Shiva



Shiva (skrt., Siva, शिव, auch Shankar oder Mahadeva (großer Gott); Rudra in den Veden) ist der Name eines Hauptgottes im neueren Hinduismus (der Name erscheint nicht in den Veden).
Bedeutung und Legende
Die Übersetzung des Wortes Shiva (Sanskrit) lautet "Der Gütige, Gnädige" oder auch "der Freund". Als Bestandteil der "hinduistischen Trinität" mit den Göttern Brahma, der als Schöpfer gilt und Vishnu, dem Bewahrer, steht ihnen Shiva als das Prinzip der gleichzeitigen Bewahrung und Zerstörung gegenüber, der durch seinen Tanz den Kreislauf der Zeiten symbolisiert. Shiva ist dadurch auch der Gott oder das Prinzip der Extase.
In der hinduistischen Ikonographie wird Shiva meist dargestellt mit blauer Haut oder blauem Hals, drei Aschestrichen auf der Stirn, einer Schlange um den Hals, langem und offenem Haar, aus dem eine Mondsichel ragt, sowie gelegentlich eine Quelle (der Ganges) entspringt und seinem Dreizack Trishul. In den meisten Darstellungen wird er außerdem mit der Trommel Damaru in der rechten Hand abgebildet; er gilt damit als Schöpfer des Wortes und des Lautes A-U-M oder "om".
Die Tatsache, dass Shiva in den Veden nicht als Gottheit erwähnt wird, hat zu der Annahme geführt, dass Shiva ein nichtvedischer Gott der Ureinwohner Indiens sei. Wie auch Krishna und andere Gestalten der indischen Mythologie wird Shiva häufig mit dunkelblauer Hautfarbe dargestellt. Die vedischen Götter Indra und Rudra weisen eine große Ähnlichkeit mit Shiva auf. Da sowohl Indra wie auch Rudra in Indien keine populären Götter mehr sind, wurde unter Ethnographen darauf geschlossen, dass diese beiden Götter unter dem Namen Shiva weiterleben.
Sein Reittier (Vahana) der Stier Nandi, seine Frau Parvati, seine Söhne Karttikeya/Murugan (nordindisch/südindisch) und Ganesha sind oft zusammen mit ihm abgebildet; die Dreiheit Shiva/Parvati/Ganesha gilt im indischen Volksglauben oft als Idealtypus der göttlichen Familie. Hier ist Shiva Haushälter, seine wilde (nicht im negativen Sinne) Göttlichkeit ist domestiziert. Er erfüllt somit die Rolle eines Vorbilds im Hinduismus. Man beachte hierzu jedoch auch die Legende des eifersüchtigen Shiva, der nach langer Abwesenheit seinen Sohn Ganesh enthauptete, da er ihn nicht mehr erkannte. Aus Reue für diese Tat erweckte er ihn wieder zum Leben, indem er einen Elefanten tötete, und ihm dessen Haupt anstelle des ursprünglichen Kopfes aufsetzte.
In einigen Puranas wird Shiva als die größte aller Gottheiten geschildert, weswegen er auch Mahadeva (der große Gott) genannt wird. Shiva ist aber ebenfalls der Gott der Asketen. Er ist das Leitbild, der asketische Gott, auf seinem Berg Kailash in tiefster Meditation versunken, während aus seinem Haar der Fluss Ganges (Ganga) entspringt, aber gleichzeitig allgegenwärtig der Gnädige, der das schlechte Karma seiner Verehrer tilgt.
Häufig wird Shiva im sogenannten "kosmischen Tanz" dargestellt (Shiva Nataraj = Nata (Tanz) Raja (Herrscher, König) = König des Tanzes), tanzend auf dem Dämon der Unwissenheit. Im Tanz zerstört Shiva die Unwissenheit. Äußerlichkeiten der Darstellung lassen hier eine Nähe zu arabischen Sufi-Kulten vermuten; historisch gemeinsame Wurzeln sind jedoch nicht belegbar.
In seiner Rolle als Nataraj verfügt Shiva oft über mindestens vier, meistens aber acht (gelegentlich auch mehr) Arme, die sowohl seinen wilden Tanz als auch ikonographisch die Attribute des Gottes zu verdeutlichen versuchen. Dies ist allgemein üblich in indischen Religionen und nicht auf Shiva beschränkt. Die Arme oder Symbole deuten jeweils Mudras (schutzgebende Zeichen, oder Symbole der Gottheit) an. Häufig trägt die Gottheit auch in jeder Hand einen der ihr in der Welt zugeordneten Gegenstände. Im Falle Shivas ist das neben der bereits erwähnten Trommel und dem Dreizack auch das Buch, da er weitgehend auch als Bringer der Schrift gilt: Sozusagen der indische Prometheus.
In einer archaischen (aber auch populär-religiösen) Form wird Shiva häufig in Gestalt eines Lingam verehrt, eines phallisch geformten Steins. Ursprünglich handelte es sich dabei um Steine, die von der Natur in die Form eines Penis gebracht worden waren, und unterschiedlichen Volksüberlieferungen zufolge gibt es in Indien etwa 7 bis 12 solcher Naturheiligtümer. In anderen Tempeln haben die Priester gelegentlich mit dem Meißel nachgeholfen, um den Gläubigen ein Anbetungsobjekt zu schaffen, als sich der Shivaismus vor allem in den Regionen Südindiens ausbreitete.
Die Verehrung Shivas in Form des Lingam ist angeblich auf die Vermischung mit anikonischen Steinkulten zurückzuführen, wobei hier die Schöpferkraft durch den stilisierten Phallus (Penis) und der Yoni (Vagina) dargestellt wird. Der Stein-Lingam wird zu Festtagen in einer feierlichen Zeremonie zunächst mit einer Mischung aus Milch und Honig (Amritsa, Nektar) übergossen und anschließend mit Blumenkränzen geschmückt. Dieser Höhepunkt der Zeremonie versinnbildlicht die unio mystica, die Vereinigung zwischen dem Göttlichen und dem Weltlichen, zwischen Atman und Brahman, oder im Shivaismus die Vereinigung von Lingam und Yoni (dem männlichen und weiblichen Geschlechtsorgan). Diese drei Seinsebenen, das Göttliche, der Akt der Anbetung, und der weltliche Akt, stellen für einen gläubigen Shivaiten in Wirklichkeit eine einzige Ebene dar; daraus entwickelte sich die Lehre des Tantrismus mit ihrer These, dass es zur Erlangung der Erleuchtung am günstigsten sei, alle drei Akte zusammen in ritualisierter Form durchzuführen. Der Tantrismus verfügt über zahlreiche Nebenlehren.
Anthropologische und historische Wurzeln
Die Theorie, dass Shiva der Gott der Harappans war, basiert auf einen einzigen Harappa Fund, dem Pashupati-Siegel. Darauf sieht man einen Mann, mit drei oder vier Gesichtern neben Tieren im Lotussitz sitzend. Er scheint eine Art Kopfschmuck zu tragen. Daher kamen einige zu dem Schluss, es handle sich um Shiva in seinem Pashupati-Aspekt. Nun wurde aber in Mitteleuropa ein Gundestrup-Kessel gefunden, der den keltischen Cernunnos als gehörnten Gott neben Tieren sitzend zeigt. Die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Göttern lässt darauf schließen, dass Shiva nicht "nur" ein Gott der Harappas war.
Die Theorie, dass Shiva ein nichtvedischer Gott sei, wird unter anderem auch mit einer Geschichte aus den Puranas erklärt, in der Shiva ein vedabahya ("außerhalb der Veden") genannt wird. Nun ist aber Shiva, der Gott, der den Aspekt der Zerstörung verkörpert, vereinfacht gesagt ein Gott der "Outsider", was aber nicht heißt, dass er "nichtvedisch" wäre. Indra, ein Gott der früher in ganz Indien verehrt wurde, ist heute kein populärer Gott mehr. Da Shiva und Indra sich in vielen Aspekten ähnlich sind, wäre es möglich, dass sie eigentlich ein und derselbe Gott sind, dessen Name sich einfach im Laufe der Zeit geändert hat.
Rezeption in Europa
In der westlichen Interpretation wurde Shiva oft nur die Rolle als Weltzerstörer zugeschrieben, und er wurde als Gott der Asketen und Sadhus fehlinterpretiert. Seine Rolle besteht jedoch sowohl im Erhalt als auch in der Zerstörung der Welt, in der Aufrechterhaltung der Tradition. Damit erfüllt er eine der wichtigsten Rollen im Hinduismus. Wenn Shivas Tanz aufhört, so sagen überzeugte Shivaiten, dann geht die Welt unter, aber Shivas Tanz wird nie aufhören, also wird die Welt nie untergehen. Daher ist Shiva, insbesondere in seiner Form als nataraj, der Inbegriff und die Repräsentation des zyklischen Zeitverständnisses gläubiger Hindus.
Shiva wurde zunächst zum "Lieblingsgott" der Hippies, die in den späten 60er Jahren nach Indien (unter anderem nach Goa) reisten, und sich nicht näher mit hinduistischer Mythologie befassten. Über die Hintergründe zu spekulieren, wäre müßig, denn eines der Kräuter, die dem Gott Shiva zugeordnet waren, war Ganja (Hanf, Marihuana).
Die deutsche Sängerin Nina Hagen nannte ihre Tochter Cosma Shiva Hagen, in Umkehrung einer katholischen Tradition, nach der Männern als zweiter Vorname der Name der Maria verliehen werden darf, abweichend vom üblichen deutschen Standesrecht (vgl. Klaus Maria Brandauer), und vielleicht unter Umgehung desselben. Die Endsilbe -a wird im Deutschen oft als weiblich fehlinterpretiert, ist im Sanskrit und im davon abgeleiteten modernen Hindi jedoch zumeist männlich; weibliche Vornamen enden auf -i.
Literatur
Eine ausführliche Diskussion des Lingam-Kults findet sich u.a. in dem Buch Le mystère du culte du Linga von Alain Danièlou und Swami Karpatri
Ausführliche Reisebeschreibungen mit mythologischem Hintergrund finden sich in den Büchern der französischen Autorin und Anthroposophin Alexandra David-Néel, die Anfang des 20. Jahrhunderts Indien und andere asiatische Länder bereiste. Ihre Bücher sind in mehreren Sprachen gelegentlich als Nachdruck erhältlich.