Vergangenheit „bewältigen“ könne – also endgültig erledigen. Daher wird von einigen der Begriff Vergangenheitsaufarbeitung oder Aufarbeitung der Vergangenheit vorgezogen. Als Alternative ist in den letzten Jahren der Begriff Erinnerungskultur aufgekommen. [4]
Siehe auch
- Holocaustkenntnis von Zeitzeugen
- Entnazifizierung
- NS-Prozesse
- Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen, Opfer der NS-Militärjustiz und Rehabilitation
- Zur evangelischen Kirche siehe unter Stuttgarter Schuldbekenntnis
- Zur katholischen Kirche siehe z. B. unter Papst Pius XII. (Eugenio Pacelli)
- Zur Auseinandersetzung um die NS-Justizverbrechen siehe auch Ungesühnte Nazijustiz
- Volkstrauertag
- Geschichtspolitik
- Das Projekt A Letter To The Stars ist ein wichtiges Zeitgeschichte-Projekt in Schulen der Republik Österreich. 2008 sollen Zeitzeugen/Überlebende an 250 Schulorte eingeladen werden.
Einzelnachweise
- ↑ Frei, aaO, S.327
- ↑ Zitat aus: Frei, aaO, S.20
- ↑ Peter Dudek: Vergangenheitsbewältigung. Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 1–2, 1992, S. 44 ff.
- ↑ Christoph Cornelißen u.a. (Hrsg.): Erinnerungskulturen. 2.Aufl. Frankfurt/M 2004, ISBN 3-596-15219-4, S. 12
Literatur
- Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a. M. 1963.
- Armin Mohler: Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 1968.
- Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, ISBN 3-423-30720-X
- Helmut König, Michael Kohlstruck und Andreas Wöll: Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, (Leviathan Sonderheft, Nr. 18) Opladen/Wiesbaden 1998, ISBN 3-531-13156-7
- Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der 'Vergangenheitsbewältigung' in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, ISBN 3-899-42773-4
- Glienke, Stephan Alexander/Paulmann, Volker/Perels, Joachim (Hrsg.): Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. ISBN 3-8353-0249-3 Rezension