Völkermord in Ruanda
Der Völkermord an den Tutsi ist nach dem Völkermord an den europäischen Juden und dem Völkermord an den Armeniern wohl der bekannteste Völkermord.
Der Völkermord an den Tutsi und an gemäßigten Hutu in Ruanda begann am 6. April 1994 und kostete innerhalb von nur 100 Tagen wahrscheinlich mindestens 800.000 Menschen das Leben. Anlass war der Konflikt zwischen der damaligen ruandischen Regierung und der Rebellenbewegung "Ruandische Patriotische Front".
Hintergrund
Siehe auch: Geschichte Ruandas
Der Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen der Hutu und Tutsi ist schon sehr alt und entlud sich schon mehrmals seit 1959 in Pogromen, Vertreibungen und Massentötungen.
1985 bildete sich im ugandischen Exil die Ruandische Patriotische Front (RPF), die eine Rückkehr der zum Teil schon seit 30 Jahren in Exil lebenden Flüchtlinge und die Übernahme der Regierung anstrebte. Teile der Bewegung hatten zuvor schon an der Seite von Yoweri Musevenis National Resistance Movement im ugandischen Bürgerkrieg gekämpft.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Jahre 1990 verstärkte sich der Druck des Westens, das in Ruanda herrschende Hutu-Regime zu demokratisieren und die Rückkehr der Flüchtlinge aus den benachbarten Ländern zu ermöglichen. Die Vermittlungsversuche brachen jedoch zusammen, als im Herbst 1990 die RPF einen ersten Invasionsversuch unternahm. Diese Verschärfung des Konflikts führte zu einer starken Radikalisierung auf Seiten der Regierung, die nun von der Gefährlichkeit der Rebellenbewegung und deren Ziel einer gewaltsamen Machtübernahme überzeugt war. Nach weiteren Kämpfen begannen im Sommer 1992 Verhandlungen mit der RPF, die im darauffolgenden Jahr zur Unterzeichnung der Verträge von Arusha führten. Diese brachten jedoch keine merklichen Beruhigung der angespannten Lage. Die Rebellen, denen bereits eine Präsenz an mehreren Punkten des Landes, unter anderem in der Hauptstadt Kigali, zugestanden worden war, rüsteten ihre Truppen weiter mit modernem Gerät aus, das sie von ihren Unterstützern, namentlich den USA, erhielten.
Bereits während der Kämpfe radikalisierten sich Teile der Hutu, angeheizt von Medien wie der Zeitung wie Kangura und dem berüchtigten Radio-Télévision Libre des Mille Collines und unter Führung des Hutu-nationalistischen "Kommittee zur Verteidigung der Republik" (CDR) und des Akazu genannten Klans um die Frau des Präsidenten, Agathe Habyarimana. Dabei wurden die Tutsi unverhohlen als Inyenzi (Kakerlaken/Schaben) tituliert, die auszurotten Pflicht jedes guten Hutu sei. Der Sender Radio-Télévision Libre des Mille Collines spielte später auch eine entscheidende Rolle bei der Koordinierung des Völkermords.
Diese Agitation erreichte wenige Tage vor dem Flugzeugabsturz des Präsideten ihren Höhepunkt, als Hassan Ngese in der Zeitung Kangura baldigen Tod des Präsidenten ankündigte. Die radikalen Hutu stimmten sich bereits auf den kommenden Völkermord ein und fuhren aufgeputscht und triumphierend durch die Hauptstadt.
Als Auslöser erwies sich letztlich der bis heute nicht aufgeklärte, mit Boden-Luft-Raketen durchgeführte Abschuss des Flugzeuges des gerade von den Friedensverhandlungen in Dar es Salaam zurückkehrenden Präsidenten von Ruanda Juvénal Habyarimana kurz vor der Landung in Kigali. Mit ihm starben auch der Präsident des benachbarten Burundi, Cyprien Ntaryamira, und weitere hochrangige Beamte. Dies war das Signal für den Beginn des Völkermords an den Tutsi und einen Tag später für den Einmarsch der Tutsi-Militzen nach Ruanda.
Der Völkermord
Wenige Stunden nach dem Flugzeugabsturz am 6. April 1994 begannen die Hutu-Extremisten, meist in Form der Interahamwe-Milizen systematisch Kigali zu durchkämmen und alle Tutsi, derer sie habhaft werden konnten, zu massakrieren. Einheiten der Rebellenarmee RPF drangen ab dem 7. April 1994 von ihren Basen in Uganda und im östlichen Zaire in einer konzentrischen Bewegung ins Landesinnere vor und trieben dabei die flüchtenden Einheiten der ruandischen Armee vor sich her. Die in deren Rückraum agierenden Interahamwe-Milizen organisierten währenddessen weiterhin den Völkermord an den Tutsi und den moderaten Hutu.
Obwohl schnell klar war, dass ein Völkermord begangen werden würde, reagierte die internationale Öffentlichkeit mit Verharmlosung der Vorgänge und sprach lange von einem "Bürgerkrieg" in Ruanda. Ein Völkermord hätte ein internationales Eingreifen unvermeidlich gemacht, weshalb sich vorallem die USA auch davor scheuten, dieses Wort zu verwenden. Die im Land befindlichen Blauhelmsoldaten konnten deshalb dem mörderischen Treiben nur tatenlos zusehen oder wurden selbst zum Ziel von Attacken. Siehe dazu auch Roméo Dallaire. In Kigali wurde eine Gruppe belgischer Soldaten von den umherziehenden Banden massakriert.
Beendet wurde das Töten letztendlich durch die Flucht der Reste der geschlagenen Armee Ruandas, darunter auch der Interahamwe-Milizen als eigentlicher Motor des Völkermords, und einer großen Zahl weiterhin regierungstreuer Hutus in den benachbarten Kongo.
Die praktische Durchführung
Die Opfer wurden gezielt über Ausdrucke aus amtlichen Meldelisten und mittels Ausweispapieren, in denen die ethnische Zugehörigkeit verzeichnet war, aufgespürt, festgehalten und systematisch massakriert.
Charakteristisch für den Völkermord in Ruanda ist, dass weite Teile der Bevölkerung zur "Mitarbeit" bei den Tötungsaktionen gezwungen wurden, um so, aufgrund der schieren Menge der Mitschuldigen, eine spätere Bestrafung der Verantwortlichen zu erschweren. Auch Hutus, die sich an den Morden nicht beteiligen wollten, wurden getötet.
Dabei wurde in Schichten gearbeitet und bestimmte Quoten erfüllt. Meist wurden die Opfer mit Macheten getötet. Oft wurden die Opfer erst verstümmelt, bevor sie getötet wurden. So war es nicht selten, dass sie erst auf die Größe der meist kleineren Hutus "zurechtgestutzt" wurden, bevor man sie tötete. Einige Tutsis boten den Tätern Geld, damit sie erschossen und nicht mit der Machete massakriert würden.
Örtlichkeiten
Der Völkermord begann in Kigali, wo auch viele Tutsi an Straßensperren ermordet wurden. Teile des Südens des Landes wurden erst später erfasst.
In mehreren Fällen suchten flüchtende Verfolgte Schutz in Kirchen und Schulen und wurden anschließend von katholischen Priestern und Lehrern den Milizen übergeben. In diesem Zusammenhang erlangte das Massaker von Nyarubuye traurige Berühmtheit.
Berühmt wurde ebenfalls das Hôtel des Mille Collines in Kigali, das vielen Tutsi Unterschlupf und damit die Rettung vor dem sichern Tode bot. Siehe dazu auch den Film Hotel Rwanda.
Statistisches
Die Zahl der Opfer wird meist mit 800.000 bis 1.000.000 angegeben, davon etwa 50.000 gemäßigte Hutu. Zweidrittel der Opfer wurden schon in den drei Wochen des April 1994 ermordet. Insgesamt wurden zwischen 10% und 13% der Bevölkerung ermordet. Zwischen 75% und 95% der in Ruanda lebenden Tutsi wurden ausgerottet.
"Die Zahl der Toten wuchs fast dreimal so schnell wie die der jüdischen Toten während des Holocaust. Es war der effizienteste Massenmord seit den Atombomben von Hiroschima und Nagaski" - Zitat von Philip Gourevitch
Flucht nach dem Völkermord
Nach den Völkermord zwangen die Génocidaires weite Teile der Bevölkerung zur Flucht in die Nachbarländer, vor allem nach Kongo, wo viele NGOs um die Betreung der Flüchtlinge konkurrierten, jedoch trotzdem mit dem Problem zuerst überfordert waren. Die Zahl der Flüchtlinge in die Nachbarländer belief sich auf etwa zwei Millionen. Die provisorischen Auffanglager wurden bald von Seuchen heimgesucht. Die Génocidaires errichteten in den Flüchtlingslagern ein straffes Regiment und begannen auch schon wieder Angiffe auf die nun Ruanda beherrschenden Tutsi und verwandte Völker im Kongo, namentlich die Banyamulenge. Diese Laher dienten auch den G´nocidaires als Rekrutierungslager für einen erneuten Umsturzversuch.
Viele einfache Mitläufer des Völkermords wollten bald wieder nach Ruanda zurückkehren, was jedoch die Génocidaires ihres Schutzes in der Masse beraubt hätte. Deshalb versuchten die Génocidaires, die mittlerweile von den NGOs wie alle Flüchtlinge versorgt wurden, eine Rückehr der Masse der Bevölkerung zu verhindern.
Da jedoch die Situation im Kongo immer gespannter wurde, nicht zuletzt wegen der Angriffe auf die Banyamulenge, die sich gegen die Génocidaires wehrten, organisierte die UNO die Rückführung der Flüchtlinge. Diese wurden dann in Ruanda zuerst in Lager gebracht, um sie dort zu registrieren bevor sie nach Hause geschickt wurden, bzw. die Genocidaires zur Verantwortung zu ziehen. Das bekannteste dieser Lager wurde das Lager von Kibeho, um das es im April 1995 zu blutigen Auseinandesetzung zwischen Génocidaires, Hutu-Mitläufern und der zu dieser Zeit von Tutsi beherrschten Armee Ruandas kam.
Folgen und Aufarbeitung
Die Zahl der Flüchtlinge in die Nachbarländer belief sich auf etwa zwei Millionen, die zumeist in den Kongo flohen. Die provisorischen Auffanglager wurden von Seuchen heimgesucht, sie dienten auch der ehemaligen Regierung als Rekrutierungslager für einen erneuten Umsturz. Die Machtverschiebung in Ruanda war zugleich mitverantwortlich für die Bürgerkriege in Burundi und dem Kongo.
Der Völkermord auf oberster politischer Ebene wird seit 1995 von einem Kriegsverbrechertribunal in Arusha, Tansania untersucht, das bereits mehrere Beschuldigte verurteilt hat. Doch dieses Tribunal hat nur die Aufgabe, die Planer des Genozids zu verurteilen. Für die Prozesse gegen die Hundertausenden von Normalbürgern besann sich Ruanda 1999 einer traditionellen Dorfgerichtsbarkeit, den sogenannten Gacaca-Gerichten.
Auf internationaler Ebene wird insbesondere das Nichteingreifen der damals in Ruanda stationierten UNO-Schutztruppe UNAMIR und das Schweigen des UN-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali hinterfragt. Umstritten ist daneben auch die Rolle seines damals für Afrika und Ruanda zuständigen, späteren Nachfolgers Kofi Annan bei dem Völkermord. Kritiker werfen ihm vor, daß er aus eigenem Antrieb oder auf Wunsch der nach dem Somalia-Debakel interventionsunwilligen US-Administration unter Präsident Bill Clinton Nachrichten aus Ruanda, wie etwa die Berichte und Hilfsgesuche des kanadischen Kommandanten des UN-Militärkontingents in Ruanda, General Roméo Dallaire, zurückgehalten und abgemildert haben soll. Durch dieses Verhalten sollte offenbar die Nennung des Wortes Genozid/Völkermord vermieden werden, was den Sicherheitsrat oder die US-Regierung zum Eingreifen gezwungen hätte.
Der zur Zeit des Völkermordes amtierende US-Präsident Bill Clinton äußerte sich 2005 rückblickend zu seiner Amtszeit: „Was habe ich falsch gemacht? Dass wir nicht in Ruanda einmarschiert sind. Das ist damals innerhalb von 90 Tagen geschehen, dieser Völkermord. Ich weiß, dass ich nur ganz schwer die Zustimmung des Kongresses erhalten hätte. Aber ich hätte es versuchen sollen. Ich hätte Leben retten können. Das war ganz sicher das schwerste Versäumnis meines Lebens. Ich werde das nie verwinden.“
Literatur
- Philip Gourevitch: Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden. Berichte aus Rwanda. Berlin Verlag, Berlin 1999. ISBN 3827003512
- Alain Destexhe: Rwanda and Genocide in the Twentieth Century. London/East Haven 1995.
- Linda Melvern: Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt. Diederichs Verlag, Kreuzingen 2004. ISBN 3720524868
Filme
- 2004 - Hotel Rwanda - Regie: Terry George - mit Don Cheadle, Sophie Okonedo und Nick Nolte
- 2005 - Sometimes in April - Regie: Raoul Peck
Weblinks
- "Leave None to Tell the Story" - Report über den Völkermord von Human Rights Watch
- Rwandan Genocide Project - Projekt der Yale University
- Ruanda-Konflikt - Konfliktarchiv des FB Sozialwissenschaften der Universität Hamburg
- Völkermord Verhütung International