Strukturalismus (Architektur)
Überblick
Strukturalismus im allgemeinen Sinn ist eine Denkart des 20. Jahrhunderts, die an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Fachgebieten entstanden ist. Sie kommt unter anderem vor in der Linguistik, Anthropologie, Philosophie, Kunst und Architektur. Der Strukturalismus in Architektur und Städtebau ist eine Reaktion auf den CIAM-Funktionalismus (Rationalismus), der zu einem sterilen Städtebau führte ohne Identität der Bewohner und der gebauten Formen. Beim Strukturalismus bestehen zwei verschiedene Erscheinungsbilder, die manchmal auch in Kombination auftreten: Einerseits ist es die Ästhetik der Anzahl (vergleichbar mit Zellgeweben) und anderseits die strukturierte Architektur der munteren Vielfalt (als Resultat der Gebraucherpartizipation im Wohnungsbau). Dieser zweite Begriff wird auch als Pluralistische Architektur bezeichnet.
Entstehung
Der Strukturalismus in Architektur und Städtebau entstand in der Architektenvereinigung CIAM (Congrès Internationaux d'Architecture Moderne) nach dem Zweiten Weltkrieg. Von 1928-59 war die CIAM eine der bedeutendsten Denkfabriken für Architektur und Städtebau. In dieser Organisation operierten verschiedene Gruppierungen mit teils widersprüchlichen Auffassungen: Anhänger einer wissenschaftlichen Architektur ohne ästhetische Prämissen (Rationalismus), Anhänger einer Architektur als Baukunst (Le Corbusier), Anhänger von Hoch- oder von Niedrigbau (Ernst May), Anhänger eines Reformkurses nach dem Zweiten Weltkrieg (Team Ten, resp. Team 10), Anhänger der alten Garde usw. Es waren einzelne Mitglieder der kleinen Splintergruppe Team Ten, die die Basis legten für den Strukturalismus. Später interpretierte Herman Hertzberger, ein Hauptvertreter der zweiten Generation, den Einfluss dieses Teams wie folgt: "Ich bin ein Produkt des Team Ten." Das Team Ten als Gruppe war aktiv seit 1953, wobei zwei verschiedene Architekturströmungen aus diesem Team hervorgingen. Einerseits war es der Brutalismus der englischen Vertreter (Alison und Peter Smithson) und anderseits der Strukturalismus der holländischen Vertreter (Aldo van Eyck und Jacob Bakema). Auch von ausserhalb des Team Ten kamen wichtige Impulse für den Strukturalismus wie z.B. von Louis Kahn in Amerika, Kenzo Tange in Japan und dem Holländer John Habraken mit seinem Beitrag zur Gebraucherpartizipation. Für die Mitbestimmung im Wohnungsbau leisteten Herman Hertzberger und Lucien Kroll bedeutende Beiträge. Dabei geht Herman Hertzberger vom folgenden Grundsatz aus: "Beim Strukturalismus wird ein Unterschied gemacht zwischen einer Struktur mit langem Lebenszyklus und Einfüllungen mit weniger langem Lebenszyklus." Der japanische Architekt Kenzo Tange entwarf 1960 den bekannten Tokyo-Bay-Plan. Später berichtete er über die Entstehungsphase dieses Projektes: "Ich glaube, es war rund 1959 oder anfangs der 1960er Jahre, dass ich mich mit einer Strömung beschäftigte, die ich später Strukturalismus nannte." Im weitern schrieb Tange den Artikel "Funktion, Struktur und Symbol" von 1966, der den Übergang von der funktionalistischen zur strukturalistischen Denkweise beschreibt. Für Tange stand die Zeit von 1920-60 unter dem Zeichen des Funktionalismus und die Zeit von 1960- unter dem Zeichen des Strukturalismus. Vom Altmeister Le Corbusier stammen verschiedene gezeichnete und gebaute Prototypen für den Strukturalismus, einzelne selbst aus den 1920er Jahren. Obwohl das Team Ten in den 1950er Jahren gewisse Aspekte im Werk von Le Corbusier kritisierten (städtebauliche Grundkonzeption, dunkle Innenstrassen der Unité), so sah es ihn trotzdem als grosses Vorbild unter den Architekten.
Manifest
Das wichtigste Manifest für die strukturalistische Bewegung wurde durch Aldo van Eyck zusammengestellt (Forum 7/1959). Es war gleichzeitig das Programm für den internationalen Architektenkongress in Otterlo 1959. Der Kern dieses Manifests ist ein frontaler Anfall gegen die holländischen Vertreter des CIAM-Rationalismus, die für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich waren (die Planer van Tijen, van Eesteren, Merkelbach u.a. wurden aus taktischen Gründen nicht genannt). Das Manifest enthält viele Statements und Vorbilder für einen humaneren Städtebau. Der Otterlo-Kongress von 1959 wird offiziell als Beginn der Architekturströmung Strukturalismus gesehen, obwohl schon frühere Projekte und Bauten der neuen Bewegung bestanden. Der Begriff Strukturalismus in der Architektur wird in der Fachliteratur erst seit 1969 verwendet.
Theoretische Ausgangspunkte
Gebaute Strukturen als Kontraform der sozialen Strukturen. Archetypisches Verhalten des Menschen als Ausgangspunkt für die Architektur (vergl. Anthropologie, Claude Lévi-Strauss). - Zusammenhang, Wachstum und Veränderung auf allen Stufen des Städtebaus. Gliederung der Baumasse mit Gestaltqualität. Sinn-für-Plätze-Konzeption. Erkennungszeichen. - Polyvalente Form und individuelle Interpretation (vergl. Langue et Parole, Ferdinand de Saussure). Gebraucherpartizipation. Integration von professioneller und alltäglicher Baukultur mit als Resultat die Pluralistische Architektur.
Hauptvertreter der strukturalistischen Bewegung
Jacob Bakema, Piet Blom, Georges Candilis, Herman Hertzberger, Louis Kahn, Lucien Kroll, Le Corbusier, Moshe Safdie, Alison und Peter Smithson, Kenzo Tange, Aldo van Eyck, (John Habraken, Theorie Gebraucherpartizipation)
Hauptvertreter des Team Ten (the inner circle)
Jacob Bakema, Georges Candilis, Giancarlo de Carlo, Alison und Peter Smithson, Aldo van Eyck, Shadrach Woods
Literatur
- M. Hecker, "Structurel-structural" (Einfluss strukturalistischer Theorien auf die Entwicklung architektonischer und städtebaulicher Ordnungs- und Gestaltungsprinzipien in West-Deutschland ... 1959-75), Dissertation TU Stuttgart 2007;
- M. Risselada und D. van den Heuvel, "Team 10", Rotterdam 2006;
- W. van Heuvel, "Structuralism in Dutch Architecture", Rotterdam 1992;
- A. Lüchinger, "Strukturalismus in Architektur und Städtebau", Stuttgart 1980;
- J. Habraken, "Die Träger und die Menschen ...", Den Haag 2000 (ursprünglich in holl. Sprache, Amsterdam 1961);
- A. van Eyck, "Het verhaal van een andere gedachte" in Forum 7/1959, mit holl., engl. und franz. Texten, Amsterdam und Hilversum. (Für die Zeitschriften Forum 7/1959-3/1963 sowie die Extranummer Juli/1967 bestand die Redaktion aus A. van Eyck, H. Hertzberger, J. Bakema u.a.)
Weblinks
Architektur, CIAM, Team Ten (Team 10)