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Kinästhetik

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Die Kinästhetik (engl. Kinaesthetics, durch die Sinne wahrgenommene Bewegung) ist ein Instrument zur Analyse von menschlichen Bewegungsmustern, das in den USA entwickelt wurde. Die Bezeichnung „Kinästhetik“ ist eine Kombination der beiden griechischen Wörter „kinesis“ (Bewegung) und „aesthesie“ (Wahrnehmung). Ganz allgemein formuliert befasst sich die Kinästhetik mit dem Studium der menschlichen Bewegung, die für die Ausübung der Aktivitäten des täglichen Lebens erforderlich ist.

Was ist Kinästhetik?

Grundlagen des kommunikativen Bewegungslernens mit Kinästhetik (Kinaesthetics)

Die Unterstützung der Bewegungsfähigkeit von pflegeabhängigen Personen benötigt Kommunikationfähigkeit, Bewegungskompetenz und Körperwissen. Achtsame Berührung, ein bewusstes eigenes Bewegungsverhalten und der Austausch von sensomotorischen Informationen von Pflegender und Patient ist notwendig, damit der Patient die Aktivitäten des alltäglichen Lebens im größtmöglichen Maß eigenständig ausführen kann. Das Wahrnehmen und Erkennen des Bewegungspotentials der zu pflegenden Persons unterstützt den Erhalt und die Erweiterung ihrer Bewegungsfertigkeiten. Dies ist vom Umfang ihres selbstständigen Bewegungsvermögens unabhängig. Vielmehr bedarf es einer aufmerksamen Haltung der Pflegenden, Kenntnisse über die Faktoren menschlicher Bewegung, ihrer Bereitschaft zum Bewegungslernen sowie ihrer sozialen und kommunikativen Kompetenz.

Bewegungslernen

Ein Bewegungslernen in diesem Sinne ist orientiert am ökonomischen Bewegungsverhalten von kleinen Kindern. In den ersten Lebensjahren ist das gesunde Bewegungsverhalten kraftökonomisch, auf die soziale und materielle Umgebung bezogen und handlungsorientiert. Kindliche Bewegungsmuster → verlaufen im steten Wechsel von Spannung und Lösung der Muskeln; → erscheinen im gesamten Körper; → folgen der Körperform und nutzen die Stützkraft der Knochen; → orientieren sich in der Schwerkraft und nutzen diese;

→	fördern Wahrnehmungsprozesse;

→ erleichtern die aktive Bewegungskontrolle; → wirken nach innen auf die psychovegetative Regulierung; → entfalten sich autonom, intentional („hin zur Welt“) und im sozialen Dialog. Diese bewegungsökonomischen Faktoren sind im Bewegungsverhalten Erwachsener wenig zu beobachten. Aufgrund von Erziehung, Sozialisation, Lebenskultur, Bewegungsgewohnheiten, Stressbelastungen, Bewegungsmangel, Gesundheitseinschränkungen u.a. sind Alltags- und Arbeitsbewegungen im allgemeinen zielgerichtet, zügig, bewegungsarm, häufig anstrengender als nötig und ohne größere Aufmerksamkeit für das tatsächliche Geschehen. Durch ein Bewegungslernen, das sich an den ökonomischen Bewegungsverhalten von Kindern orientiert, können Erwachsene → Bewegungsabläufe verlangsamen, um die eigene Bewegungsgeschwindigkeit und den Bewegungsryhthmus zu empfinden und zu finden; → kurvenlinige anstatt gradlinige Bewegungsrichtungen in der vertikalen Raumorientierung finden , sowie spiralige anstatt parallele Bewegungsmuster im Körper bevorzugen, um das Gleichgewicht in der Schwerkraft und die Stützmöglichkeiten des Skeletts zu unterstützen; → kraftdynamische anstatt kraftstatische Aktivitäten bevorzugen, um Kraftanstrengungen gegen die Schwerkraft zu vermeiden. Bewegungsökonomie in Alltags- und Arbeitsbewegungen entwickelt sich durch: → das Empfinden für Anspannen und Lösen in verschiedenen Muskelgruppen; → die Entwicklung eines ausgeglichenen Grundtonus der gesamten Muskulatur; → das Wahrnehmen und bewusstes Einsetzen der Stützkraft des Skeletts; → das Erspüren der tatsächlichen Beweglichkeit des Skeletts; → Entwicklung eines spürenden Kontaktes zum Boden; → das freie Fliessen des Atem; → die fokussierte Aufmerksamkeit für das momentane Geschehen. Die entstehende Zentriertheit und Leichtigkeit der eigenen Bewegung nutzt die Festigkeit des Bodens und das bewegte, labile Gleichgewicht in der Schwerkraft als Mittel für ein fliessendes Gleichgewicht im Bewegungs- und Handlungsdialog. Dies unterstützt die Integration eines ökonomischen Bewegungsverhaltens, das durch Beweglichkeit, Leichtigkeit und Einfachheit wahrgenommen werden kann. Dem gegenüber steht ein Bewegungsverhalten, das durch statisch-gehaltene Positionen und anstrengende, ermüdende Aktivitäten gegen die Schwerkraft als normal angesehen wird.

Bewegung und Gesundheit

Pflegeabhängige Personen benötigen ein ökonomisches Bewegungsverhalten zur Wiedererlangung ihrer Selbstregulierung, Selbststeuerung und Eigenständigkeit. Kenntnisse über die Grundbedingungen menschlicher Bewegung und Lernerfahrung, um Bewegungsverhalten wahrzunehmen, zu analysieren und an die Möglichkeiten der Person anzupassen, erweitert die Bewegungskompetenz der Pflegenden und reduziert ihre Berufsbelastungen. Durch die Fertigkeit über kinästhetische Informationen Bewegungsunterstützung, Bewegungsführung und/oder Bewegungsbegleitung zu geben, wird helfendes Handeln zu einem symmetrischen Interaktionsprozess und somit zu einer gegenseitig stützenden sozialen Erfahrung. Dieser Handlungsdialog fördert die Gesundung und die Gesunderhaltung des Patienten und verweitert seine Lebensqualität.

Die Pflegende ist auch Vermittlerin von Bewegungsverhalten zur Rehabilitation in der Klinik und in der ambulanten Pflege. In der Anleitung und Begleitung von selbstsorgenden Handlungen des Patienten und von pflegenden Angehörigen steigert eigene Bewegungsökonomie die Aufmerksamkeit für Möglichkeiten, bleibende Gesundheitsprobleme und Einschränkungen in angemessene Bewegungsabläufe zu integrieren. Dies kann die Entstehung von sekundären Gesundheitsproblemen und zunehmender Pflegeabhängigkeit des Patienten verhindern oder reduzieren. Darüber hinaus ist es eine wirksame Prävention für pflegende Angehörige vor gesundheitlichen und psychosozialen Überlastungen.

Bewegungsempfindung (Kinästhetik) Die Herkunft des Wortes leitet sich aus den griechischen Wörtern kiniesis = Bewegung, aisthesis = Empfindung ab. Kinästhese, Kinästhesie oder Kinästhetik (= Bewegungsempfindung) bezeichnet im allgemeinen die nach innen gerichtete (interiozeptischen) menschliche Wahrnehmungsfähigkeit, die für die Entwicklung und Erhaltung von lebenswichtigen Funktionen des Menschen wesentlicher sind ist als die nach aussen gerichteten (exteriozeptischen).

Als kinästhetischen Empfindungsfähigkeit wird folgendes eingeordnet: → Muskelspannung mittels Muskel- und Sehnenrezeptoren; → Gelenkbewegungen mittels Gelenkrezeptoren; → Tiefendruck mittels Haut- und Muskelrezeptoren; → Schmerzen durch Schmerzrezeptoren; → Gleichgewicht und Raumlage mittels Vestibulapparat; → viszerale und vegetative Empfindungen durch Organrezeptoren; → psychosomatogene Selbstempfindung, Körperbild und Körper-Selbst mittels komplexer hirnorganischer Funktionskreisläufe

Wissen: Die zugrunde liegende Definition der kinästhetischen Empfindungsfähigkeit beruht auf der bewegungspädogischen Arbeit und Forschung des Physikers Moshe Feldenkrais (vgl. Feldenkrais, M., 1994). In der Fachliteratur findet sich hierfür auch der Begriff Propriozeption (Tiefenwahr-nehmung), der gleich oder ähnlich definiert ist. Der Arzt Thure v. Üexküll nannte dieses Selbstempfinden „subjektive Anatomie“ zur Veranschaulichung der Wichtigkeit des Körpererlebens für die psychosomatische Medizin und die Notwendigkeit einer körperbezogenen Psychotherapie. (v. Üexküll, Th., 1994).

Selbstempfinden und Eigenerleben - sich körperlich spüren, erfassen und deuten zu können - beruht auf eher unbewussten oder vorbewussten kinästhetischen Empfindungen, die durch die Wahrnehmung folgender Aspekte bewusst werden können: → Körpergewicht in der Schwerkraft, → die Raumposition, → Beweglichkeit, Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit → Bewegungs- und Handlungsfähigkeit, → körperliches Empfinden von Affekten und Emotionen, → das Erleben des eigenen Wohlbefindens, → das Wahrnehmen der körperlichen Faktoren von Stressbelastungen → das Empfinden sozialer Nähe zu anderen Personen Von Erwachsenen werden diese Tiefendimensionen des Selbsterlebens und der Eigenständigkeit häufig nur bemerkt und beachtet, wenn sich Gesundheitsprobleme, Bewegungseinschränkungen, Einschränkung des Wohlbefindens, psychovegetative Regulierungsstörungen, Störungen der psychischen Befindlichkeit oder schwere Erkrankungen eingestellt haben.

Bewegung und Sinnesfunktion Die Funktion aller Sinnessysteme ist bedingt durch die Informationsaufnahme an spezifischen Rezeptoren, die sensomotorische Verarbeitung (gesteuerte Muskeltätigkeit) und die neuronale Repräsentation. Im gesunden Menschen ist dies autonom organisiert und bleibt unbewusst. Darüber hinaus kann jede Sinnesfunktion einer bewussten und willentlichen Funktionssteuerung und Funktionsweiterung unterliegen, die durch Bewegungsempfindung und Beeinflussung der Muskeltätigkeit (Bewegungskontrolle) geschieht.

Kinästhetik und Selbstkonzept Das Selbstkonzept einer Person entsteht durch neuronale Repräsentationssysteme auf Basis der kinästhetischen Empfindungssysteme, sowie anderer Sinnesfunktionen und erlernten Einstellungen, Haltungen, Denkprozessen, Erwartungen. Neben den frühen Bindungs- und Beziehungserfahrungen wirkt die Lern- und Lebensentwicklung mit unterstützenden und /oder traumatischen Erfahrungen im Selbstkonzept einer Person. Das zeigt sich in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur Welt. Selbstkonzepte sind dynamisch und entwickeln sich durch erlebbare Erfahrung, die sich durch die kinästhetische Wahrnehmung somatisch und psychisch im Bewusstsein und Unbewusstsein einer Person verankert.

Definition: Selbstkonzept - alle bewussten und unbewussten Anteile des Selbsterlebens (Ich-Erleben), der Einstellung zu sich selbst, des Selbstwertes und der eigenen Wirksamkeit in Beziehungen, Umwelt etc. ein. Der Begriff deutet auf Veränderungsmöglichkeit des Selbstkonzeptes durch Lernen, Bewegung, Beziehungserfahrung, Therapie oder auch bewusste kognitive Strategien, Meditation, Erlebnisse, positive und negative Ereignisse, schwerwiegende Erkrankungen u.m..

Wissen: Neuronale Repräsentationen – bestimmte hirnorganische Strukturen und Felder, die sowohl die Sinnesfunktionen steuern und sie intern auslösen, Wahrnehmung ermöglichen (Erkennen, Einordnen und Deuten von sensorischen Informationen), sowie im Zusammenspiel mit anderen Hirnregionen (Körper)-zustände erzeugen und Bewusstsein bilden.

Beispiel: “Die Patientin, die so gut über Musik sprechen konnte, wurde von gravierenden Lokomotionsbehinderungen (Lokomotion = Fortbewegung Anm. d. Verf.) geplagt. Sobald jemand sie begleitete, ging sie mühelos. Die von ihr dafür vorgeschlagene Erklärung ist aufschlussreich: “Wenn Sie mit mir gehen, fühle ich in mir Ihre Kraft zum Gehen. Ich nehme teil an der Stärke und Freiheit, die Sie besitzen. Ich habe teil an Ihrer Kraft, Ihrer Wahrnehmung, Ihren Gefühlen, Ihrem Leben. Ohne es zu wissen, machen Sie mir ein großes Geschenk.“ Diese Patientin hob die Ähnlichkeit dieser Erfahrung mit dem Empfinden von Musik hervor: “Ich nehme teil an anderen Menschen, wie ich an der Musik teilnehme. Ob es andere Menschen mit ihren eigenen, natürlichen Bewegungen sind oder die Bewegungen der Musik, immer teilt sich mir dieses Gefühl der lebendigen Bewegung mit - nicht nur der Bewegung, sondern auch des Lebens.“ (aus Sacks, Oliver: Awakenings - Zeit des Erwachsens, S. 337)

Bewegungsunterstützung im Pflegeprozess

Bei vielen pflegerischen Interaktionen sind die üblichen verbalen und nonverbalen Mittel der Kommunikation nur begrenzt wirksam. Die kinästhetische Wahrnehmungssfähigkeit im direkten Berührungskontakt ermöglicht den gegenseitigen Austausch von Bewegungsinformationen während der durchzuführenden Pflegehandlung. Wechselseitig vermittelt werden sensomotorische Aspekte des Fortbewegens, des Haltens einer Position oder des zielgerichteten Bewegens einzelner Körperteile, um die gegenseitige Anpassung und einen aufeinander bezogenen Bewegungsablauf zu gestalten. Bei differenzierter Wahrnehmungsfähigkeit sind körperliche Auswirkungen von affektiven, kognitiven, emotionalen oder sozialen Zuständen (z.B. Verwirrung, Vorbehalte, Ablehnung, Zustimmung u.v.m.) durch Abwehrspannung oder Spannungsanpassung spürbar und können beachtet werden.

Wissen Sensomotorik bezeichnet das Ineinanderwirken der Gesamtheit der sensorischen (analysatorischen) und motorischen (effektorischen) Teilsysteme, die eine Bewegungshandlung ermöglichen. Die sensomotorische Funktion ist von affektiven, kognitven, emotionalen und sozialen Faktoren beeinflusst und wirkt auf diese Faktoren zurück.

Aktivierung durch Eigenaktivität Die sensomotorischen Anteile von Lebensaktivitäten werden häufig nicht wahrgenommen, bzw. es ist nicht genügend Wissen und Bewegungskompetenz vorhanden, wie diese unterstützt werden können. Das führt zur Vernachlässigung von vorhandenen Bewegungsfähigkeiten der zu pflegenden Person. Passives Verhalten, Reduzierung der Selbstwahrnehmung mit spezifischen psychophysischen Folgen, Verlust von Bewegungsfertigkeiten und die Entwicklung eines einschränkenden Selbstkonzeptes sind typischen Auswirkungen, die den Pflegeprozess belasten. Ohne eine angemessene Bewegungsunterstützung bleiben Aufforderungen und Appelle an den Patienten, dass er sich mehr bewegen, sich mehr Mühe geben solle u.a.m. wirkungslos. Hinzu kommt, dass der Patient direkt oder indirekt negative Botschaften über sich selbst erhält anstatt eine angemessene Unterstützung. Einen leichten und sicheren Bewegungsablauf durchzuführen, der die Wahrnehmung eigener Fähigkeit vermittelt, motiviert zur Aktivierung eigener Möglichkeiten. Weniger motivierend bzw. demotivierend ist es, wenn der Patient durch eine Pflegeaktivität erfährt, dass er scheinbar immobil und hilflos ist.

Beispiel: Ein Patient benötigt Hilfe beim Aufsetzen zur Bettkante. Hat die Pflegende nicht genügend sensomotorische Fertigkeiten und Geschicklichkeit oder nimmt nicht wahr, welche individuellen Bewegungsanteile sie wirksam unterstützen kann, wird sie den Patienten auf die Bettkante bewegen oder heben, ohne ihn aktiv zu beteiligen. Diese „objekthafte “ Interaktion reduziert die Möglichkeiten beider Beteiligten: Die Hebeanstrengung der Pflegenden bewirkt, dass der Patient den Kontakt zum Boden/zur Auflagefläche und zur Schwerkraft verliert. Dadurch kann er sich nicht aktiv beteiligen, allenfalls durch Zusammenhalten seines Körpers. Die pflegerische Interaktion berät körperlich, emotional und sozial aus dem Gleichgewicht und wird damit zur Belastung der Beteiligten. Diese beeinflusst die pflegerische Beziehung negativ, bsp. durch Furcht der Pflegenden vor Überlastung und Gesundheitsschäden, Ärger über die Inaktivität des Patienten oder das eigene Unvermögen; auf Seiten des Patienten durch zunehmende Passivität, Angst vor unsicheren oder schmerzhaften Bewegungen, Zustandsverschlechterung, Regression etc..

Merke: Die Fähigkeit, über kinästhetische Mittel zu kommunizieren und sensomotorische Aspekte der Pflegehandlung zu beachten, ist eine wesentliche Voraussetzung, um pflegerische Interaktionen im Gleichgewicht zu halten. Symmetrische Bewegungsinteraktion stabilisieren in der Regel die psychosoziale Beziehung zwischen Menschen.


Auswirkung von Stressbelastung

Die physische und psychische Belastung ist in der Pflege im Allgemeinen hoch. Eine gesunde Anpassungs- und Selbstsorgefertigkeit der Pflegeperson beeinflusst ihre Vermögen, sich angemessen körperlich, emotional und sozial auf Personen ihres Arbeitsumfeldes zu beziehen und ihren sonstigen beruflichen Aufgaben Stand zu halten. Unbewältigte Stressbelastungen führen zur Einengung im Denken, Fühlen und Handeln. Dies zeigt sich → neuromotorisch in einer Einengung von Bewegungsmöglichkeiten, die sich sensomotorisch durch Tonuserhöhung oder Tonusreduzierung der Muskulatur und daraus resultierend, durch eine Verminderung von Beweglichkeit und Vitalität; → psychosozial in einer Reduzierung der Selbststeuerung und Beziehungsfähigkeit; → immunologisch in einer verminderten Krankheitsabwehr; → neurobiologisch im Untergang von neuronalen Verbindungen, die durch der Einengung im Denken, Fühlen und Handeln geschieht, bei gleichzeitiger neuronaler Stabilisierung und Vertiefung dieser Einengung. (vgl. Hüther, G., 2001) Werden Stressbelastungen zu hoch und bleiben sie auf Dauer unbewältigt, kommt es zu in einer krankheitsauslösenden Dynamik - die körperlichen Auswirkungen des unbewältigten Stress führen über Spannung, Schmerz, Unwohlsein, Krankheit und/oder durch ungeeignete Lösungsversuche (z.B. süchtiges Verhalten in Bezug auf Genuss- und Nahrungsmittel, Drogen, Medikamente, Sport, Konsum etc.) zu einer Reduzierung körperlicher, emotionaler und sozialer Befindlichkeiten, die wiederum weitere Stressbelastungen nach sich ziehen.

Einschränkendes Bewegungsverhalten Bei der Durchführung von routinemäßigen Bewegungsabläufe oder Hebeaktivitäten sind Pflegende häufig nicht aufmerksam für die Bewegungsempfindung im eigenen Körper. Ursache und Folge ist eine zu geringe Bewegungskompetenz sowie die daraus entstehenden unzureichenden und belastenden Handlungsgewohnheiten. Dies führt zur Zunahme von Stressbelastungen, die sich körperlich und psychosozial auswirken. Die Alarmzeichen einer gesundheitlichen Gefährdung oder Einschränkung, wie Schmerzzustände, chronische Anspannung, Erschöpfung und die dadurch entstehenden emotionalen und sozialen Einschränkungen und Belastungen im Umgang mit Patienten können auch als Mangel der Bewusstheit und Anpassungsfähigkeit im eigenen Bewegungsverhalten angesehen werden.

Bewegungsanpassung Bewegungsökonomie und die daraus resultierende körperliche Entlastung erweitert die Anpassungsfähigkeit der Pflegenden an die Bewegungsmöglichkeiten des Patienten. Dies reduziert Stressbelastungen. Die eigene Körperbewegung als „Motor“ für den Patienten einzusetzen, gleichzeitig die vorhandenen Bewegungs-möglichkeiten des Patienten zu beachten und ihn dementsprechend an den Handlungs- und Bewegungsabläufen zu beteiligen, ist Stressbewältigung durch körperliche Intervention im Pflegeprozess. Findet eine Anpassung an die Bewegungsmöglichkeit des Patienten statt, empfängt die Pflegende ausgleichende Bewegungsinformationen. Diese wirken in der Weise auf sie zurück, wie sie auf den Patienten wirken. Der fliessende Austausch von Bewegungsinformationen verändert die Bewegungsfähigkeit beider beteiligten Personen.

Merke Im eigenen Körper empfindet die Pflegende das Mitbewegen des Patienten durch mehr oder weniger Widerstand, bzw. mehr oder weniger Muskelanspannung und anderen Aspekten der Bewegungsökonomie. Ist die kinästhetische Wahrnehmung der Pflegenden durch eigene zu hohe Muskelanspannung reduziert, kann sie sich nicht anpassen und verhindert dadurch die Möglichkeiten des Patienten.

Kinästhetik (Kinaesthetics) als komplementäres Pflegekonzept

Im Pflegewesen der BRD ist seit ca. 1990 eine Methode/Methodik namens Kinästhetik (engl. Kinaesthetics) bekannt geworden. Es geht auf die bewegungspädagogische Arbeit der US-Amerikaner F. Hatch und L. Maietta zurück. Sie konzipierten in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts durch Erkenntnisse der Forschung und Bewegungspädagogik von Moshe Feldenkrais, Mabel Todd u.a., Schulen des modernen Tanzes, der Verhaltenskybernetik (K. U. Smith), der Humanistischen Psychologie (A. Maslow u. a.), der Kommunikationsforschung (G. Baetson u. a.), ein eigenes System für Körperarbeit, Bewegung, Tanz und Kreativität. Diese Gruppen wurden seit 1980 in der Schweiz und BRD von Personen besucht, die Bewegung, Tanz und Körperarbeit zur Erweiterung von kreativen und kommunikativen Fähigkeiten, zur Verbesserung ihres Wohlbefindens durch ein körperbezogenes soziales Miteinander und als bewegungs- und tanzpädagogische und therapeutische Fortbildung nutzten. Mitte der achtziger Jahre entstanden die ersten Ausbildungsgruppen für Menschen aus pädagogischen, therapeutischen und pflegerischen Berufen in der BRD und Schweiz (vgl. Citron, 2004, S. 8 ff). Die beruflichen Anwendungsmöglichkeiten der Kinästhetik in Pflege und Behindertenarbeit sind in Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachpersonen entwickelt und etabliert worden (S. Schmidt, Ch. Bienstein, I. Citron, H. Bauder-Mißbach u.a.).

Kinästhetik (Kinaesthetics) ist heute den Fachpersonen aus Pflegeberufen vor allem als komplementäres Konzept für einen bewegungsorientierten Umgang mit Patienten bekannt. Kürzere berufliche Fortbildungsangebote (Grund- und Aufbaukurse, Praxisanleitung) und Lernangebote im Rahmen des Unterrichts an den Schulen für Pflegeberufe zielen auf Möglichkeiten

→ die eigene Körperbewegung wahrzunehmen und für den Handlungsdialog mit dem Patienten zu nutzen;

→ durch Bewegungsinteraktionen den Patienten zur Eigenaktivität zu motivieren und ihn darin zu unterstützen;

→ die eigenen Bewegungsfertigkeiten als Gesundheitsvorsorge zu erweitern.

Berufliche Fortbildung Fortbildung für Pflegende Zur Anleitung von Pflegenden wurde ein dreitägiges Lernangebot (Grundkurs) konzipiert, das Inhalte und Erfahrung vermitteln soll. Folgeangebote durch Praxisanleitung und Aufbaukurs sollen den Transfer des Erlernten vertiefen. Hierfür werden sechs Lernbereiche vorgestellt durch Bewegungsaktivitäten in Einzel- und Partneraktivitäten vermittelt, im Miteinander der Lerngruppe körperlich ausprobiert und als Pflegeanwendungen geübt. Die Inhalte der sechs Lernbereiche sind ein Instrument für bewegungsorientierte und gesundheits-fördernde Interaktionen von der Pflegeperson und dem Patienten. Inwieweit sich die Möglichkeiten zur Gesundheitsförderung realisieren können, ist abhängig von der sensomotorischen und kommunikativen Kompetenz der Pflegeperson, der zur Verfügung stehenden tatsächlichen Kontaktzeit mit dem Patienten, der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel, Pflegeumgebung etc., und der Berufskompetenz der zusammen arbeitenden Fachkolleg/innen und anderen Fachpersonen.

Gesundheitsförderung Gesundheitsfördernde Bewegungsinteraktionen gestalten zu können, benötigt eine hohe Beziehungskompetenz der Pflegenden. Die Pflegende beeinflusst während der Durchführung von pflegenden Handlungen die psychovegetative und sozialemotionale Selbstregulierung, die Fähigkeit zur Selbstsorge und die vitale Befindlichkeit des Patienten. Dadurch antwortet sie auf Grundbedürfnisse nach Beachtung, Berührung bzw. Körperkontakt, sozialer Beziehung, Eigenständigkeit und Abgrenzung. Pflegende Tätigkeiten ohne die notwendige Zuwendung zur Person können pflegetechnisch korrekt sein, gesundheitsfördernd sind sie nicht. Gesundheitsförderung benötigt die Beachtung der Eigenart der zu pflegenden Person (und ihrer Angehörigen) und ihre aktive und zustimmende Beteiligung am Pflegeprozess.

Wissen und und Selbstfahrung aus kürzeren Fortbildungsangeboten in Kinästhetik (Kinaesthetics) sowie die Anwendung bzw. Anwendungsversuche der Inhalte in der Pflegepraxis erschließen in der Regel noch nicht die gesundheitsfördernden Möglichkeiten, die sich durch ein ökonomisches Bewegungsverhalten ergeben können. Hierfür bedarf es in der Regel längerfristiger Fort- und Weiterbildungsangebote (Fortbildung zur Kinästhetik-Tutor/in, Weiterbildung zur Kinästhetik-Multiplikator/in und Kinästhetik-Trainer/in) zur Erweiterung der kommunikativen und sensomotorischen Kompetenz. In diesen längerfrisitgen Lernangeboten können sich Fachpersonen mit den Grundlagen einer hohen sensomotorischen und kommunikativen Kompetenz und mit der Entwicklung eines eigenen ökonomischen Bewegungsverhaltens auseinander setzen und gleichzeitig berufliche Qualifikationen und Unterrichtsbefähigungen für das Thema Kinästhetik erwerben.

Lernschwierigkeiten Eine direkte Umsetzung der Inhalte aus Lern- und Bewegungserfahrung aus kürzeren Fortbildungsangeboten ist wegen an der Individualität des Patienten, durch seine eingeschränkten Möglichkeiten, Krankheitszustände, Bedürfnisse sowie an der noch mangelnden Bewegungskompetenz der Pflegenden schwierig. Die Erweiterung sensomotorischer und kommunikativer Fertigkeiten ist individuell und multifaktoriell – sie benötigt angemessene Zeiträume, qualitative Lernunterstützung und eigene Motiviation. Die Kompetenzentwicklung führt zu individuellen sensomotorischen und kommunikativen Fertigkeiten, die sich als Beziehungsqualität durch die unmittelbare Wirksamkeit in der beruflichen Arbeit zeigt.

Lerninhalte werden aus verschiedenen Gründen nicht erprobt und durch Praxiserfahrung vertieft:

→ Die notwendigen sensomotorischen Fertigkeiten können bei kürzeren Fortbildungsangeboten allenfalls verdeutlicht, aber nicht verinnerlicht werden. Die benötigte Bewegungskompetenz ist noch nicht entwickelt.

→ Das Konzept wird als „Hilfe zum richtigen Handgriff“ von Lernenden verkannt und/oder für nicht geeignet erachtet (für einzelne Personen oder im Allgemeinen).

→ Notwendige Lernzeit zur Umsetzung des Neuerlernten wird sich selbst oder durch arbeitsorganisatorische Abläufe nicht zugebilligt; Veränderungen stören routinierte Abläufe, die für zeitökonomischer gehalten werden als das neu Erlernte.

→ Handlungsveränderungen werden im Pflegeteam durch Unmut gegen neue Anforderungen nicht unterstützt oder aktiv verhindert .

→ Handlungsgewohnheiten sind grundsätzlich schneller verfügbar als neu Erlerntes bzw. als ökonomische Bewegungsmuster, die in den typischen Alltags- und Arbeitsbewegungen von Erwachsenen wenig genutzt werden. Dies gilt besonders in belastenden Situationen.

→ Es mangelt an kommunikativer und psychosozialer Kompetenz, um mit dem Patienten einen symmetrischen Handlungsdialog einzugehen.

→ Die entstehende Nähe zum Patienten durch die bewusste sensomotorische Kommunikation wird abgelehnt, z.B. aus Angst vor Nähe-Distanz-Problemen oder durch unreflektierte eigene Berührungsängste;

→ Hohe Stressbelastungen durch Überforderung, Überlastung, Unzufriedenheit, Konflikte, Gesundheitseinschränkungen verhindern oder erschweren das eigene Bewegungslernen durch die pflegerische Praxis.

Citron, I.; Kinästhetik – Kommunikatives Bewegungslernen, 2. überarbeitete Auflage, Georg-Thieme-Verlag, Stuttgart 2004 Feldenkrais, M.: Der Weg zum reifen Selbst – Phänomene menschlichen Verhaltens, Junfermann, Paderborn, 1994

Hüther, G.: Wie aus Stress Gefühle werden – Betrachtungen eines Hirnforschers, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1999

Hüther, G.: Biologie der Angst – Wie aus Streß Gefühle werden, 4. Auflage, Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 2001

Milz, H.: Der wiederentdeckte Körper - Vom schöpferischen Umfang mit sich selbst, dtv, München, 1994

Mulder, Theo: Das adaptive Gehirn – Über Bewegung, Bewusstsein und Verhalten, Georg-Thieme-Verlag, Stuttgart 2007

Rüegg, J.C.: Gehirn, Psyche und Körper – Neurobiologie von Psychosomatik und Psychotherapie, 3. Auflage, Schattauer Verlag, Stuttgart 2006

Schewe, H.: Die Bewegung des Menschen – Entstehung und Organisation, Thieme, Stuttgart 1988

Schmidtbauer, W.: Helfersyndrom und Burnout-Gefahr, Urbahn & Fischer, München 2002

v. Üexküll, Th. Subjektive Anatomie – Theorie und Praxis körperbezogener Psychotherapie, Schattauer, Stuttgart, 1994

Kinästhetik-Konzepte

Die 6 Konzepte sind:

  1. Interaktion
  2. Anatomie
  3. Bewegung
  4. Beziehung
  5. Funktion
  6. Umgebung

1. Interaktion

Eine gelungene Interaktion zwischen Menschen setzt ein gegen­seitiges Austauschen von Informationen und das Wahrnehmen von Informationen aus der Umgebung voraus. Der Informationsaustausch kann auditiv, visuell, taktil, kinästhetisch, oft auch olfaktorisch oder gustatorisch sein. Kinästhetik stellt die Wahrnehmungsfähigkeit über kinästhetische Mittel in den Vordergrund der Interaktion (sensomotorische Kommunikation). Dies wirkt auf die Somato­sensibilität (Körperbe­wußtsein) des Menschen. Somatosensibilität ist ein systemisches Zusammenspiel der Oberflächensensibiltät (den Rezeptoren in der Haut), der Tiefen­sensibiltät (Wahrnehmung über Raumlage, Gelenkstellung, Gelenk­bewegung, Muskelspannung, Gleichgewicht, Körperbild, Raumlage) sowie der vegetativen Regulation des Menschen.

Der gemeinsame Faktor für die Funktion der verschiedenen Sinnessysteme ist Veränderung. Sinnesorgane registrieren Reizunterschiede. Veränderung entsteht durch Bewegung. Jeder Sinnesempfindung liegen Bewe­gungsprozesse zugrunde (z.B. Augenmuskelbewegung, Atembewe­gung, Kaubewegung etc.); durch Bewegung werden verschiedene Sinnesinformationen integriert oder selektiert.

In dieser Weise beschrieben ist Bewegung alles oder nichts. Auch Bewegung ist nur über Veränderung wahrnehmbar; Bewegung ist ständige Veränderung. Das Veränderbare der Bewegung ist über Aspekte von Zeit, Raum und Kraftaufwand (engl. effort) erfahrbar und bestimmbar. Die Durchführung von Interaktionen, in denen Körperbewegungen im Mittelpunkt stehen (sensomotorische Interaktion), ist durch kinästhetische Mittel am wirksamsten: Über den kinästhetischen Kanal können alle Aspekte der Bewegungselemente simultan und genau wahrgenommen werden; auditiv ­können in hoher Übereinstimmung nur zeitliche Aspekte, visuell nur räumliche ­Aspekte der Bewegung wahrgenommen werden. In der sensomotorischen Interaktion wird auf Informationen geachtet, die eine andere Person über die eigene Körperlich­keit ­vermittelt (tatsächliche Bewegungsmöglichkeiten, Muskelspannung, Gewichtverteilung im Körper, körperliche und emotionale Befindlichkeit etc.). Zur Analyse des Interaktionsgeschehens werden drei Gruppen beschrieben. Bestimmende Merkmale zur Einordnung sind die Richtung des Informtionsaustausches (räumliche Anordnung) und die zeitliche Verzögerung des Feedbacks. Bewegungsexperimente zur Unterscheidung unterstützt die bewußte Anpassung an die Interaktionsfähigkeit der anderen Person/en. In der Wirklichkeit gibt es keine Interaktion ohne Feedback, sondern nur dessen Nichtbeachtung. Werden Bewegungsinformationen angemessen und unmittelbar beantwortet, entsteht eine synchronisierte Bewegungsinteraktion (mutual interaction) = Information und Rückkopplung erfolgen so unverzögert, dass ein gemeinsamer fliessend-harmonischer "Bewegungstanz" entstehen kann, der für alle Beteiligten kraftökonomisch ist. Wichtig ist die Beachtung des gemeinsamen Gleichgewichts in der Schwerkraft.

2. Anatomie

Die strukturellen Aspekte der menschlichen Bewegung werden durch ein einfaches Bild vermittelt: Knochen und Muskeln sind die berührbaren Teile, sie arbeiten in Funktionsein­heit mit verteilten Auf­gaben: Die Knochen sind das stützende, gewichttragende und stabile Element, die Muskeln das dynamische, verändernde und instabi­le Element des Körpers.

Die als eher knöchern wahrgenommenen Körperteile Kopf, Brustkorb, Becken, Arme und Beine können einzeln oder in Beziehung zueinander bewegt werden (isolierte und integrierte Bewegung). Dies ist möglich durch die muskelhaft wahrgenommenen, in sich sehr beweglichen Körperbereiche Hals, Taille, Schultergürtel und Hüftgelenke. Diese Körperbereiche ermöglichen die isolierte oder integrierte Bewegung der Körperteile. Werden Kopf, Brustkorb, Becken, Arme und Beine ertastet, erscheinen sie hart, knochig, stabil, formgebend. Sie sind die Kontaktzonen des menschlichen Körpers, hier kann unterstützend berührt werden, mit ihnen kommt der Mensch Kontakt zu seiner Umgebung und manipuliert sie. Hals, Taille, Schultergürtel und Hüftgelenke sind weich, muskulär, unstabil, gestaltver­ändernd. Sie sind die Bewegungszonen des menschlichen Körpers. Werden sie berührt oder blockiert, sind ihre Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt oder aufgehoben. Anatomie beinhaltet Erfahrung zum Aspekt Orientierung des Menschen im Schwerkraftfeld. Körperorientiert zu handeln bedeutet, sich an die Körper-Raum-Beziehung des anderen anzupassen, an seine individuellen Bewegungs­möglichkeiten, an seine Körperposition, seiner Lage im Raum und einem effektiven Gewichtstransfer in seinem Körper. Die Bezugspunkte der körperlichen Orientierung sind höchster und tiefste/r Punkt/e (Scheitelpunkt und Spitze der längsten Zeh), Mitte (Hüftgelenke), rechte und linke Körperseite, Vorderseiten und Rückseiten (Beuge- und Streckseiten des Körpers).

3. Bewegung

Bewegung hat zwei Aspekte - Stabilität und Instabilität. Stabilität drückt sich durch die Fähigkeit des Menschen aus, seine Körperteile in Beziehung zu halten (Haltungsbewegung). Instabiltität drückt sich durch die Fähigkeit aus, die Beziehung der Körperteile zu verändern (Transportbewegung). Die Integration beider Bewegungsanteile ermöglicht sinnhafte Funktion (Fortbewegung und Handlungsfähigkeit). Sind die Funktionsmöglichkeiten einer Person eingeschränkt, läßt sich über die Beachtung von Haltungs- und Trans­portaspekten in ihrer Bewegung analysieren, welcher Aspekt der Bewe­gung Unter­stützung benötigt, um eine Funktionsverbesserung zu er­reichen. Werden die Bewegungsmöglichkeit zwischen den Körperteilen durch durch fortlaufende Dreh-Streckbewegungen (Drehen-Verlängern um die Körpermittelachse) oder Dreh-Beugebewegungen (Drehen-Verkürzen um die Körpermittelachse) in eine durchlaufende Ganzkörperbewegung vollständig einbezogen, entsteht das ursprüngliche Bewegungsmuster des Menschen - Spiralbewegung. Dieses Bewegungsmuster ist wesentlich effektiver als parallele Bewegungsmuster , welche durch Beugen oder Strecken der Körpermittelachse entsteht. Parallele Bewegungsmuster benötigen wesentlich größere Fähigkeiten zur Bewegungskontrolle und sind für den Menschen anstrengender und belastender als Spiralbewegungen. Erwachsene bewegen sich trotzdem überwiegend in parallelen Bewegungsmustern. Spiralbewegungen folgen der Struktur des Bewegungsapparates des Menschen (Knochen sind insich spiralförmig, Muskelursprünge und -ansätze folgen dieser Struktur). Kleinstkinder bewegen sich überwiegend spiralförmig.

4. Funktion

Funktion wird hier als zweckmäßige oder zielgerichtete Bewegung definiert. Dies setzt die Fähigkeit zur Bewegungskontrolle, d.h. eine effektive Integration von Haltungs- und Transportbewegung voraus. Alle menschlichen Funktionen, die über die autonomen lebenserhaltenden internen Funktionen hinausgehen sind grundlegend in zwei Kategorien, einfache Funk­tionen und komplexe Funktionen, eingeteilt.

Einfache Funktionen - das Einnehmen von Positionen Bewegt sich eine Person, wechselnd durch Drehen-Strecken und Drehen-Beugen aus der Rückenlage bis zum Zweibeinstand und folgt sie dabei exakt der Struktur seines Bewegungsapparates, durchläuft sie sieben Grundpositionen:

Das Halten dieser Grundpositionen ist als einfache Funktionsmöglichkeit definiert, die zunehmend schwieriger wird, je höher sich der Mensch im Raum befindet. In Rückenlage, Sitz, Einbein-Kniestand und Zweibeinstand ist es einfacher, eine Position zu halten, da das Gewicht über die Körpermitte getragen ist. Durch wechselnde Gewichtverlagerung auf eine Körperseite kann sich in diesen Positionen auch fortbewegt werden. Kriechposition, Krabbelposition und Schrittsposition bieten durch das Gewichtverschieben auf die andere Körperseite Fortbewegungsaktivität durch den Raum an. Fortbewegung in Positionen ist komplexe Funktion.

Natürlich kann der Mensch auch andere Körperpositionen einnehmen und sich durch diese und in diesen fortbewegen.

Komplexe Funktionen - Fortbewegung und Handlungsbewegung Die Bewegung durch die Grundpositionen aus der Rückenlage in den Stand wird den komplexen Funktionsmöglich­keiten des Menschen zugeordnet. Es ist Fortbewegung im vertikalen Raum. Sich im horizontalen Raum fortzube­wegen, ist noch differenzierter, jetzt muß eine Position gehalten werden und gleichzeitig müssen spezifische Bewegungen durchgeführt werden, die Fortbewegung bewirken. Alle anderen Funktionsmöglichkeiten des Menschen sind als Bewegung am Ort definiert: Eine Position muß gehalten werden, während andere Körperteile Bewegungen durchführen, die Aktivitäten bewirken wie das Manipulieren von Gegenständen oder der Umgebung (Sitzen und und Armbewegung zum Schreiben), das Aufnehmen von symbolischen In­formationen (Sitzen und Augenbewegung zum Lesen), das Geben von Informationen (Stehen und Sprechen). Alle Fortbewegungs- und Bewegung am Ort-Aktivitäten werden als komplexe Funktionsmöglich­keiten des Menschen definiert.

Gehen ist die einfachste Form der menschlichen Fortbewegung. Grundsätzlich entsteht Gehen durch die Gewichtsverlagerung auf eine Körperseite und gleichzeitig ausgeführter Bewegung in den Raum mit der anderen Körperseite. Der Mensch kann aufrecht gehen, auf Händen und Knien (krabbeln), auf den Sitzbeinhöckern, in Bauchlage (kriechen), in Rückenlage oder jeden anderen Körperposition. Diese Erkenntnis hilft, pflegerische Transfers als Fortbewegungsaktivitäten im Gehen in verschiedenen Positionen oder durch verschiedene Positionen durchzuführen.

5. Beziehung

Dieses Thema stellt körperliche Beziehungsformen zwischen Menschen vor und vermittelt, durch welche Anstrengungsart innerhalb einer bestimmten körperlichen Beziehungsform am leichtesten kommuniziert werden kann. Das fließende Gleichgewicht ist der zentrale Faktor. Auf der Ebene der körperlichen Interaktion spielt das Gewicht der Agierenden eine große Rolle, es wird eingesetzt, um ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den Beteiligten herzustellen. Die Beteiligten können ihr Gewicht vom gemeinsamen Kontaktpunkt weg­hängen lassen, es entsteht eine hängende Beziehung, die durch Ziehen in Bewegung gebracht werden kann. Die andere Möglichkeit ist, das Gewicht gegeneinander zu bringen. Diese verstrebte Beziehung kann durch Drücken verändert werden.

Über die durch Zug oder Druck bzw. durch Zug und Druck entstehende Spannung in den Körpern der beteiligten Personen ist es möglich, gegenseitige Informationen (Bewegungsrichtung, Umfang der Bewegung, Zeitablauf, Kraftaufwand etc.) so unmittelbar miteinander auszutauschen, daß Information und Rückmeldung quasi zeitgleich beide Beteiligten erreicht, also eine wechselseitig-gemeinsame Interaktion entsteht. In dieser Weise ist es möglich, die Defizite des einen Inter­aktionspartners bzw. die verschiedenen Defizite beider durch gegenseitige Anpassung auszugleichen und gemeinsam Aktivitäten durchzuführen, die der jeweilige Einzelne allein nicht bewältigen könnte. Dieses Geschehen ist die einfachste, aber auch wirkungsvollste Möglichkeit des menschlichen Lernens.

Das gemeinsame labile Gleichgewicht in der Schwerkraft im Verstreben oder Hängen ermöglicht eine synchronisierte Bewegungsinteraktion. Im labilen Gleichgewichtszustand werden alle Bewegungsinformationen (Zeit-Raum-Kraftaufwand) ohne merkbare Zeitverzögerung wechselseitig ausgetauscht. Dies ist die Grundlage für Bewegungsökonomie und gleich-rangige Beteiligung in der Bewegungsinteraktion.

6. Umgebung

Der Mensch befindet sich in einem ständigen Interaktionsprozeß mit seiner Umwelt. Es ist ein wechselseitiger Prozeß der Anpassung an die Umgebung und ihrer Veränderung. Ist die Funktionsmöglichkeit eines Menschen innerhalb einer bestimmten Umgebung eingeschränkt, ist es notwendig die Umgebung gezielt an seine Fähigkeiten anzupassen, damit Funktion möglich ist und Lernprozesse stattfinden können. Dieses Thema vermittelt insbeson­dere, welchen Einfluß die physikalische und personelle Umgebung auf menschliche Funktionsmöglichkeiten hat, wie die die physikalische systematisch verändert werden kann und wie sich der Interaktionspartner (die personelle Umgebung) anpassen kann, um dem anderen Funktionsverbesserung und Lernprozesse zu ermöglichen.

Zur Erweiterung der Funktionsmöglichkeiten wird die Umgebung an die Fähig­keit der zu unterstützenden Person angepasst werden. Adäquate Unterlagerung der Körperteile (Kopf, Brustkorb, Becken, Arme und Beine) erhöht die Beweglichkeit des Körpers insgesamt und die Funktionsmöglichkeit einzelner Körperteile. Unterlagerung der Bewegungsräume (Hals, Schultergürtel, Taille und Hüftgelenke) schränkt die Beweglichkeit der jeweiligen Körperteile (bishin zum gesamten Körper) ein, in dem der den jeweils unterlagerte Bewegungsraum unbeweglicher wird. ***

Kinästhetik in der Pflege

Die Entwicklung und der Erhalt von Bewegungsfähigkeiten sind ­wesentliche Bausteine für die Lebensentwicklung des Menschen. Kommunikation durch Bewegung und Berührung ist das frühste und ursprünglichste Mittel der zwischenmenschlichen Beziehung. Auch wenn ein Mensch seine Umwelt über andere Sinnessysteme noch nicht oder nicht mehr genügend versteht erreichen ihn Botschaften, die ­seinen Körper unmittelbar betreffen. Durch körperliche Aspekte und Faktoren ist der Mensch in jedem Lebensalter und in jedem Zustand in der Lage, im sensomotorischen Interaktionsgeschehen teilzunehmen und Botschaften über sich zu geben.

Pflegerische Tätigkeit ist ohne Berührung undenkbar. Pflege bedeutet immer auch, Menschen in ihrer Bewegungsfähigkeit zu unterstützen. Bewußte Berührung, die die Bewegungsmöglichkeiten des anderen durch den Austausch von ­sensomotorischen Informationen unterstützt, ist für den von Pflegeabhängigkeit betroffenen Menschen eine wirksame Unterstützung in der Wiedererlangung seiner Selbstregulation, Eigenständigkeit und der Verbesserung seiner Lebensqualität. Das setzt einerseits voraus, daß sich die Fachperson die grundlegenden Muster der menschlichen Bewegungsfähigkeit bewußt macht und sie in das eigene Bewegungsverhalten re­integriert. Andererseits benötigt die helfende Person neben sprachlicher und nichtsprachlicher ­Kommunikationsfähigkeit die Fertigkeit, über kinästhetische Mittel unterstützende Bewegungsunterstützung, -führung und/oder begleitung zu geben. In dieser Weise kann jede pflegerische Handlung als akti­vierender Interaktionsprozeß gestaltet werden, der die Gesun­dung und die Gesunderhaltung von beiden Beteiligten fördert.

Kinästhetik ist eine Möglichkeit, die grundlegenden Muster der menschlichen Bewegungsfähigkeit wiederzuerlernen, sich der eigenen kinästhetischen Wahrnehmungsfähigkeit und sensomotorischen Interaktionsfähigkeit bewußt zu werden und sie zu entwickeln. Das setzt ­persönliche Lernprozesse voraus und zielt auf die Erweiterung persönlicher und beruflicher Kompe­tenz im zwischenmenschlichen Bereich - auf eine höhere Bewußtheit, Flexibilität und Handlungsfähigkeit in der Kommunikation mit anderen.

Siehe auch

Literatur

  • Asmussen, Maren (2006): Praxisbuch Kinaesthetics, Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstützung auf Basis der Kinästhetik. ELSEVIER, ISBN 978-3-437-27570-8
  • Bauder-Mißbach, Heidi (2000): Kinästhetik in der Intensivpflege. Frühmobilisation von schwerstkranken Patienten. Schlütersche. ISBN 3-87706-566-X
  • Bauder-Mißbach, Heidi 2005): Spielerisches Lernen von Bewegung und Beziehung. Rehabilitation nach hoher Querschnittlähmung. Schlütersche. ISBN 3-87706-677-1
  • Citron, Ina (1998): "Kinästhetik Handeln in der Pflege; Entdecken-Verstehen-Erleben"; Thieme, Stuttgart, ISBN 3-13-111861-X, vergriffen
  • Citron, Ina (2004): Kinästhetik - Kommunikatives Bewegungslernen. Thieme, Stuttgart. ISBN 3-13-111862-8
  • Eisenschink, Bauder-Mißbach, Kirchner (2003): Kinästhetische Mobilisation. Wie Pflegekräfte die Genesung unterstützen können. Schlütersche, ISBN 3-87706-736-0
  • Hatch, Frank, Maietta, Lenny, Schmidt, Suzanne (1992): Kinästhetik - Interaktion durch Berührung und Bewegung in der Krankenpfelge, DBfK Verlag, Eschborn, 3-927944-02-5, vergriffen
  • Hatch, Frank, Maietta, Lenny (2003): Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Funktionen. Urban & Fischer bei Elsevier, ISBN 3-437-26840-6
  • Maietta, Lenny, Hatch, Frank (2004): Kinaesthetics, Infant Handling. Huber, Bern. ISBN 3-456-83310-5