Polnischer Korridor
Der Polnische Korridor war ein 30 bis 90 km breiter Landstreifen, der zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Ostpreußen vom deutschen Kernland abtrennte. Er bestand aus einem großen Teil der ehemaligen Provinz Westpreußen und Teilen der ebenfalls abgetretenen Provinz Posen und entsprach gemeinsam mit dem Territorium der Freien Stadt Danzig etwa der historischen Landschaft Pomerellen. Die Bildung des polnischen Korridors wurde nach dem Ersten Weltkrieg am 28. Juni 1919 mit der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles beschlossen. Die Übernahme der Gebiete durch Polen fand mit Inkrafttreten des Vertrags am 20. Januar 1920 statt.

Geschichte

Vor der Abtrennung vom Deutschen Reich
Das spätere Gebiet des polnischen Korridors gehörte seit der Gründung des polnischen Staates durch Mieszko I. im zehnten Jahrhundert zu Polen, wurde aber 1308/09 vom Deutschen Orden erobert. Mit dem zweiten Thorner Frieden kehrte Pomerellen unter polnische Oberhoheit zurück, bis das spätere Gebiet des Korridors 1772 mit der ersten polnischen Teilung an Preußen fiel, wo es Teil der Provinz Westpreußen wurde. Traditionell war das Gebiet ethnisch gemischt besiedelt: Hier wohnten Deutschen Polen, Kaschuben und auch eine recht starke jüdische Minderheit.
Gründe für die Abtrennung vom Deutschen Reich
Nach dem 14-Punkte-Programm, in denen der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 die Kriegsziele der USA zusammengefasst hatte, sollte ein unabhängiger polnischer Staat mit einem Zugang zum Meer errichtet werden. Mit diesem Entschluss sollte das nach 123 Jahren der Fremdherrschaft neu entstehende Polen ökonomisch lebensfähig gemacht werden, was zweifelhaft war, wenn es ein Binnenstaaten geworden wäre. Dieses Ziel widersprach aber dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Wilson seinen 14 Punkten zugrunde gelegt hatte, denn die Bevölkerung der Ostseeküste war ethnisch gemischt. In der älteren deutschen Historiographie ist daraus der Mythos gemacht worden, der amerikanische Präsident sei geographisch ahnungslos gewesen und hätte sich von seinen Verhandlungspartnern, namentlich von dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau und dem polnischen Delegierten in Versailles Roman Dmowski übertölpeln lassen. Heute weiß man, dass dies nicht der Fall war: Wilsons wichtigstes Ziel war die Gründung eines Völkerbundes, für den er zahlreiche Kompromisse einging, immer verbunden mit der Hoffnung, die entstehenden Widersprüche und Ungerechtigkeiten würden sich im Völkerbund selbst gewaltfrei lösen lassen.[1]
Der Korridor in der Zeit der Weimarer Republik
Am 11. Juli 1920 wurden die zum Korridor gehörenden Gebiete an Polen abgetreten und bildeten die Woiwodschaft Pommern. Hierzu gehörte neben den Großstädten Graudenz und Thorn insgesamt vierzehn Landkreise. Zum Abtretungsgebiet zählte auch die Ostseeküste vom Flüsschen Piasnitz an über die Halbinsel Hela, die Putziger Wiek bis Zoppot (letzteres gehörte bereits zur Freien Stadt Danzig). Der idyllische Erholungs- und Fischerort Gdingen mit etwa 1.000 Einwohnern wurde von Polen als (poln. Gdynia) innerhalb weniger Jahre zu einer industriellen Hafenstadt mit mehr als 10.000 Einwohnern ausgebaut, zu Militärzwecken benutzt und durch eine Eisenbahnstrecke mit dem Industrierevier im ebenfalls abgetrennten polnischen Teil Oberschlesiens um Kattowitz (Katowice) verbunden. Für den Export oberschlesischer Kohle gebaut, wurde diese Bahnstrecke auch Kohlenmagistrale genannt.
Der polnische Korridor wurde in Deutschland generell als äußerst ungerecht und Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht empfunden. Die Revision der Grenzziehung, die Ostpreußen vom Reich abtrennte, war ein vorrangiges Ziel jeder Regierung der Weimarer Republik. Aus diesem Grund ging der nach Westen stets verständigungsbereite Außenminister Gustav Stresemann auch nie auf die verschiedenen polnischen Vorschläge ein, analog zu den Verträgen von Locarno ein „Ost-Locarno“ abzuschließen, mit dem die Ostgrenze des Reiches für unverletzlich erklärt und völkerrechtlich garantiert werden könnte.[2]
Innenpolitisch war der Korridor regelmäßig Gegenstand von rechtspopulistischer Propaganda. Im August 1930 verursachte etwa der ehemalige Reichsminister für die besetzten Gebiete im ersten Kabinett Brüning Gottfried Treviranus (Konservative Volkspartei) eine internationale Krise, als er während einer Wahlkampfrede von der „ungeheilten Wunde in der Ostflanke, diesem verkümmerten Lungenflügel des Reiches“ sprach und prophezeite, Polens Zukunft sei ohne Änderung der Grenzen nicht sicher, was im Nachbarland als Kriegsdrohung verstanden wurde.
Der Korridor in der Zeit des Nationalsozialismus
Erst nach Machtübernahme der Nationalsozialisten entspannte sich die Situation scheinbar mit dem Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes von 1934. Insgeheim wurde jedoch die Möglichkeit, den Korridor durch Krieg zurückzugewinnen, durch die nationalsozialistische Reichsregierung weiter verfolgt, wie etwa die Hoßbach-Niederschrift zeigt.
Erst nach dem Münchener Abkommen unternahm Hitler Ende 1938 einen neuen Anlauf zu einer Lösung der Frage des Korridors und Danzigs im deutschen Sinne. Unter anderem forderte Deutschland nun die Rückgängigmachung der Grenzziehung des Versailler Vertrages und – aufgrund der Übergriffe gegen die deutsche Minderheit in diesem Gebiet – eine Regelung der Rechte der dortigen Minderheiten. Es forderte eine Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit der Gebiete und machte den Vorschlag, dem in dieser Volksabstimmung unterlegenen Staat als Ausgleich eine exterritoriale Autobahn durch den Korridor zu gewähren.[3] Seit dem Sommer 1939 eskalierten die Spannungen zwischen beiden Ländern. Der Streit um den Korridor war die Kulisse für den vorgetäuschten Überfall auf den Sender Gleiwitz am 31. August 1939. Der darauf folgende Angriff auf die Westerplatte bei Danzig mit den darauf folgenden Kriegserklärungen Großbritanniens (aufgrund der britischen Sicherheitsgarantie an Polen vom 31. März 1939)[4] und Frankreichs an Deutschland am 3. September 1939 markieren den Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Der Zweite Weltkrieg und die Folgen
Mit dem Sieg über Polen im Herbst 1939 wurde das Gebiet des Korridors wieder an Deutschland angegliedert, um nach dessen Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945 zurück an Polen zu fallen, nunmehr unter anderem mitsamt dem südlichen Ostpreußen und Hinterpommern und unter Vertreibung fast der gesamten in diesen Gebieten ansässigen deutschen Bevölkerung. Damit hatte sich die – nunmehr geschichtliche – Problematik des Korridors zu einer den gesamten Ostteil des ehemaligen Reichsgebiets umfassenden Problematik ausgeweitet. Diese konnte aber durch mehrmalige Verzichtserklärungen deutscher Nachkriegsregierungen (DDR und Bundesrepublik Deutschland) und endgültig den Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages 1990 gelöst werden. Das Gebiet des polnischen Korridors gehört heute wieder zur Woiwodschaft Pommern.
Bevölkerungsentwicklung

Andrées Weltatlas 1880

S. Orgelbranda Encyklopedja Powszechnan, Ergänzung von 1912
1910 lebten im Gebiet des späteren polnischen Korridors knapp 990,000 Menschen. Wie viele davon Deutsche waren, ist in der Literatur umstritten. Der Historiker Helmuth Fechner gibt an, dass 64,4 % Deutsch als Muttersprache gehabt hätten, im benachbarten Regierungsbezirk Marienwerder, der mit einer Mehrheit von 92,36 % für den Verbleib beim Deutschen Reich votierte, dagegen nur 58,8 %[5] Im dtv-Lexikons zur Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert wurde 1974 geschätzt, der deutsche Bevölkerungsanteil im polnischen Korridor habe 1919 bei „mindestens 50 %“ gelegen.[6] Der amerikanische Historiker Richard Blanke kommt dagegen in seinem 1998 erschienenen Werk zu dem Ergebnis, 1910 seien die Deutschen im späteren Abtretungsgebiet mit 42,5 % in der Minderheit gewesen.[7]
Nach der Abtrennung von Deutschland 1920 und der Übergabe des Gebietes an Polen nahm der Anteil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung deutlich ab. 1939 betrug er nur noch zehn Prozent. Dies kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden.
Tausende Deutsche verließen das Gebiet schon im letzten halben Jahr vor der Abtretung an Polen, als die Beschlüsse des Versailler Vertrages bereits bekannt, jedoch noch nicht in Kraft getreten waren.[8] Gründe waren emotionale Faktoren, wie der Verlust der zuvor eingenommenen privilegierten Stellung, die Abneigung, sich in einen polnischen Staat einzufügen, die „spürbar hasserfüllte Atmosphäre“ sowie die von vielen mit einer gewissen Berechtigung erwarteten „antideutschen Verwaltungs- und Neuordnungsmaßnahmen des polnischen Staates und seiner Behörden“. Der spätere polnische Bildungsminister Stanislaw Grabski hatte zum Beispiel im Oktober 1919 in Posen erklärt: "Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es nicht anderswo besser aufgehoben ist."[9].
Weitere Zehntausende Deutsche verließen das Gebiet nach dem Anschluss an Polen aufgrund repressiver Maßnahmen des polnischen Staates: Im Gegenzug zu vorangegangener Diskriminierung und Germanisierungsversuchen der polnischen Bevölkerung im und durch den preußischen Staat bemühte sich die polnische Regierung, die Deutschen zu verdrängen, die nun eine Minderheit im polnischen Staat darstellten. Viele Deutsche wurden ausgewiesen, insbesondere Militärangehörige und Beamte, die als Repräsentanten der vorangegangenen Unterdrückung galten[10]. Dasselbe galt für alle Deutschen, die ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit behalten wollten (die so genannten „Optanten“) Sie wurden 1925 als illegale Ausländer des Landes verwiesen.[11]. Dabei kam es auch zu Enteignungen und Zwangsräumungen. Einige der prinzipiell garantierten deutschen Schulen wurden geschlossen.[12] [13] [14] Auf Grund Antisemitismus, der insbesondere nach dem polnisch-sowjetischen Krieg in allen polnische Gesellschaftsschichten manifest wurde, emigrierten in der Zwischenkriegszeit auch viele Juden aus dem Korridor nach Deutschland.[15]
Gleichzeitig wurden der Zuzug und die Ansiedlung polnischer Familien aus anderen Gebieten Polens, vor allem aber polnischer Familien aus dem Ausland, die nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens ins Land drängten, durch den polnischen Staat gefördert.Der polnische Historiker Włodzimierz Borodzej und sein deutscher Kollege Hans Lemberg kommen daher zu dem Ergebnis, dass die von der zweiten polnische Republik betriebene Deutschenpolitik („odniemczenie - Entdeutschung“) nachgerade eine Nachahmung der preußischen Polenpolitik vor 1914 war.[16]
Anteil der deutschen Bevölkerung in den Landkreisen des Polnischen Korridors | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Die Bevölkerung des polnischen Korridors betrug um 1930 etwa zwei Millionen, von denen 78 % Slawen (Polen und Kaschuben), 19 % Deutsche und 3 % Juden waren. Die deutsche und jüdische Minderheit lebte überwiegend in den Städten und stellte in der Industrie und im Gewerbe die Mehrheit der Beschäftigten in dieser Region. 94 % der Bevölkerung war römisch-katholisch. Es existierten kleine Minderheiten an Protestanten und Juden. Besonders in Toruń (Thorn) war die Bevölkerung ethnisch, sprachlich und konfessionell stark durchmischt. Dort war die deutschsprachige Bevölkerung in der Mehrheit (Deutsche, deutschsprachige Juden). Juden stellten in Zempelburg die Mehrheit.[19]
In den Jahren 1944 bis 1947 wurde die deutsche Bevölkerung aus dem ehemaligen Gebiet des polnischen Korridors vertrieben, sodass es heute fast ausschließlich polnisch und kaschubisch besiedelt ist.
Literatur
- Helmuth Fechner: Deutschland und Polen, Holzner Verlag, Würzburg 1964
- Leszek Belzyt: Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat 1815–1914. Marburg 1998, ISBN 387969267X,
- Richard Blanke: Orphans of Versailles: The Germans in Western Poland 1918-1939, University of Kentucky Press, 1993, IsSBN 0-8131-1803-4
Quellen
- ↑ Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917 – 1933 (=Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 4), Siedler Verlag, Berlin 1994, S. 195f
- ↑ Christian Holtje, DIE WEIMARER REPUBLIK UND DAS OSTLOCARNO-PROBLEM 1919-1934. Revision oder Garantie der deutschen Ostgrenze von 1919, Holzner Verlag, Würzburg 1958, passim
- ↑ Gordon Craig The Diplomats, Princeton New York 1953 sowie A.J.P.Taylor Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges, Mohn Gütersloh 1962
- ↑ Sidney Aster: The Making of the Second WorldWar, London 1973
- ↑ Helmuth Fechner Deutschland und Polen, Würzburg, Holzner 1964
- ↑ dtv-Lexikon zur Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Carola Stern, Thilo Vogelsang, Erhard Klöss und Albert Graff, dtv-Verlag, München 1974. S. 647
- ↑ Richard Blanke, Orphans of Versailles. The Germans in Western Poland 1918 – 1939, University Press of Kentucky 1998, S. 244
- ↑ "Historia Wąbrzeźna - Tom 1 (dt. Geschichte der Stadt Wąbrzeźno - Band 1)", herausgegeben vom Gemeindeamt in Wąbrzeźno, 2005. ISBN 83-87605-85-9, S. 179ff
- ↑ Thomas Kees, "Polnische Greuel." Der Propagandafeldzug des Dritten Reiches gegen Polen. Diplomarbeit Universität Saarbrücken, 1994, S. 14
- ↑ God’s Playground. A History of Poland. Bd. 2: 1795 to the Present, Oxford University Press, Oxford 2005, Seitenzahl fehlt
- ↑ dtv-Lexikon zur Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Carola Stern, Thilo Vogelsang, Erhard Klöss und Albert Graff, dtv-Verlag, München 1974. S. 647
- ↑ Gotthold Rhode Geschichte Polens, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1980, S.482
- ↑ Helmuth Fechner Deutschland und Polen, Holzner Verlag, Würzburg 1964, S.159
- ↑ Hans Roos Geschichte der polnischen Nation 1918 bis 1978 Verlag Kohlhammer, 1979, S. 134
- ↑ Włodzimierz Borodzej und Hans Lemberg, Migrationen: Arbeitswanderung, Emigration, Vertreibung, Umsiedlung, in: Deutschland und Polen im zwanzigsten Jahrhundert. Analysen - Quellen - didaktische Hinweise, hrsg. v. Ursula A. J. Becher, Włodzimierz Borodzej und Robert Maier, Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2001, S. 53f
- ↑ Włodzimierz Borodzej und Hans Lemberg, Migrationen: Arbeitswanderung, Emigration, Vertreibung, Umsiedlung, in: Deutschland und Polen im zwanzigsten Jahrhundert. Analysen - Quellen - didaktische Hinweise, hrsg. v. Ursula A. J. Becher, Włodzimierz Borodzej und Robert Maier, Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2001, S. 53f
- ↑ Richard Blanke, Orphans of Versailles: The Germans in Western Poland 1918–1939, University of Kentucky Press, 1993, ISBN 0-8131-1803-4, Seite 244: Appendix B. German Population of Western Poland by Province and Country [1]
- ↑ Richard Blanke, Orphans of Versailles: The Germans in Western Poland 1918–1939, University of Kentucky Press, 1993, ISBN 0-8131-1803-4, Seite 244: Appendix B. German Population of Western Poland by Province and Country [2]
- ↑ Olczak Elzbieta, Atlas historii Polski: mapy i komentarze, Demart, 2004, ISBN 83-89239-89-2