Chronologien der altorientalischen Geschichtsschreibung
Bei den Chronologien der Altorientalischen Geschichtsschreibung handelt es sich um Zeitraster, die es ermöglichen sollen, Ereignisse der altorientalischen Geschichte vor dem Ende des 12. Jahrhundert v. Chr., die ansonsten nur relativ datierbar wären, auch absolut zu datieren.
Die in modernen westlichen Geschichtsbüchern verwendeten Jahreszahlen beziehen sich auf das Jahr 1. Dieses ist somit der Fixpunkt der von der heutigen Geschichtswissenschaft verwendeten Zeitrechnung, welche auch absolute Chronologie genannt wird. Die von altorientalischen Herrschern verwendeten Jahresangaben hingegen beziehen sich (im günstigsten Falle) auf den Beginn ihrer eigenen Regierungszeit. Zudem finden sich in der altorientalischen Geschichte einzelne Zeitabschnitte, aus denen uns umfangreiches schriftliches Quellenmaterial vorliegt, die jedoch in längere Abschnitte relativer Quellenarmut eingebettet sind. Letztere stellen uns vor beträchtliche Probleme sowohl hinsichtlich ihrer eigenen Datierung als auch hinsichtlich der Datierung der ihnen vorangegangenen Phasen. Die Dendrochronologie leistet uns hierbei auf Grund der Seltenheit nutzbaren Materials und die 14C-Datierung auf Grund der für historische Maßstäbe zu geringen Messgenauigkeit nur sehr unzureichende Dienste.
Sämtliche Datierungen historischer Ereignisse von der frühdynastischen Zeit Sumers bis zum Ende des 12. Jahrhunderts v. Chr. (auch diejenigen, die sich auf astronomische Daten stützen) beruhen daher auf Schätzungen mittels allgemeiner historischer Erwägungen. Andererseits ist es zuweilen auch für diesen Zeitraum möglich, lückenlose Chronologien einzelner Zeitinseln zu rekonstruieren. Hierfür stehen dem Historiker verschiedene Arten von Quellen zur Verfügung, wie beispielsweise Berichte über Ereignisse, die sich über mehrere Jahre erstreckten, Eponymen- und Königslisten oder Angaben von Regierungsjahren. Die zeitliche Lage dieser Inseln zueinander kann jedoch nur relativ angegeben werden. Das heißt, dass sich von einer bestimmten Zeitinsel sagen lässt, dass sie einer bestimmten anderen Zeitinsel vorangeht oder folgt, aber nicht, wie viele Jahre zwischen beiden liegen.
Im Idealfall soll die Verknüpfung solcher Zeitinseln mittels Synchronismen eine ununterbrochene Folge von den jüngsten bis zu den frühesten Epochen ergeben. So ist es gelungen, Komplexe von historischen Ereignissen, die bis in das 12. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen, so miteinander zu verbinden, dass sie an die absolute Chronologie anschließen. Zudem sind Abfolge und Regierungszeit der Könige der ersten Dynastie von Larsa und der ersten Dynastie von Babylon so gut bekannt, dass wir damit einen in sich konsistent zusammenhängenden zeitlichen Komplex von immerhin etwas mehr 400 Jahren erhalten. Zwischen dem Ende des letzten Herrschers der ersten Babylon-Dynastie Schamschu-ditana und dem späten 12. Jahrhundert klafft jedoch eine Lücke unbekannter Länge.
Es gibt aber eine Quelle, laut der eine bestimmte Konstellation der Venus, die gemäß moderner astronomischer Berechnungen alle 64 Jahre auftritt, im 8. Jahr des Ammi-şaduqa von Babylon zu beobachten gewesen sein soll. Aufgrund verschiedener Erwägungen wurden die Jahre 1702, 1638 und 1574 v. Chr. als die wahrscheinlichsten Kandidaten für das Jahr dieser Himmelsbeobachtung angenommen. Auf die Annahme von 1702 stützt sich die lange, auf die Annahme von 1638 die mittlere und auf die Annahme von 1574 die kurze Chronologie. Im Folgenden werden drei wichtige Eckdaten dieser zeitlichen Insel in allen drei Chronologien vorgestellt:
Ereignis | Lange Chronologie | Mittlere Chronologie | Kurze Chronologie |
---|---|---|---|
Gungunum von Larsa erobert Ur | 1988 v. Chr. | 1924 v. Chr. | 1860 v. Chr. |
Rim-Sin von Larsa wird durch Hammurabi von Babylon entmachtet | 1827 v. Chr. | 1763 v. Chr. | 1699 v. Chr. |
Der Hethiterkönig Muršili I. überfällt Babylon | 1658 v. Chr. | 1594 v. Chr. | 1530 v. Chr. |
Es versteht sich von selbst, dass die Daten vor und nach diesem zeitlichen Block sinnvoll an die gewählte Chronologie angepasst werden müssen und dass verschiedene Historiker dabei zu unterschiedlichen Auffassungen gelangen können. Darüber hinaus variieren mangels hinreichend konkreter Synchronismen viele Daten auch innerhalb dieses Zeitblocks von Autor zu Autor.
Die lange Chronologie wird nur noch selten verwendet, während die kurze bis in die jüngste Zeit Anhänger hat. Obwohl die Authentizität der Venusbeobachtungsdaten mittlerweile angezweifelt wird, wird die mittlere Chronologie aufgrund von Synchronismen zur ägyptischen Geschichte und Befunden anderer Datierungsmethoden sehr häufig als Zeitraster für Datierungen herangezogen. Sie dient nicht nur der Datierung im engeren Sinne, sondern auch als Konvention zur Verständigung über altorientalische historische Prozesse.
Literatur
- Barthel Hrouda (Hrsg.): Methoden der Archäologie. Eine Einführung in ihre naturwissenschaftlichen Techniken. Beck, München 1978. ISBN 3-406-06699-2
- Paul Åström (Hrsg.): High, Middle or Low? Acts of an International Colloquium on Absolute Chronology. Göteborg 1987. ISBN 91-86098-64-0
- Hans Jörg Nissen: Geschichte Altvorderasiens. Ouldenburg, München 1999. ISBN 3-486-56374-2
- Erich Ebeling, Bruno Meissner u. a. (Hrsg.): Reallexikon der Assyriologie (und vorderasiatischen Archäologie). Berlin, Leipzig 1932-2005 (bisher 10 Bde.)
- V.G. Gurzadyan: On the Astronomical Records and Babylonian Chronology.