Sudetenland
Das Sudetenland war ein Gebiet im heutigen Tschechien, in dem überwiegend Deutsche nach Sprache und Herkunft lebten. Diese erst im 20. Jahrhundert als "Sudetenland" bezeichneten Regionen umfassten rd. 28.943 km².
Man kann das Sudetenland auf verschiedene Arten definieren:
- A. In ethnischer Hinsicht
- B. Als Provinz Sudetenland
- C. Als so genannter Reichsgau Sudetenland
A. In ethnischer Hinsicht war das "Sudetenland" seit 1918 die zusammenfassende Bezeichnung für das überwiegend durch deutschsprachige Böhmen besiedelte Gebiet von so genannten Sudetendeutschen in Böhmen, Mähren (heute Tschechien) und Schlesien (heute zu Polen, Tschechien und Deutschland).
B. Die Deutschen in den nördlichen Gebieten von Österreichisch-Schlesien, Nordmähren und Nordostböhmen riefen im Oktober 1918 die deutschösterreichischen Provinz Sudetenland aus. Diese trat noch im November 1918 der Republik Deutschösterreich bei.
Zur Provinz Sudetenland gehörten vor allem die neuen Grenzgebiete zum Deutschen Reich in den Sudeten, im Erzgebirge, im Egerland, im Böhmerwald und zu Deutschösterreich. Außerdem gab es mehrere deutsche Sprachinseln, wie in Iglau, Budweis, Brünn, Teschen und Olmütz. Insgesamt wurde die damalige Tschechoslowakei von etwa 3,5 Mio. Deutschen bewohnt. In Prag, der Hauptstadt Böhmens, waren um 1900 etwa 18-20 Prozent der Einwohner deutschsprachig.
C. Der Reichsgau Sudetenland wurde durch Gesetz vom 15. April 1939 mit der Hauptstadt Reichenberg geschaffen.
Geschichte
Das Gebiet hat dieselbe Geschichte wie Böhmen und Mähren (sowie Schlesien). Das so genannte Sudetenland als ganzes stellte bis zum Zweiten Weltkrieg nie eine separate Verwaltungseinheit dar. Jedoch existierte im November und Dezember 1918 für wenige Wochen eine Provinz dieses Namens, die Nordmähren und Sudetenschlesien umfasste (mit der Hauptstadt Troppau). Auch der Begriff Sudetenland entstand erst in an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden allerdings die böhmischen Länder gelegentlich als "Sudetenländer" bezeichnet, beispielsweise in der Formulierung die Deutschen der Sudetenländer (s.o).
Geschichte bis 1919
Im 12. und 13. Jahrhundert wurde das Gebiet, das zusammen mit dem Rest der böhmischen Länder zum Heiligen Römischen Reich gehörte, von Deutschen besiedelt. Bis 1806 gehörte ganz Böhmen, Mähren und Schlesien dem Römisch-Deutschen Reich an. Österreich (seit 1867 Österreich-Ungarn) war ein Vielvölkerstaat. Wenige Tage nach dessen faktischer Auflösung Anfang November 1918 schloss sich dieses Gebiet der neu gegründeten Republik Deutsch-Österreich an. Die Besetzung des Landes durch tschechische Truppen vor allem ab Ende November 1918 verhinderte die volle Etablierung der deutsch-österreichischen Verwaltung im Sudetenland, im Dezember mussten die Regionalregierungen der Provinzen Deutschböhmen und Sudetenland (= Nordmähren und Sudetenschlesien) vor den anrückenden tschechischen Truppen ins Exil ausweichen, um eine Gefangennahme zu vermeiden.
Durch den Vertrag von Saint Germain wurde das Gebiet schließlich im September 1919 der neu gegründeten Tschechoslowakei zugeschlagen. Die vorhandenen nationalen Gegensätze zwischen den (nun bestimmenden) Tschechen und den Deutschen, die sich benachteiligt fühlten, wurden größer. Der Versuch der Sudetendeutschen, ihr Land noch im Jahre 1918 aus dem tschechoslowakischen Staatsverband wieder herauszulösen und an die Republik Deutschösterreich (später Republik Österreich) anzuschließen, wurde von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges verboten und von den Tschechen teilweise mit Gewalt verhindert. Am 4. März 1919 wurden bei Demonstrationen der Deutschen im Sudetenland für das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Zugehörigkeit zu Deutsch-Österreich, die anlässlich der in Österreich stattfindenden Wahlen stattfanden, insgesamt 54 Deutsche und zwei Tschechen von tschechischen Soldaten erschossen.
Von 1919 bis zum Münchner Abkommen
1919 stellten die Sudetendeutschen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in der erstmalig entstandenen Tschechoslowakei. Obwohl in der Tschechoslowaklei mehr Sudetendeutsche lebten als Slowaken, wurden die Sudetendeutschen anders als diese nicht Staatsvolk. Viele "Sudetendeutsche" lehnten eine Zugehörigkeit zur Tschechoslowakei ab, da ihnen entgegen den Grundsätzen von US - Präsident Wilson über das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" eine Volksabstimmung über ihre Staatszugehörigkeit verweigert wurde und im Ergebnis das Verhandlungsgeschick Benešs in Versailles sowie strategische Überlegungen der Entente - Mächte über die Zugehörigkeit ihrer Region entschieden hatten. Am 1. Oktober 1933 wurde die Sudetendeutsche Partei um Konrad Henlein gegründet. Anfangs setzte sich die Partei nur für eine größere Autonomie des Sudetenlandes, entsprechend den vertraglichen Zusicherungen der Tschechoslowakei, ein. Da aber diese Zusicherungen nicht eingehalten wurden, orientierte sich die Partei zunehmend an Hitler und den Nationalsozialisten (NSDAP) im benachbarten Deutschen Reich. Für Hitler wurden sie willfährige Partner auf dem Weg zu der von ihm so proklamierten "Lösung der deutschen Raumfrage". Im November 1937 erklärte er den Oberbefehlshabern der Wehrmachtteile, dass der Anschluss Österreichs und die Niederwerfung der Tschechoslowakei die nächsten Schritte auf dem Weg zum Lebensraum im Osten seien. Im April 1938 bekräftigte Hitler gegenüber der Wehrmacht seinen Plan, "die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine Militäraktion zu zerschlagen". Henlein wurde beauftragt, die tschechoslowakische Regierung mit Maximalforderungen der Sudetendeutschen zu konfrontieren um die innenpolitische Krise anzuheizen. Immer stärker unter Druck verkündete die Tschechoslowakei im Mai 1938 mit dem Hinweis auf Kenntnisse eines unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriffs die Mobilmachung. Die Bündnispartner Frankreich und England waren im Zugzwang und bekundeten ihre Unterstützung. Deutschland seinerseits forcierte die Krise und versetzte die Wehrmacht in Bereitschaft. Unter Vermittlung Mussolinis gelang es England schließlich noch einmal, den drohenden Krieg aufzuhalten. Durch das Münchener Abkommen wurde das Sudetenland von der Tschechoslowakei abgespalten und dem Deutschen Reich angegliedert.
Besetzung der so genannten "Rest-Tschechei" und Zweiter Weltkrieg
Das Münchner Abkommen markierte das Ende der Tschechoslowakei. Am Morgen des 15. März 1939 marschierte die Wehrmacht in Prag ein und errichtete das Protektorat Böhmen und Mähren. Die Slowakei war am Tage zuvor mit ihrer Unabhängigkeitserklärung faktisch in eine Art Vasallenverhältnis zum Deutschen Reich getreten. Jetzt war für die europäischen Mächte der letzte Beweis erbracht, dass die Berufung Hitlers auf das Selbstbestimmungsrecht nur ein Vorwand für seine Expansionspolitik war. In Prag wurde das SS-Bodenamt eingerichtet, das die Enteignung und Vertreibung tschechischer Landbesitzer und die Besiedelung ihrer Güter mit Deutschen organisieren sollte. Seine Arbeit kam allerdings - im Unterschied zum besetzten Polen - über Planungen nicht hinaus. Im Protektorat wurden Juden, Sinti und Roma zu Zehntausenden vertrieben, enteignet und ermordet, aber nur eine geringe Zahl von Tschechen (hauptsächlich NS-Gegner).
Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich wurde zum stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren ernannt. Er erwarb sich durch die brutale Verfolgung des Widerstandes seinen Ruf als "Schlächter von Prag". Nachdem Heydrich 1942 durch ein Attentat getötet wurde, erlebte das Reichsprotektorat eine erneute Terrorwelle durch die "Deutschen", gedacht als Vergeltung für den Mord an Heydrich. 10.000 Tschechen wurden festgenommen, über 1.300 getötet. Besonders bekannt wurde dabei das Massaker von Lidice, bei dem die SS eine ganze Ortschaft dem Erdboden gleich machte und alle männlichen Einwohner umbrachte.
Nachkriegszeit
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es aufgrund der massiven Verbrechen der Nationalsozialisten an Tschechen zu "Racheaktionen" von Tschechen an Sudetendeutschen und Ungarn. Edvard Beneš verkündete die so genannten Beneš-Dekrete, die die Enteignung und Entrechtung der Sudetendeutschen und Ungarn anordneten. Ziel und Ergebnis war die Vertreibung der Sudetendeutschen und Ungarn aus der Tschechoslowakei nach Österreich, Deutschland und Ungarn. Deutsche, die ihre antifaschistische Gesinnung nicht zweifelsfrei nachweisen konnten, wurden mit einem "N" (für Nemec = Deutscher) gekennzeichnet und vertrieben ("zwangsausgesiedelt"). Ungarn wurden in Arbeitslager gebracht und zwangsausgesiedelt. Insgesamt wurden 3,0 Millionen der knapp über 3,2 Millionen Sudetendeutschen aus ihrer Heimat vertrieben. Bei diversen "Rache-Massakern" kamen viele Menschen um, über genaue Zahlen wird bis heute spekuliert. Etwas über 20.000 sind einzeln belegt und namentlich erfasst, weitere 62.000 werden bis heute von Angehörigen gesucht, die Zahl der insgesamt Vermissten ist noch weit höher. Nach verschiedenen Bevölkerungsbilanzen hat sich die Zahl der Sudetendeutschen zwischen Anfang Mai 1945 und den beiden Volkszählungen in der Bundesrepublik und der DDR vom August und September 1950 um über 200.000 vermindert.
In die gewaltsam geräumten Regionen zogen überwiegend Tschechen aus dem Landesinnern und auch Tschechen, die vorher von den "Deutschen" von dort vertrieben worden waren, weiter Slowaken und Roma. Die Meisten erhielten den Zuschlag auf die jeweilige zuvor von Sudetendeutschen oder Ungarn enteignete Immobilie unentgeltlich über ein Auslobungsverfahren, welches die Regierung unter der tschechischen und slowakischen Bevölkerung durchführte. Einzelne nahmen Häuser noch unter Anwesenheit der Vorbewohner gewaltsam in Besitz. Durch die Neuverteilung der geräumten Immobilien kam es bei vielen Tschechen "als Ausgleich für durch die Nationalsozialisten verübtes Unrecht" zu einem erheblichen Wohlstandszuwachs. Bis heute sorgt dieses Thema für Spannungen zwischen den Regierungen Österreichs, Deutschlands und Ungarns einerseits und der tschechischen Regierung andererseits. Man hat versucht, diese Spannungen mit der gemeinsamen Erklärung vom Januar 1997 zu entschärfen.
Name
Siehe: Sudeten, Sudetendeutsche
Einige Städte im ehemaligen Sudetenland
- Asch (Aš)
- Aussig (Ústí nad Labem)
- Bischofteinitz (Horšovsky Tyn)
- Brüx (Most) - hatte seit ca. 1930 eine knappe tschechische Mehrheit. Sie entstand durch den Zuzug von Bergleuten seit etwa 1860.
- Eger (Cheb)
- Falkenau (Sokolov)
- Franzensbad (Františkovy Lázně)
- Freudenthal (Bruntál)
- Gablonz (Jablonec nad Nisou)
- Grulich (Králíky)
- Iglau (Jihlava) - mit tschechischer Minderheit; kam 1938 nicht zu Deutschland, da Sprachinsel im Landesinneren.
- Jägerndorf (Krnov)
- (Sankt) Joachimsthal (Jáchymov)
- Karlsbad (Karlovy Vary)
- Klattau (Klatovy)
- Komotau (Chomutov) - mit tschechischer Minderheit seit dem späten 19. Jahrhundert
- Leitmeritz (Litoměřice)
- Lundenburg (Břeclav) - kam 1938 zu Deutschland trotz knapper tschechischer Mehrheit seit ca. 1915 und großer tschechischer Mehrheit seit 1919
- Mährisch-Schönberg (Šumperk)
- Marienbad (Mariánské Lázně)
- Markt Eisenstein (Železná Ruda)
- Mies (Stříbro)
- Olbersdorf (Mesto Albrechtice)
- Olmütz (Olomouc) - kam 1938 nicht zu Deutschland, da Sprachinsel im Landesinneren
- Reichenberg (Liberec)
- Saaz (Žatec)
- Tetschen (Děčín)
- Troppau (Opava)
- Unterwielands (Gmünd III) (České Velenice)
Siehe auch: Liste deutscher Bezeichnungen tschechischer Orte
Weblinks
Tschechisches Kulturministerium: Geschichte verstehen aus tschechischer Sicht