Neusprech
Der Ausdruck Neusprech (englisch: Newspeak, in älteren Versionen als Neusprache übersetzt) stammt aus dem Roman 1984 von George Orwell und bezeichnet eine Sprache, die aus politischen Gründen künstlich modifiziert wurde.
Zum Begriff „Neusprech“
„Neusprech“ bezeichnet die vom herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache. Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation der Bevölkerung in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken. Damit sollen sogenannte Gedankenverbrechen unmöglich werden. Durch die neue Sprache bzw. Sprachregelung soll die Bevölkerung so manipuliert werden, dass sie nicht einmal an Aufstand denken kann, weil ihr die Worte dazu fehlen.
Gefühlsbetonte Wörter sollen durch logische Zusammensetzungen wie gut—plusgut—doppelplusgut abgelöst werden, schlecht wird ersetzt durch ungut. Die Wörter verlieren außerdem Teile ihrer ursprünglichen Bedeutung. Es gibt in Neusprech zwar noch das Wort „frei“, jedoch nicht mehr im Sinne von „politisch frei“, sondern nur noch in der Bedeutung von „ohne“ (z. B. „Der Hund ist frei von Flöhen“).
George Orwell hat seinem Roman 1984 eine Einführung in Neusprech angefügt. In dem Roman wurden auch ältere Bücher z. B. von Shakespeare umgeschrieben, um den neuen manipulativen Anforderungen zu entsprechen. Laut seiner Fiktion sollte die Geschichtsumschreibung von Altsprech zu Neusprech um 2050 abgeschlossen sein; zur Zeit der Romanhandlung, eben 1984, ist das Neusprech noch nicht vollständig ausgereift.
Beispiele für Neusprech in „1984“
Neben Zitaten, die die Begriffe der normalen Sprache umdeuten, manifestiert sich Neusprech durch die Definition von „Wieselwörtern“. Dabei werden vorhandene Wortstämme zu Begriffen kombiniert, die der herrschenden Ideologie dienlich sind. Typisch für den Selbstbezug bei George Orwell ist, dass der Begriff „Wieselwort“ selbst ein Beispiel für diese Technik ist.
- Doppeldenk (in älterer Übersetzung: Zwiedenken) (engl. doublethink): Bezeichnet die Fähigkeit, zwei einander widersprechende Denkweisen gleichzeitig als wahr zu akzeptieren.
- Deldenk, (engl. Crimethink oder Thoughtcrime): Gedankenverbrechen; gedachte Kritik an oder Dissonanz zu der Philosophie der jeweiligen Regierung. Zweifel daran. Auch das In-Erwägung-Ziehen von anderen Gedanken als der offiziellen Doktrin.
- Quaksprech (in älteren Übersetzungen „Entenquak“) (engl. duckspeak): buchstäblich sprechen, ohne zu denken, oder wie eine Ente zu schnattern. Wenn man Unsinn redet und lügt, so spricht man Quaksprech. Je nach Anwendung ein Lob (bei Personen mit gleicher, regierungstreuer Meinung) oder eine Beschimpfung (bei Personen mit anderer Meinung als der Große Bruder).
- Die Steigerung von Gut zu Plusgut und Doppelplusgut (engl. doubleplusgood): Im Unterschied zum Begriff Gut in der herkömmlichen Sprache ist hier immer auch der Grad der Übereinstimmung mit der herrschenden Ideologie gemeint. Das Gegenteil ist Ungut, Plusungut, Doppelplusungut.
- Verbrechenstop (auch „Delstop“): Eine Methode, Gedankenverbrechen zu vermeiden, indem man den Gedankenstrom automatisch umlenkt, wenn er regierungskritische, ungute Themen berührt.
- Gutdenker: Eine Person, die auch ohne bewusste Anstrengung keine unguten Gedanken hat.
- Vaporisieren (abgeleitet vom lateinischen Wortstamm für verdampfen): Einen Menschen töten oder auf andere Weise aus der Gesellschaft entfernen. Alle Aufzeichnungen/Erinnerungen an die Unperson vernichten. Alle müssen vergessen, dass sie jemals gelebt haben. Dies ist eine logische Fortsetzung der stalinistischen Praxis, unerwünschte Personen aus Fotos zu retuschieren.
- Unperson: Eine vaporisierte Person. Eine Erwähnung der Unperson ist ein Gedankenverbrechen (Thoughtcrime) und in Neusprech grammatikalisch unmöglich. Dies ist ebenfalls eine Analogie zum stalinistischen Umgang mit unerwünschten Personen.
- frei von Läusen, frei von Unkraut. Das Konzept von „Freiheit“ im politischen Sinne oder das Wort „frei“ im Sinne von Offenheit wurden entfernt.
- Miniwahr (engl. Minitrue): Ministerium für Wahrheit (Propaganda)
- Minipax (engl. Minipax): Ministerium für Frieden (Krieg)
- Minifluss (engl. Miniplenty): Ministerium für Überfluss (Wirtschaft)
- Minilieb (engl. Miniluv): Ministerium für Liebe (Justiz)
Neusprech außerhalb des Romans von George Orwell
Die Begriffe „Neusprech“ oder „Newspeak“ werden unabhängig vom Roman als Synonym für aktuelle Sprachveränderung gebraucht. Das schließt bewusste Perspektivwechsel mit ein. Während von einigen Linguisten bezweifelt wird, dass eine Umgestaltung des menschlichen Denkens durch Sprache überhaupt möglich ist, wird von Seiten der Feministischen Linguistik der Einfluss von Sprache auf die Konstruktion der Wirklichkeit betont. Dies wird auch in der Diskussion über die Political Correctness deutlich: Befürworter meinen, Sprache solle gezielt verändert werden, um diskriminierende Begriffe zu vermeiden, Kritiker sehen hier einen Versuch sprachlicher Manipulation.
Auf einem niedrigeren Niveau findet man solche „Reformsprachen“ in vielen totalitären Systemen, seien es totalitäre Staaten oder totalitäre Sekten – etwa die im Buch LTI – Notizbuch eines Philologen von Victor Klemperer analysierte Propagandasprache des Dritten Reiches. Typisch für solche „Sprachen“ sind Unmengen an Abkürzungen sowie der Gebrauch von scheinbar alltäglichen Wörtern als Chiffren und Euphemismen für Dinge oder Vorgänge, die unter ihrem wahren Namen allgemein Abscheu erregen würden. Beispiel: „Endlösung der Judenfrage“ für Massenmord oder „präventive Verteidigungsmaßnahmen“ für Angriffskrieg.
In weiter abgeschwächter Form ist es auch in demokratischen Gesellschaften nicht selten, dass versucht wird, bestimmte Themen durch Verwendung anderer Begriffe zu entschärfen; z. B. „Freistellung von Mitarbeitern“ statt „Entlassung von Angestellten“, das in Politikkreisen häufig verwendete „die Unwahrheit sagen“ anstatt „lügen“ oder „Anpassung“ von Preisen, Tarifen und Gebühren anstelle von „Erhöhungen“. Der Begriff „Vorwärtsverteidigung“, der von der NATO stammt, bezeichnet Angriffe während eines Krieges. Da die NATO jedoch ein reines Defensivbündnis ist, sollten so vielleicht Missverständnisse vermieden werden. Ein besonders schönes Beispiel für Neusprech ist die Diskussion über eine „nichtrückzahlbare Zwangsanleihe für Besserverdienende“ in den späten 1980er Jahren. Ähnlich wie bei der „Vorwärtsverteidigung“ findet hier die Entschärfung des Sachverhalts dadurch statt, dass ein unverfängliches Substantiv (Anleihe) mit direkt widersprüchlichen negativen Eigenschaften (nicht rückzahlbar, erzwungen) adjektiviert wird. Die Schlagworte „War on Drugs“ und „War on Terror“ wurden von US-Regierungen gewählt, da ihnen im Krieg Sonderrechte gewährt werden.
Harmlosere Formen von Sprachmanipulation werden im Sinne von Marketing von Politikern und Medien eingesetzt: Die sogenannte „Greencard für Inder“ ist weder mit der als sprachlichem Vorbild dienenden US-Greencard (unbefristete Aufenthaltsgenehmigung) vergleichbar, noch richtete sie sich im Kern an Inder (sondern an osteuropäische Programmierer). Der Begriff „Ich-AG“ ist insofern sinnentleert, als es sich bei „AG“ weder um eine Aktiengesellschaft noch um eine Arbeitsgemeinschaft handelt. Beide Bedeutungen der Abkürzung setzen die Beteiligung mehrerer Menschen voraus; auch hier werden einander widersprechende Bedeutungen miteinander verknüpft. Der von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft geprägte Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“ versucht, den Begriff „sozial“ entsprechend umzudefinieren, sodass er sich für wirtschaftsliberale Positionen verwenden lässt, die wiederum von der politischen Linken oftmals als „unsozial“ bezeichnet werden.
Selbst der technisch-naturwissenschaftliche Bereich ist nicht frei von Wortverschiebungen mit dem Ziel, eine höhere Akzeptanz zu erreichen. Beispiele: „Magnetresonanztomographie“ (MRT) statt „Kernspintomographie“ (NMR) vermeidet die – allerdings irrtümlich im Sinne von „nuklear“ – mit Strahlentherapie und Krebs assoziierte Vorsilbe „Kern“; „thermische Abfallbehandlung“ oder gar „thermisches Recycling“ statt „Müllverbrennung“ verschiebt die Betonung von der Beseitigung zu einer neuen Nutzung.
Eine neue Qualität erhält die gezielte Sprachveränderung mit Hilfe von Abmahnungen. So ließ die GEZ eine Internetseite für den Gebrauch von „GEZ-Gebühren“, „GEZ für PC zahlen“, „GEZ-Fahndern“ und weiterer ähnlicher Begriffe abmahnen.[1] Obwohl diese Begriffe sowohl umgangssprachlich als auch in den Medien weitläufig benutzt werden, sieht die GEZ diese als „falsch“ und „im Sinne einer üblen Nachrede“. Beispiele für Vorschläge der GEZ für die als „falsch“ definierten Begriffe: „Beauftragtendienst der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten“ oder „Rundfunkgebührenbeauftragter“ statt „GEZ-Fahnder“.
Siehe auch
Weblinks
- Roman 1984 mit Neusprech-Anhang (englisch)
- Neusprech-Wörterbuch (englisch)
- Strategische Kommunikation mit geprüften wissenschaftlichen Methoden
- Essay von Brigitta Huhnke zu „Political Correctness“
Quellen
- ↑ Rabiate Imagepflege – GEZ mahnt Webseite wegen Begriff „GEZ-Gebühr“ ab Artikel von Konrad Lischka auf Spiegel Online, vom 24. August 2007