Obaysch



Obaysch (* 1849 auf der Insel Obaysch im Weißen Nil, Ägypten; † 11. März 1878 im Zoo in London) war das erste Flusspferd in England und das erste in Europa lebend bekannt gewordene seit dem 17. Jahrhundert. Es wurde als Jungtier auf seiner Geburtsinsel, nach der es seinen Namen erhielt, eingefangen und 1850 nach London gebracht, wo es eine Hippomania auslöste.
Hintergrund
Anders als Elefanten und Nashörner, die als Fürstengeschenke oder Jahrmarktsattraktionen bereits seit dem 16. Jahrhundert als seltene lebende Spektakel in Europa bekannt wurden, waren Flusspferde lediglich aus antiken Berichten und neuzeitlichen Naturgeschichten ohne lebendige Anschauung gegenwärtig. Herodot hatte sie in seinen Historien beschrieben,[1] desgleichen tauchten sie in der Naturalis historia von Plinius dem Älteren auf, der auch die Existenz eines Flusspferds in Rom erwähnt.[2] Die antiken Beschreibungen waren allerdings nicht sehr exakt. Nach Herodot besaß das Tier eine Pferdemähne und Plinius behauptete, es wandere rückwärts, um seine Verfolgung zu erschweren.
Als Präparat ist aus dem 17. Jahrhundert ein Flusspferd erhalten, das in der Menagerie der Medici gelebt hatte und heute noch im Museum La Specola in Florenz zu besichtigen ist. Der berühmte französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon beschrieb in seiner Histoire naturelle générale et particulière (ab 1749) das Flusspferd nach einem Schädel und einem Fötus, die sich im „Cabinette des Königes“ befanden.[3]
Leben
Der osmanische Vizekönig von Ägypten Abbas Pascha brachte das Flusspferd im Jahre 1849 von einer Nilexpedition mit. Sein Hofjäger hatte das wahrscheinlich erst wenige Tage alte männliche Kalb im Schilf der Nilinsel Obaysch entdeckt. Beim Versuch, es mit den Armen aufzunehmen, war das vom Schlamm schlüpfrige Tier ihm jedoch entrutscht und hatte im Wasser das Weite gesucht. Der Jäger konnte es mit einem langen Haken wieder an Land ziehen, verletzte es aber dabei an der Seite.[4] Das Tier behielt eine Narbe, die auf einem Foto von 1852 noch deutlich zu erkennen ist.
Abbas Pascha übergab das nunmehr Obaysch genannte Kalb dem britischen Generalkonsul, Sir Charles Augustus Murray, später bekannt als Hippopotamus–Murray, zusammen mit einigen anderen exotischen Tieren und erhielt dafür im Tausch Greyhounds. Obaysch wurde zunächst mit einem speziell für ihn konstruierten Boot auf dem Nil, zusammen mit einer Entourage nubischer Soldaten, nach Kairo verbracht. Von Kairo aus wurde das Flusspferd nach Southampton verschifft; es erreichte den Londoner Zoo am 25. Mai 1850.
Abbas Pascha schickte noch ein zweites Flusspferd nach England, das am 22. Juli 1854 in London ankam. Es war weiblich, bekam den Namen Adhela und wurde Obaysch als Gefährtin zugesellt.[5] Es dauerte sechzehn Jahre, bis das Paar endlich im Jahr 1871 Nachwuchs bekam; das Kalb starb aber nach zwei Tagen. Ein zweites Kalb im folgenden Jahr starb ebenfalls, erst ein drittes, geboren am 5. November 1872, überlebte. Es war ein weibliches Tier und erhielt den Namen Guy Fawkes. Nachdem die Wärter ihren Irrtum bemerkt hatten, wurde es umgetauft in Miss Guy. Adhela überlebte Obaysch um vier Jahre; sie starb am 16. Dezember 1882. Miss Guy blieb ohne Nachwuchs.[6]
Hippomania
Obaysch wurde zur dauerhaften Sensation des Londoner Zoos. Täglich kamen 10.000 Menschen, um das Tier zu bestaunen, und bereits im ersten Jahr nach seiner Ankunft hatte sich die Zahl der Zoobesucher verdoppelt. Mit Ausnahme von Jumbo ist kein anderes Zooleben eines Tiers in England so häufig in der Presse erschienen und so populär geworden wie das von Obaysch. Es entfachte einen schwunghaften Handel mit Souvenirs und inspirierte sogar die Komposition einer Hippopotamus Polka. Lewis Carroll verfasste ein Poem auf den außerordentlichen Appetit des Flusspferds. Queen Victoria führte ihre Kinder zu seinem Gehege und hinterließ einige Anmerkungen über das Benehmen des Tiers in ihrem Tagebuch.
Biografisches Material über Obaysch befindet sich heute in der Bibliothek der Zoological Society of London. Beim Betreten der Bibliothek begegnet der Besucher einer Plastik von Obaysch aus gebranntem Lehm vom Nil.[7]
Literatur
- Charles Knight: Natural History or Second Devision of "The Englisch Cyclopaedia". Volume III. London 1867; Sp. 100–103
- Nina J. Root: Victorian England's Hippomania. In: Natural History Magazine, Februar 1993; S. 34–39
- D. F. Weinland (Hrsg.): Der Zoologische Garten. Organ der Zoologischen Gesellschaft in Frankfurt a. M. III. Jahrgang 1862; S. 128f.
Weblinks
- A Traveller from Egypt. The Association for the Study of Travel in Egypt and the Near East; Bulletin 21 (engl.)
- La Specola mit dem Präparat des Medici-Flusspferds aus dem 17. Jahrhundert
- Zoological Society of London: Flusspferd Guy Fawkes (Foto, erschienen 1897)
Einzelnachweise
- ↑ Buch 2, Kapitel 71, Englische Online-Ausgabe
- ↑ Buch 8, Kapitel 95, 96 Lateinische Online-Ausgabe
- ↑ Georges–Louis Leclerc de Buffon: Allgemeine Historie der Natur. Sechsten Teils erster Band, Leipzig 1767; S. 30ff.
- ↑ D. F. Weinland (Hrsg.): Der Zoologische Garten. Organ der Zoologischen Gesellschaft in Frankfurt a. M. III. Jahrgang 1862
- ↑ Charles Knight: Natural History or Second Devision of "The Englisch Cyclopaedia". Sp. 105
- ↑ Nina J. Root: Victorian England's Hippomania. In: Natural History Magazine, Februar 1993
- ↑ Nina J. Root: Victorian England's Hippomania. In: Natural History Magazine, Februar 1993