Zum Inhalt springen

Theaitetos

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 29. Juni 2008 um 13:35 Uhr durch ILA-boy~dewiki (Diskussion | Beiträge) (Kategorie:Platons Dialoge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Theaitetos (griechisch Θεαίτητος, eingedeutscht auch Theaetet oder Theätet) ist eines der mittleren bis späteren Werke des Philosophen Platon. Neben Sokrates treten darin Theodorus von Kyrene und der namensgebende Theaitetos auf. Der Dialog diskutiert drei verschiedene Konzepte des Wissens, ohne dabei eine definitive Antwort zu finden.

Inhalt

Der Hauptteil des Dialogs schildert ein fiktives Gespräch, das Sokrates mit dem jungen Theätet und Theodoros, seinem Mathematiklehrer, geführt hat. Gleich zu Beginn stellt Sokrates die Leitfrage des gesamten Gesprächs: Was ist Wissen? Theätet antwortet zunächst mit einer Aufzählung verschiedener Wissensarten; Sokrates möchte jedoch auf eine allgemeine Definition hinaus. Theätet ist diese Art von Allgemeinheit aus der Mathematik zwar schon bekannt, aber er ist unsicher, ob er Sokrates' Ansprüchen genügen kann. Daraufhin beschreibt Sokrates seine philosophische Tätigkeit durch den berühmten Vergleich mit derjenigen seiner Mutter, die Hebamme war (nach dem griechischen Wort für die Hebammenkunst wird Sokrates' Methode auch Maieutik genannt). Wie eine Hebamme den Frauen bei der Geburt durch die Steuerung des Geburtsprozesses helfen könne, so helfe auch Sokrates jemandem, der mit einem Gedanken schwanger gehe, diesen Gedanken zur Welt zu bringen. Seine Hauptaufgabe sei jedoch, die Gedankengeburten darauf zu prüfen, ob sie wirklich etwas taugen oder bloße Scheingeburten sind.

Theätet ist daraufhin bereit, sich diesem Prozess zu stellen, und schlägt eine erste Definition des Wissens vor: Wissen ist Wahrnehmung. Sokrates greift diesen Vorschlag auf, indem er ihn mit einer These des Philosophen Protagoras in Verbindung bringt, dass nämlich der Mensch "das Maß aller Dinge sei, der Seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind". Diese These wird im Folgenden noch durch eine andere ergänzt, die später Heraklit zugeordnet wird, dass nichts sei, sondern alles werde. Nach der Vorstellung dieses Tripels von Thesen folgt eine ausführliche kritische Auseinandersetzung, in der sowohl nach den praktischen Konsequenzen, etwa für die Lehrpraxis, als auch nach der internen Konsistenz dieser Thesen gefragt wird. Die Prüfung endet mit dem vernichtenden Resultat, dass jemand, der diese Thesen ernsthaft vertrete, weder andere überzeugen noch überhaupt sinnvoll sprechen könne. Da tatsächlich die Thesen von Protagoras und Heraklit aber nicht äquivalent mit Theätets erstem Definitionsvorschlag sind, bleibt offen, ob auch dieser widerlegt ist. Es schließt sich daher eine erneute Prüfung an, allerdings nun unter der Vorgabe, dass unter Wahrnehmung der physiologische Vorgang des Wahrnehmens zu verstehen sei und nicht das Resultat (eine aus dem Wahrnehmen hervorgegangene Meinung). So betrachtet, kann Wissen nicht in der Wahrnehmung bestehen, da Wissen immer ein Urteil sein müsse, in dem mindestens das "sein" als Kopula vorkommt.

Theätet sieht seinen ersten Definitionsvorschlag daher als gescheitert an und schlägt eine zweite Definition vor: Wissen ist wahre Meinung. Sokrates reagiert auf diesen Vorschlag zunächst mit einem Exkurs: Schon immer habe er wissen wollen, was eigentlich eine falsche Meinung sei - und so diskutiert er mit Theätet ausführlich über dieses Problem. Insgesamt fünf Vorschläge zur Erklärung der falschen Meinung werden erörtert, keiner davon scheint erfolgreich zu sein (allerdings trügt dieser von Sokrates vermittelte Eindruck, denn die beiden letzten Vorschläge, die unter den Namen "Wachsblockmodell" und "Taubenschlagmodell" bekannt sind, weisen durchaus brauchbare Ansätze auf). Nach diesem Exkurs kehrt das Gespräch zu Theätets zweitem Definitionsvorschlag zurück, und Sokrates zeigt, dass es nicht genügt, dass eine Meinung wahr ist, um als Wissen zu gelten: Denn man kann auf zufällige und daher unzuverlässige Weise zu wahren Meinungen kommen - in solchen Fällen kann die Meinung aber kaum als Wissen gelten, denn auf gleichem Wege hätte man genauso gut an eine falsche Meinung geraten können.

Theätet bringt nun noch eine dritte Definition auf: Wissen ist wahre Meinung mit Erklärung (im Griechischen steht für "Erklärung" das Wort logos). Nachdem auch hier Sokrates zunächst wieder eine ungewöhnliche und überraschende Deutung der Definition aufbringt, die sich als unhaltbar erweist, bildet den Abschluss des Gesprächs die Unterscheidung dreier Bedeutungen von logos und die Prüfung, ob sich aus diesen Bedeutungen jeweils eine brauchbare Definition des Wissens ergibt. Dem Urteil der Gesprächspartner nach ist dies nicht der Fall, so dass das Gespräch ohne defintive Antwort endet.

Philosophische Bedeutung

In der Forschung des 20. Jahrhunderts stand lange Zeit eine Frage im Vordergrund: Wie sich der Theätet zur Platonischen Ideenlehre verhält. Denn einerseits ist der Theätet vermutlich im gleichen Zeitraum wie oder nach den Dialogen entstanden, in denen Platon die sogenannte Ideenlehre vorstellt (z.B. die Politeia); und eine Behauptung der Ideenlehre lautet, dass es Wissen nur von den Ideen geben könne. Doch im Theätet werden, trotz seines Themas, die Ideen mit keinem Wort erwähnt. Hat Platon daher hier die Ideenlehre aufgegeben? Oder bleibt das Gespräch gerade deshalb ohne Ergebnis, weil die Ideen nicht berücksichtigt werden? Die erste Variante wurde in jüngerer Zeit von David Bostock (1988), die zweite von David Sedley (2004) vertreten.
In den letzten Jahrzehnten wurde der Theätet jedoch mehr und mehr als äußerst reichhaltiger Beitrag zur Theorie des Wissens selbst gelesen: Die drei vorgeschlagenen Definitionen stehen mit den heute gängigen Theorien des Wissens in engem Zusammenhang, es werden zahlreiche Probleme angesprochen, die auch heute die Diskussion bestimmen - z.B. ob die Wahrnehmung als kausale Relation zur Welt ausreicht, um eine Meinung zu Wissen zu machen, oder das Problem der Verlässlichkeit der Quellen des Wissens, oder die Frage, ob man nicht in einen unendlichen Regress gerät, wenn man die Begründung zu einer notwendigen Bedingung von Wissen macht (siehe dazu insbesondere die Kommentare von McDowell (1973) und Burnyeat (1990)).
Für das Verständnis des Dialogs als ganzem ist entscheidend, wie man das Scheitern der verschiedenen Untersuchungen und den internen Zusammenhang der angesprochenen Themen einschätzt (siehe dazu Heitsch (1988)). Es könnte sein, dass sich als roter Faden durch das gesamte Gespräch das Problem hindurchzieht, dass Wissen einerseits aufgrund seiner Urteilsstruktur immer Resultat einer autonomen kognitiven Tätigkeit sein muss und daher nie direkt auf eine kausale Beziehung zwischen Wissendem und Welt reduziert werden kann, dass andererseits diese autonome kognitive Tätigkeit aber auch die Quelle falscher Meinungen ist. Eine angemessene Antwort auf die Frage, was Wissen ist, hat demnach zu klären, wie die urteilende kognitive Tätigkeit verlässlich zu wahren Urteilen führen kann (siehe dazu Becker (2007)).

Literatur