Gefahr im Verzug
Gefahr im Verzug (GiV) ist ein Begriff aus dem deutschen Verfahrensrecht (lat. periculum in mora „Gefahr bei Verzug/Verzögerung“). Sie ist ein Unterfall einer gesetzlich geregelten Eilzuständigkeit, bei dem ein Zuwarten auf eine Entscheidung der zuständigen Behörde oder des zuständigen Gerichts nicht oder nicht rechtzeitig möglich ist. GiV stellt eine Prognoseentscheidung, in einem Fall der Dringlichkeit dar.
In einem ihrer Hauptanwendungsgebiete, dem Strafverfahrensrecht, ist GiV ein Instrument, um zeitnah Ermittlungen anzustellen, Maßnahmen zu treffen oder Festnahmen zu tätigen. Regelungen welche ein Eingreifen bei GiV ermöglichen, finden sich aber auch in anderen Rechtsbereichen, wie dem Polizeirecht oder dem Abgabenrecht.
GiV im Bereich des Strafprozessrechts
Im Falle des GiV können bestimmte Maßnahmen ohne den grundsätzlich vorgeschriebenen Richtervorbehalt durch die Staatsanwaltschaft oder ihre Ermittlungspersonen angeordnet werden. Teilweise wird auch für die Durchführung einer Maßnahme die Eigenschaft als Ermittlungsperson gefordert.
GiV ist gegeben, wenn die Einholung eines vorherigen richterlichen Beschlusses den Ermittlungserfolg ganz oder teilweise vereiteln oder gefährden würde. Somit sind z. B. Anordnungen zur Wohnungsdurchsuchung durch den o. g. Personenkreis auch ohne richterlichen Beschluss möglich.
Regelungen zur GiV sind in der Strafprozessordnung (StPO) normiert.
GiV ist u. a. relevant bei
- körperlichen Untersuchungen bei Beschuldigten (§ 81a ff. StPO)
- einer körperlichen Untersuchung bei Zeugen (§ 81c StPO)
- Beschlagnahmen als Unterfall der Sicherstellung (§§ 94, 98 ff. StPO)
- Durchsuchungen (§ 102 ff. StPO)
Beispiel: Eine Person gibt zu, mit Rauschgift zu handeln. Seine Freundin (die einen Wohnungsschlüssel für seine Wohnung hat) bekommt dies mit, kann aber nicht festgehalten werden. Daher besteht die Gefahr, dass die Freundin lange vor der Einholung eines Durchsuchungsbeschlusses Beweismittel aus seiner Wohnung entfernt. Hier liegt also eine Gefahr im Verzug vor.
Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2001 wird der Begriff der GiV im Bereich von Wohnungsdurchsuchungen sehr eng ausgelegt und muss einer jeweiligen Einzelfallprüfung standhalten. Die richterliche Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung soll demnach die Regel, die nichtrichterliche die Ausnahme sein. GiV muss mit Tatsachen begründet werden, die auf den Einzelfall bezogen sind. Reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrung gestützte, fallunabhängige Vermutungen reichen für die Prognose der GiV nicht aus.
Gerichte und Strafverfolgungsbehörden haben nach dieser Entscheidung im Rahmen des Möglichen tatsächliche und rechtliche Vorkehrungen zu treffen, damit die in der Verfassung vorgesehene Regelzuständigkeit des Richters auch in der Masse der Alltagsfälle gewahrt bleibt (Aushöhlung).
Historisch
Der ursprünglich lateinische Ausdrucks periculum in mora bedeutet „Gefahr bei Verzögerung“ und charakterisiert einen unmittelbaren Handlungsbedarf.
Mit der Formel Periculum in mora – dépèchez-vous! („Gefahr bei Zögern! Beeilen Sie sich!“) alarmierte am 18. September 1862 Roon in einem berühmt gewordenen Telegramm den preußischen Botschafter in Frankreich, Bismarck, schleunigst aus Paris nach Berlin zurückzukehren. Dieser folgte sofort und wurde preußischer Ministerpräsident – der Beginn seiner Karriere als Staatslenker.
Gefahrenbegriffe
- Gefahr: Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn durch die Sachlage des einzelnen Falles eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird.
- Gegenwärtige Gefahr: Eine Gefahr, bei der das schädigende Ereignis bereits begonnen hat oder unmittelbar bzw. in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht.
- Erhebliche Gefahr: Eine Gefahr, die eines oder meherere bedeutsame Rechtsgüter, wie Leben, Gesundheit, Freiheit, wesentliche Vermögenswerte oder den Bestand des Staates bedroht.
- Gefahr für Leib oder Leben: Eine Gefahr, bei der eine nicht nur leichte Körperverletzung oder der Tod einzutreten droht.
- Gefahr im Verzuge: Eine Sachlage, bei der ein Schaden eintreten würde, wenn nicht an Stelle der zuständigen Behörde oder Person eine andere Behörde oder Person tätig wird.
Beispiel der Verwendung
Das Aufbrechen einer Tür, hinter der man Gasgeruch wahrnimmt, fällt hingegen nicht unter den Begriff GiV, denn das Handeln könnte aufgrund einer konkreten Gefahr notwendig sein (siehe Gefahrenbegriffe).
Eine Wohnungsdurchsuchung z.B., darf nur der Richter anordnen. Vernichtet der Täter jedoch bereits Beweismittel, so würden möglicherweise alle Beweismittel vernichtet werden, bis eine richterliche Durchsuchungsanordnung vorliegt. Aufgrund der gegebenen Dringlichkeit spricht man hier dann von Gefahr im Verzug.
Sicherheitspolizeiliche Verwendung (Österreich)
Eine Amtshandlung kann zu einem späteren Zeitpunkt nicht mit dem gleichen Erfolg durchgeführt werden.
Literatur
- Frank Zieschang: Der Gefahrbegriff im Recht: Einheitlichkeit oder Vielgestaltigkeit? In: Goltdammer's Archiv für Strafrecht (GA), 153. Jg., 2006, S. 1-10.