Erfundenes Mittelalter
Die Theorie vom Erfundenen Mittelalter (auch: Phantomzeit-Theorie oder kurz PHZ) besagt, dass etwa 300 Jahre des europäischen Frühmittelalters ab dem 7. Jahrhundert beginnend bis zur ottonischen Zeit von Geschichtsschreibern des Hochmittelalters erfunden worden seien.
Die in Deutschland verbreitete Version geht auf Heribert Illig zurück. Er vertritt die Ansicht, man könne mit der Entfernung angeblich erfundener Jahre die Chronologie des Mittelalters korrigieren. Hans-Ulrich Niemitz, der sich dieser Theorie anschloss, nannte den Zeitraum dann Phantomzeit, da das Fränkische Reich nach Chlodwig I. ein Produkt der Fantasie oder der Täuschung gewesen sei. Insbesondere haben laut dieser Theorie Personen wie Karl der Große und die anderen Karolinger vor Karl III. dem Einfältigen entweder überhaupt nicht existiert, oder sie sind vor 614 beziehungsweise nach 911 einzuordnen.
Von den Geschichtswissenschaftlern und Mediävisten, die sich bisher zu dieser Theorie geäußert haben, wird sie zurückgewiesen. In der Öffentlichkeit hat die These aber ein gewisses Interesse gefunden.
Grundlagen der Theorie
Die Theorie vom Erfundenen Mittelalter ist eine Form der Chronologiekritik, deren hypothetische Grundlagen insbesondere in folgenden Bereichen liegen: Kalenderkunde, Astronomie, Diplomatik, Archäologie, Architekturgeschichte und Historische Geographie.
Kalenderkunde
Die Theorie hat ihren Ursprung und damit ihre erste Grundlage in der Kritik des tradierten Kalenders. Heribert Illig kam auf die Theorie vom Erfundenen Mittelalter durch seine Annahme, dass bei der Kalenderreform von Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 eigentlich 13 Tage zu streichen gewesen wären, um die Frühlingstagundnachtgleiche wieder am 21. März feiern zu können. Tatsächlich sind 10 Tage gestrichen worden.
Papst Gregor XIII. hat den 46 v. Chr. eingeführten Julianischen Kalender dahingehend verändert, dass die vollen Jahrhunderte keine Schaltjahre mehr sind, außer wenn sie durch 400 teilbar sind. Es wurden zehn Tage gestrichen, indem auf den 4. Oktober der 15. Oktober 1582 folgte. Notwendig war die Gregorianische Kalenderreform geworden, weil sich der Frühlingspunkt verschoben hatte und damit auch die Berechnung des christlichen Osterfestes fragwürdig geworden war. Unstrittig ist, dass Papst Gregor selbst vom 21. März als Frühlingspunkt ausging. Die Geschichtswissenschaft geht allerdings davon aus, dass er die Rückberechnung auf das Jahr 325 n. Chr. vornahm, als das Erste Konzil von Nicäa den Ostertermin festlegte.
Wenn aber Gregor mit dem Überspringen von lediglich 10 Tagen die astronomische Situation des 1. Jahrhunderts v. Chr. wiederhergestellt hätte, obwohl dafür eigentlich 13 Korrekturtage nötig gewesen wären, gibt es dafür laut Illig nur eine Erklärung dieser Differenz, nämlich durch fehlende drei Jahrhunderte. Nach Illig (Zeitensprünge 3/1993) beträgt die nachträglich eingefügte Zeit genau 297 Jahre. Als begründete Arbeitshypothese grenzte er den fraglichen Zeitraum auf die Spanne September 614 bis August 911 ein.
Daraufhin haben die Befürworter der Theorie versucht, diese Lücke von etwa 300 Jahren auch in anderen Kalendern zu finden, und beanspruchen, dabei mehrmals fündig geworden zu sein, zum Beispiel im Kalenderstreit der Parsen im Iran und in Indien. Außerdem verweist man auf unwahrscheinliche Doppelereignisse während der Missionierung durch das Christentum und durch den Islam (Marokko, Industal).
Die Wissenschaft sieht den 21. März 325 als Referenzdatum für den Frühlingsanfang nicht als widerlegt an, denn die Orientierung am Frühlingsbeginn zu Zeiten des Konzils von Nicäa ist in der maßgeblichen päpstlichen Bulle Inter gravissimas angegeben. Die 10 Tage zwischen dem 5. und dem 14. Oktober 1582 wurden nach dem Wortlaut der Bulle gestrichen,
- Quo igitur Vernum Aequinoctium, quod a Patribus Concilii Nicæni ad XII Calendas Aprilis fuit constitutum, ad eamdem sedem restituatur... (Damit die Frühlingstagundnachtgleiche, die von den Vätern des Konzils von Nicäa auf den 21. März (XII Calendas Aprilis) festgelegt worden war, auf eben diesen Platz zurückgesetzt werde ...)[1].
Dies wird damit erklärt, dass für Papst Gregor das Konzil wichtiger gewesen sei als die Festlegungen des Julius Caesar. Außerdem sollen antike Quellen belegen, dass der Frühlingspunkt zu Zeiten des Römischen Reiches – und somit auch von Caesar – auf den 24. oder 25. März gelegt wurde. Bis zum Konzil von Nicäa wäre er damit auf den 21. März vorgerutscht. Die Konzilsväter hätten ihn deshalb auf dieses Datum festgelegt, da der Frühlingspunkt im Jahr 325 an diesem Tag beobachtet worden wäre; vom Fehler des Julianischen Kalenders hätten sie noch nichts gewusst. Eine Kalenderreform hätte daher vom Konzil nicht vorgenommen werden können oder müssen.
Diplomatik
Illigs Kritik an Urkunden (vgl. Quellenkunde) geht davon aus, dass Originalurkunden aus dem besagten Zeitraum sehr spärlich seien und von Personen meist nur sehr unspezifisch sprächen. Überdies seien vom 10. Jahrhundert bis in die Zeit von Friedrich II. zahlreiche Urkunden von Majuskel-Schrift auf Minuskel-Schrift umgestellt worden – also neu geschrieben worden, wonach man die alten Urkunden vernichtet hat. Eine Verfälschung um rund 300 Jahre sei dabei möglich gewesen. Zudem hätten die Kaiser des Frühmittelalters ihre Urkunden traditionell mit einem kurzen Strich im vorgefertigten Monogramm signiert. So stimme das Monogramm Karls des Großen mit dem von Karl dem Einfältigen Anfang des 10. Jahrhunderts überein. Ferner seien die Arbeiten von bedeutenden Gelehrten des frühen Mittelalters wie beispielsweise Beda Venerabilis, Einhard nur als Abschriften des Hochmittelalters überliefert und wiesen Widersprüche auf. Für viele angeblich frühmittelalterliche Prachtschriften wie das Book of Kells werden selbst in der Fachwissenschaft immer wieder spätere Zuordnungen vorgenommen. Auffällig sei auch, dass es für die jüdische Kultur in dieser Zeit praktisch keine Textfunde gäbe.
Nach dem Kenntnisstand der historischen Wissenschaften existieren jedoch für den fraglichen Zeitraum Tausende von Dokumenten (Arno Borst spricht von etwa 7000[2]) und für die monastische Literatur sei das 9. Jahrhundert an Autoren und Manuskripten das reichste des gesamten frühen Mittelalters.
Im Gegensatz zu Illig ist für die Geschichtswissenschaft die Tatsache, dass viele Texte nur in Abschriften überliefert sind, allein kein Grund, um an ihrem Wahrheitsgehalt zu zweifeln. Das Abschreiben war für die mittelalterlichen Zeitgenossen die einzige Möglichkeit, Texte zu kopieren. Deshalb betrachtet die Geschichtswissenschaft den Begriff der Fälschung für das Mittelalter deutlich differenzierter. Es ist weiterhin auch unumgänglich, für jeden Text einzeln nachzuweisen, welche Inhalte zutreffend sind und welche nicht, insbesondere da das Vermischen von authentischen und erfundenen Inhalten in den Texten des Mittelalters sich an vielen Beispielen nachweisen lässt. Eine pauschale Verurteilung der Texte des Mittelalters, wie sie bei Illig zu finden ist[3], ist daher nicht zulässig.
Weiter wird die Sprachgeschichte angeführt: Dort seien für diesen Zeitraum Sprachwandel- und -tauschparallelen quer durch Europa feststellbar.
Archäologie
Die dritte Grundlage der These ist die Archäologie-Kritik und basiert auf der Behauptung, dass die wenigen archäologischen Funde aus der Zeit zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert n. Chr. falsch datiert seien. Als Beispiel wurde die Archäologie in Bayern angeführt, um zu belegen, dass archäologische Funde oft anhand von Urkunden zugeordnet wurden und nicht nach rein archäologischen Befunden, dass viele Datierungen selbst unter Archäologen umstritten sind und die archäologischen Funde, die zwischen 614 bis 911 eingeordnet wurden, allesamt vorher bzw. nachher einordbar sind. Beide Autoren sprechen daher nicht bloß von einer „Fundarmut“, sondern gar von einer „Fundleere“ für Bayern.[4]
In diesem Zusammenhang wird auch die Dendrochronologie zur Datierung in Frage gestellt, weil sie sich auf jene Urkundendaten stütze, die im Sinne der oben ausgeführten Urkundenkritik als nicht gesichert angenommen werden. Damit werde aber die bestehende Chronologie bereits vorausgesetzt. Auch wird bemängelt, dass eine Überprüfung der Dendrochronologien nicht möglich sei, da die diesen zu Grunde liegenden Baumringfolgen nie veröffentlicht wurden (Veröffentlicht wurde allein E. Hollsteins an Funden der Römerzeit orientierte Dendrochronologie, die jedoch in der Fachwelt als fehlerbehaftet gilt) [5].
Die empirische Kalibrierung der Radiokarbonmethode anhand der Dendrochronologie setzt die Fehlerfreiheit der unveröffentlichten Baumringdaten ebenfalls voraus. Die Kalibrierung wird mit dem schwankenden 14C/12C-Isotopenverhältnis begründet. Allerdings bleibt der eigentümliche Verlauf der (INTCAL-) Kalibrierkurve weiter unverstanden: "Certainly, from a geophysical or astrophysical viewpoint, the 14C spectrum is a most interesting geophysical global parameter. It may take many years before it is fully understood" [6]. Illig und Niemitz sprechen daher vom „C14-Crash“[7].
Die Münzen des Frühmittelalters wiederum sind – sofern keine anderen Datierungsmöglichkeiten aus dem Fundzusammenhang möglich waren – meist über die abgebildeten Herrscher datiert worden. Diese seien nur aus den Schriften (s. o.) bekannt. So könnten die Carolus-Münzen der Karolingerzeit laut Gunnar Heinsohn alle auf Karl den Einfältigen zurückgeführt werden, die karolingische Münzreform auf Pippin den Älteren.
Den geschichtswissenschaftlichen Publikationen kann dagegen entnommen werden, dass zur fraglichen Epoche eine große Zahl von archäologischen Funden vorhanden ist. In diversen Museen sind einige davon für die Öffentlichkeit zugänglich. Auch die von Heribert Illig geleugneten archäologischen Schichten zur Karolingerzeit lassen sich an verschiedenen Stellen – etwa in Paderborn – eindeutig nachweisen. [8] In Hinsicht auf die von Heribert Illig behauptete Fundarmut wird weiter auf eine der für die wissenschaftliche Historiographie gültigen Prämissen verwiesen, die besagt, dass jegliche Überlieferung – egal ob dinglich oder schriftlich – zufällig erfolgt und keinen statistischen Vorgaben oder Gesetzmäßigkeiten unterliegt[9]. Demnach ist es aus der Sicht der Wissenschaft nicht zulässig, aus der Häufigkeit bestimmter Funde oder Überreste einen Rückschluss auf die Authentizität schriftlich überlieferter Gegenstände, Ereignisse oder Personen zu ziehen.[10] Auch die Kritik an der Dendrochronologie ist zurückzuweisen. Bis heute wurden mehrere aussagekräftige Baumringreihen z. B. für Eichenholz unabhängig voneinander zusammengestellt, die zuverlässige Datierungen bis weit in die Vorgeschichte ermöglichen.[11]. Die grundsätzliche Kritik an der Radiokarbonmethode wird ebenfalls zurückgewiesen, da z. B. durch große Vulkanausbrüche ein weltweiter Abgleich, auch mit den Eisbohrkernen möglich sei. Siehe dazu: Radiokohlenstoffdatierung.
Architekturgeschichte
Illig behauptet, es gäbe mit der jetzigen Chronologie in der Baukunst Entwicklungssprünge bzw. verzögerte Entwicklungen, während sich ohne die fraglichen drei Jahrhunderte ein lückenlos fließender Übergang zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert ergebe. Illig bezieht sich dabei in seinem Werk hauptsächlich auf die Geschichte der Aachener Pfalzkapelle, anhand derer er mehrere Anachronismen nachzuweisen versucht. Auch die Ingelheimer Kaiserpfalz, der Kölner Dom und die ehemalige Moschee von Córdoba seien beispielsweise geschichtlich falsch kategorisiert.
Allerdings sind zahlreiche Bauten des fraglichen Zeitraumes dokumentiert und auf verschiedene Weise datiert, z.B. durch Inschriften, Urkunden, Stratigraphie und naturwissenschaftliche Altersbestimmungen. Gegner der Theorie vom Erfundenen Mittelalter werfen Illig außerdem vor, er behaupte Entwicklungssprünge, die es tatsächlich nicht gebe, und sie weisen darauf hin, dass sich die von Illig in Zweifel gezogenen Bauten nicht schlüssig in andere Epochen datieren ließen[12].
Astronomie
Die Astronomiekritik gehört nicht zu den Ursprungs- und Kernelementen der Theorie Illigs. Astronomische Untersuchungen widerlegten zwischenzeitlich die Theorie Illigs. Als Argument gegen die Genauigkeit der Forschungsergebnisse führt Illig in seinen Ausführungen an, dass seine Thesen durch astronomische Rückrechnungen „nicht streng widerlegbar seien”, weil diese nach Meinung Illigs für den betreffenden Zeitraum auf zu „unsicheren Quellen” beruhten.
Illig erkärt, dass es zwar Belege in Form astronomischer Beobachtungen gegen seine Theorie gebe, beruft sich aber auf ein aus dem Gesamtzusammenhang gerissenes Zitat des Astronomen Dieter B. Herrmann (wogegen dieser sich verwahrt), das sich nur auf den Bereich der Sonnenfinsternisse bezieht: „Ein unanfechtbarer Beweis gegen Illigs These kann allein anhand von historischen Sonnenfinsternissen wohl nicht geführt werden. Dazu wäre es erforderlich, dass die Echtheit der jeweiligen Quelle, ihre fehlerfreie Überlieferung, die Gewissheit ihrer Zuverlässigkeit, eine eindeutig zuzuordnende Beschreibung des Ereignisses sowie dessen konkretes Datum anhand von Verknüpfungen mit anderen geschichtlichen Ereignissen gegeben wären. Bietet nur eines dieser Kriterien bezüglich einer Finsternis Anlass zu Zweifeln, kann die These von der Phantomzeit im strengen Sinn nicht als widerlegt gelten.“[13]
Als historisch belegtes Zeugnis hinsichtlich der Richtigkeit antiker Aufzeichnungen führt Herrmann die Berichte von Hydatius von Aquae Flaviae über zwei totale Sonnenfinsternisse an, die in Aquae-Flaviae (Portugal) innerhalb eines Abstandes von 29,5 Jahren auftraten.[14] Dieses astronomische Ereignis ereignet sich aufgrund der „extrem geringen Wahrscheinlichkeit” nicht sehr oft. Das Argument der „extrem geringen Wahrscheinlichkeit” bezieht sich auf den Umstand, dass an einem Ort sehr selten innerhalb von 29,5 Jahren der Kernschatten einer totalen Sonnenfinsternis zweimal auftritt, während astronomische Untersuchungen für Altertum, Antike und Neuzeit belegen, dass während 29,5 Jahren mehrere allgemein wahrnehmbare Sonnenfinsternisse dem astronomischen Regelfall entsprechen. Da Illig keine wissenschaftlichen Argumente gegen die Beobachtungsberichte des Bischofs Hydatius vorlegen kann, weicht Illig auf andere Themenbereiche aus und zieht die Glaubwürdigkeit des Bischofs in Zweifel: „Bei den Papstdaten seiner Zeit irrte sich der Bischof um bis zu 7 Jahre, wie glaubwürdig ist dann der Bericht über dessen taggenau dokumentierten Sonnenfinsternisse ?“
Weiter beruft sich Illig in seiner Astronomiekritik auf Beobachtungen von Robert Russell Newton, der zum einen Ptolemäus' Almagest als Quelle kritisch gegenübersteht[15], zum anderen die mittelalterlichen Finsternisberichte ausgewertet habe, um der Erddrehungsbeschleunigung auf die Spur zu kommen. Die dabei entstehende Grafik[16] zeigt den Beschleunigungsparameter D’’ (in Sekunden je Jahrhundert) im Zeitraum zwischen −700 und +2000. Anstelle einer durchgehenden „Gerade“ wie zwischen −700 und +600 und dann wieder zwischen 1300 und 2000 zeige sich zwischen 600 und 1300 ein Bremsen, das „durch gegenwärtige geophysikalische Theorien nicht erklärbar“ sei[16]. Während bislang über Änderungen im Magnetfeld der Erde, Veränderungen ihres mittleren Radius und selbst Massenverlagerungen innerhalb der Erde als Ursachen diskutiert würde, liefere die Phantomzeittheorie eine zwanglose Erklärung. Allerdings hält Illig die Auswertung von prämodernen Finsternisberichten in dieser Studie für zulässig und aussagekräftig.
In ähnlicher Weise verweist F. R. Stephenson auf eine Untersuchung durch den Astronomen Robert Russell Newton, der zufolge für die Spätantike nur vereinzelte exakt rückrechenbaren Finsternisberichte existieren [17]. Um Übereinstimmung der Rückrechnung mit der von Theon von Alexandria berichteten Sonnenfinsternis zu erreichen, musste Stephenson eine empirische Korrektur des zeitlichen Verlaufs der Erdrotationsverzögerung vornehmen [18], deren Ungültigkeit W. Dalmau schon 1993 nachweisen konnte [19].
Illig spricht nach seiner „Rückweisung“ von Franz Krojers „Präzision der Präzession“[20] zusammenfassend vom „Scheitern der Archäoastronomie“. Dabei wird nicht in Frage gestellt, dass astronomische Ereignisse exakt berechenbar seien, sondern lediglich, dass zur exakten Zuordnung zu schriftlich überlieferten Ereignissen notwendige Daten fehlten. So hätte man zum Beispiel bei der häufig als Argument der Gegner angeführten Sonnenfinsternis, die der Philosoph Thales aufzeichnete, zur Einordnung nicht die exakten Lebensdaten des Beobachters. So komme Thales erst durch die exakte Rekalkulation einer Sonnenfinsternis, die zu den unbekannten Lebensdaten passen könnte, selber zu einem Datum. Hier werde kein anderweitig gesichertes Datum durch die Astronomie bestätigt, es werde vielmehr eines, das ansonsten nur grob einzuordnen wäre, erst dadurch genau fixiert.
Gegner werfen den Phantomzeit-Autoren vor, keine exakte Korrelation ihrer neuen Zeitrechnung mit den alten Überlieferungen (z. B. Mondfinsternissen) zu liefern. Sie weisen darauf hin, dass die Menschheit sich seit drei Jahrtausenden mit der Beobachtung und Dokumentation von Sonnen- und Mondfinsternissen beschäftige. Diese ereignen sich sichtbar und regelmäßig auf der gesamten Erdkugel.
Historische Geographie
Des Weiteren verweist Illig auf die Grenzverläufe der Herrschaftsstrukturen am Anfang und am Ende der „Phantomzeit“, die kaum Veränderungen aufweisen. Dies sei angesichts der großen Zahl der angeblich im Frühmittelalter geführten Kriege überraschend. So gäbe es Gemeinsamkeiten zwischen dem Frankenreich des 6./7. Jahrhunderts und dem Frankenreich des 9./10. Jahrhunderts. Auch hätten schon die Merowinger in Paris die Macht an lokale Grafen abgeben müssen. Rund 3 Jahrhunderte später wird der Graf von Paris König. Und selbst als dann Karl der Große König wird, kann er die Pariser Königsgüter nicht für sich gewinnen. An diesen Jahrhundertwenden sei jeweils die römische Verwaltung germanisiert worden, seien jeweils die rechtsrheinischen Stämme aufständisch gewesen und habe sich jeweils ein mächtiger Arnulf aus dem Osten eingemischt. Umgekehrt sind jeweils die Franken in Böhmen stark. Gegen 613 kommt es kurzfristig zur Einheit von Ost- und Westfranken. Das gleiche passiert gegen 911. Dabei ist jeweils Lothringen zwischen Ost und West umkämpft.
Beispielsweise erleidet der junge Theudebert II. (Thiudi = König) 611 eine vernichtende Niederlage gegen die Awaren, 910 Ludwig das Kind (Ludwig = Der Erhabene; hluth = berühmt, weiha = geweiht) gegen die Ungarn. Für Widukind von Corvey, einen der zuverlässigsten Zeitzeugen des 10. Jh., waren Ungarn und Awaren identisch: „Avares quos modo Ungarios vocamos“, „Ungarii qui et Avares dicuntur“. [21]
Allgemeine Geschichtskritik
Die Geschichtsschreibung aus der Zeit vor dem Jahr 1000 kritisiert Illig wie folgt: Einige Geschichtswerke seien zu früh datiert, andere seien fehlerhaft oder nachträglich manipuliert worden. Ferner habe die AD-Jahreszählung nicht vor dem Jahr 1200 begonnen und sei zunächst äußerst fehlerhaft gewesen, so dass sie keine glaubhaften Aufschlüsse über die Zeit vor der Jahrtausendwende geben könne. Weiter verweist Illig darauf, dass die vermutete Geschichtslücke nur dort entstehen kann, wo ein direkter oder indirekter Bezug zur Geschichtsschreibung ihrer europäischen Initiatoren besteht. Zudem müsse diese Lücke von 297 Jahren außerhalb Europas nicht zwangsläufig zwischen 614 und 911 existieren, auch wenn dort am ehesten zu suchen sei.
An der modernen Geschichtswissenschaft bemängelt Illig, dass sie an einer Chronologie festhalte, die mehr Hypothesen erfordere als seine eigene Chronologie. Als Beispiele von Variablen, mit denen er eine Konstruiertheit aufzeigen will, nennt er:
- die archäologische Fundhäufigkeit
- die auflaufende Abweichung des julianischen Kalenders
- die Korrelation zwischen Eichenwuchs und Radiocarbonmethode
- die Entwicklung der Schriftlichkeit, des Handels, des Bauwesens usw.
Dies verstoße gegen das Sparsamkeitsprinzip in der Wissenschaft. Den Vertretern der Geschichtswissenschaft wirft Illig daher vor, sich der Überprüfung ihrer bisherigen Methoden, Voraussetzungen und Ergebnisse zu entziehen.
Für die Geschichtswissenschaft aber gilt, dass historische Erkenntnis immer nur auf dem Weg der Synthese und Interpretation der Quellen und Überreste erfolgen kann. Wenn die Überlieferung lückenhaft ist, können nicht alle Fragen eindeutig beantwortet werden. Unschärfen und Widersprüche liegen daher in der Natur der Geschichtswissenschaft und begründen als solche keine radikalen Umdeutungen in der Art, wie Illig sie vorschlägt. Außerdem können Illig methodische Unzulänglichkeiten in seiner Arbeitsweise nachgewiesen werden.[22]
Zerwürfnis innerhalb der Chronologiekritiker
Im deutschsprachigen Raum kam es aus sachlichen wie auch aus persönlichen Gründen zu einem schweren Zerwürfnis zwischen Heribert Illig, dem Verfechter der Phantomzeit-These vom „Erfundenen Mittelalter“, und seinen Anhängern (z. B. Günter LeLarge, der auch die Webseite von Illigs Mantis-Verlag und seiner chronologiekritischen Zeitschrift Zeitensprünge auf seiner Domain lelarge.de beherbergt) auf der einen Seite, und einigen anderen prominenten Vertretern der Chronologiekritik wie z. B. Uwe Topper, Christoph Pfister und Eugen Gabowitsch auf der anderen Seite. Auslöser waren Plagiatsvorwürfe von Illig gegenüber Topper. Manchen ging Illigs These vom „Erfundenen Mittelalter“ auch nicht weit genug [23], während andere sich an dessen Führungsstil der Zeitschrift „Zeitensprünge“ störten und Illig u. a. Meinungszensur, Plagiathysterie und Selbstverliebtheit vorwarfen [24].
Romane
Inzwischen schlägt sich Illigs These auch in einigen historischen Romanen nieder. 2005 etwa ließ Kathrin Lange in „Jägerin der Zeit“ (Kindler) eine kirchliche Geheimorganisation zur Zeit von Otto III. die 300 Jahre fälschen, um eine Reliquienfälschung zu verdecken (vgl. Verschwörungstheorie), und Werner Thiels „Schwert aus Pergament“ (erschienen in Illigs „Mantis“-Verlag) beschäftigt sich mit der „Erfindung“ des Bischofs Liudger, der 805 das Bistum Münster gründete. Auch Richard Dübells „Der Jahrtausendkaiser“ nimmt die These der erfundenen Jahrhunderte auf.
Siehe auch
- Die „Neue Chronologie“ von Anatoli Timofejewitsch Fomenko
- „Die Offenbarung Johannis – Eine astronomisch-historische Untersuchung“ von Nikolai Alexandrowitsch Morosow
- Chronologiekritik
Literatur
- Heribert Illig: Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte. Ullstein, Berlin 2005, ISBN 3-548-36429-2
- Heribert Illig, Gerhard Anwander: Bayern und die Phantomzeit. Archäologie widerlegt Urkunden des frühen Mittelalters; eine systematische Studie. Mantis-Verlag, Gräfelfing 2000, ISBN 3-928852-21-3 (2 Bde.)
- Heribert Illig: Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden. Econ-Verlag, München 2001, ISBN 3-548-75064-8
- Heribert Illig: Zum städtischen Zeitverlust im frühen Mittelalter, in: Katzinger, Willibald (Hrsg.) Zeitbegriff, Zeitmessung und Zeitverständnis im städtischen Kontext, Linz 2002
- Walter Klier „Über Phantomzeiten“ in taz, Nr. 5749 vom 30.1.1999, Seite 13 »Kultur« (online)
- Franz Krojer: Die Präzision der Präzession. Illigs mittelalterliche Phantomzeit aus astronomischer Sicht. Differenz-Verlag, München 2003, ISBN 3-00-009853-4
- Stephan Matthiesen: Wurde das Mittelalter erfunden?, in: Skeptiker, 2/2001 (online)
- Diethard Sawicki: Lügenkaiser Karl der Große?, Ein kritischer Blick auf Heribert Illigs These vom erfundenen Mittelalter, in: Bendikowski, Tilmann u.a., Geschichtslügen. Vom Lügen und Fälschen im Umgang mit der Vergangenheit, Münster 2001
- Rudolf Schieffer: Ein Mittelalter ohne Karl den Großen, oder: Die Antworten sind jetzt einfach, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU), 48/1997
- Gerard Serrade: Leere Zeiten – oder: Das abstrakte Geschichtsbild. Logos, Berlin 1998, ISBN 3-89722-016-4.
- Uwe Topper: Erfundene Geschichte. Unsere Zeitrechnung ist falsch; leben wir im Jahr 1702?. Herbig, München 2002, ISBN 3-7766-2085-4
Weblinks
Von Befürwortern der Theorie
- „30 Fragen und Antworten zur Fantomzeittheorie“
- „Was bleibt vom Mittelalter“
- Byzantinisches Reliquiar erzwingt Phantomzeit
Von Gegnern der Theorie
- „Ist Karl der Große, sind 300 Jahre im Mittelalter bloß erfunden?“
- „Einige Anmerkungen zur 'Illigschen Lücke'“
- "Astronomische Untersuchung zur Widerlegung der(?) Chronologierevision"
Anmerkungen und Belege
- ↑ Text der Inter Gravissimas mit deutscher Übersetzung
- ↑ Arno Borst: Die karolingische Kalenderreform (1998)
- ↑ Heribert Illig: Wer hat an der Uhr gedreht?, Wie 300 Jahre Mittelalter erfunden wurden, München 2001, S. 234
- ↑ Heribert Illig, Gerhard Anwander: Bayern und die Phantomzeit. Archäologie widerlegt Urkunden des frühen Mittelalters; eine systematische Studie. Mantis-Verlag, Gräfelfing 2000, ISBN 3-928852-21-3 (2 Bde.)
- ↑ Ernst Hollstein: Mitteleuropäische Eichenchronologie, 1980
- ↑ Sonett C.P.: The radiocarbon record: Variations in time (in Radiocarbon After Four Decades: An Interdisciplinary Perspective / R. E. Taylor ... eds.) - New York; Heidelberg: Springer, 1992, p 56-59
- ↑ Christian Blöss, Hans-Ulrich Niemitz: C14-Crash. Das Ende der Illusion, mit Radiokarbonmethode und Dendochronologie datieren zu können. ITW-Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-934378-52-8 (online-Version als pdf-Datei)
- ↑ Amalie Fößel: Karl der Fiktive?, in: Damals, Magazin für Geschichte und Kultur, 8/99, S. 20f.
- ↑ Alfred Haverkamp: Perspektiven deutscher Geschichte während des Mittelalters, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 1, S. 113; A. Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: HZ 240, 1985, S. 529-570
- ↑ Max Kerner: Karl der Große, Ein Mythos wird entschlüsselt, Düsseldorf 2004, S. 13 (dort auch weitere Belege)
- ↑ dazu siehe z.Bsp.:Sabine Leih: Neue Holzfunde aus dem Hafen der Colonia Ulpia Traiana,in: Landschaftsverband Rheinland (Hg.), Tatort CUT, Die Spur führt nach Xanten, Köln 1995, S. 18ff
- ↑ Matthias Müller-Götz: Illigs 24 Anachronismen der Aachener Pfalzkapelle – eine kritische Zurückweisung. (online)
- ↑ Dieter Herrmann: Nochmals: Gab es eine Phantomzeit in unserer Geschichte? in: Beiträge zur Astronomiegeschichte 3, 2000, S. 211-214.
- ↑ Sonnenfinsternis vom 19. Juli 418 und Sonnenfinsternis vom 23. Dezember 447.
- ↑ Robert Russell Newton: The Crime of Claudius Ptolemy, Baltimore/London 1977
- ↑ a b Robert R. Newton: Two uses of ancient astronomy in F. R. Hodson (Hrsg.): The Place of Astronomy In The Ancient World. A Joint Symposium of the Royal Society and the Britisch Academy in Philosophical Transactions of the Royal Society, Vol. 276, S. 109
- ↑ Robert R. Newton: Ancient astronomical observations and the acceleration of Earth and Moon, Baltimore (1970)
- ↑ F. R. Stephenson: Historical Eclipses and Earth's Rotation; Cambridge University Press, 1997
- ↑ W. Dalmau: Bestimmung des säkularen Verhaltens der Erdrotation; Dissertation Uni Tübingen, Frankfurt, 1993, S. 117
- ↑ Franz Krojer: Die Präzision der Präzession. Illigs mittelalterliche Phantomzeit aus astronomischer Sicht. Differenz-Verlag, München 2003, ISBN 3-00-009853-4
- ↑ MGH: Hirsch, Paul: „Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei“, Hannover 1935, http://www.dmgh.de
- ↑ Max Kerner: Karl der Große, Ein Mythos wird entschleiert, Düsseldorf 2004, S. 13; Amelie Fößel, Karl der Fiktive?, in: Damals, Magazin für Geschichte und Kultur, 8/99, S. 20f.; Rudolf Schieffer: Ein Mittelalter ohne Karl den Großen, oder: Die Antworten sind jetzt einfach, in: GWU, 48/1997, S.612-616
- ↑ http://www.jesus1053.com/l2-wahl/l2-diskussion/Anti-Illig.html
- ↑ http://www.jesus1053.com/l2-wahl/l2-diskussion/heftbgs.html#3