Glottochronologie
Glottochronologie (v. att.-griech. γλῶττα „Zunge“ und χρóνος „Zeit“) ist das Teilgebiet der Lexikostatistik, das sich mit zeitlichen Beziehungen zwischen Sprachen befasst. Im Besonderen beanspruchen die Verfechter der Methode, zwischen als verwandt angesehenen Sprachen deren Alter berechnen zu können. Dies beruht auf der Annahme, dass ein kleiner, relativ kulturunabhängiger und stabiler Teil des Wortschatzes sich in einem festgelegten Zeitraum mit einer konstanten Verfallsrate verändern soll.
Ursprung
Als in den 1950er Jahren die Gesetze des radioaktiven Zerfalls allgemein bekannt wurden, meinte der amerikanische Sprachwissenschaftler Morris Swadesh, diese naturwissenschaftlichen Vorgänge auf die menschliche Sprache übertragen zu können. Entsprechend entwarf er Wortlisten, die möglichst kulturunabhängig sein sollten, um Sprachen mit verschiedenen Kulturhintergründen vergleichen zu können. Er nannte diese Listen basic word lists, die jedoch schon bald Swadesh-Listen genannt wurden.
Die Listen sollten darüber hinaus einen möglichst stabilen Wortschatz repräsentieren, um auch zwischen entfernter verwandten Sprachen noch ausreichende Gemeinsamkeiten zu erhalten.
„Die“ Swadesh-Liste gibt es übrigens nicht, da Swadesh sie mehrfach umgearbeitet hat: beginnend mit 200, erweitert auf 215, letztlich reduziert auf 100 (letzte – post mortem veröffentlichte 1972). Dazu gibt es über ein Dutzend Entwürfe von anderen Seiten (s. Holm 2005). Swadesh testete dann an Sprachen mit einer langen Geschichte, z. B. Alt-Ägyptisch, die Änderungen über die Zeit und gab diese Daten in die Formel des radioaktiven Zerfalls ein.
Entwicklung
Swadeshs Ansatz begegnete bald scharfer Kritik. K. Bergsland und H. Vogt [1] wiesen schon 1962 nach, dass die Annahme konstanter Ersetzungsraten nicht haltbar ist. J. Tischler [2] fand, dass sich für die indogermanischen Sprachen irreale Trennungsdaten ergaben.
Verfechter der G. sahen den Hauptgrund für Fehler in nicht erkannten Entlehnungen. Dieses Problems nahm sich v.a. die Linguistin Sheila Embleton an [3] an. Ein bekannter Verfechter der Glottochronologie mit linguistischem Hintergrund war der kürzlich verstorbene Sergej Starostin, der in seine Wortliste (vorübergehend) Phrasen einbezog. Er zielte v.a. darauf ab, zunächst Entlehnungen von außen zu entfernen, und nur die "wirklich wichtigen" internen Neuerungen in die Berechnung einzubeziehen. Er hat allerdings seinen Schwerpunkt auf die Dene-Kaukasische Hypothese gelegt, wo zeitliche Referenzen problematisch sind.
Einen ausführlichen und relativ neutralen Überblick über die Forschungsgeschichte gibt Sh. Embleton (2000) [4]. Obwohl sich die Veranstalter der Tagung, der diese Quelle entstammt, um ausgewogene Stellungnahmen bemühten, fand sich weder dort noch sonst ein ordentlicher Professor der Indogermanistik oder der vergleichenden Sprachwissenschaft als Befürworter der Glottochronologie.
In derselben Tradition steckenbleibend, bemüht sich Václav Blažek (2007) [5] um Korrekturen der bereits von Starostin modifizierten Formel.
Kritik
0. Kritik allein gegen die Stabilität der Lexeme ( e.g. Haarmann 1990) in den Swadesh-Listen trifft ins Leere, da ein gewisser Wandel die Berechnungen ja gerade erst ermöglicht.
1. Zunächst (s.o.) entzündete sich die Kritik an den zeitlichen Ergebnissen; dies gilt weiterhin, wenn auch zufallsbedingt immer wieder ungefähr zutreffende Zeiten herauskommen, die dann als Beweise hingestellt werden. Notfalls werden die Raten "hingebogen", z.B. hat Starostin die von Swadesh ermittelte Rate von 14 % für die Indogermanischen Sprachen auf 5 % geändert[6].
2. Dagegen stellen folgende Tatsachen die völlig akausale Glottochronologie in den Bereich der science fiction [7].
2.1. Sprachlicher Wandel basiert im Gegensatz zur Annahme der 'Glottochroniker' nicht auf der Wirkung eines perpetuum mobile, sondern hat handfeste, meist nachvollziehbare sozio-historische Gründe, die unvorhersehbar und unberechenbar sind. Diese Feststellung bleibt wahr, auch wenn die Auswirkungen im sog. Basiswortschatz geringer als im Rest auftreten (die sog. Zipf-Verteilung). Über die Feststellungen von Bergsland & Vogt hinaus lassen sich für den sprach-historisch und völkerkundlich Bewanderten leicht weitere Gegenbeispiele mit sozio-historischen Gründen finden:
- So gibt es z.B. Sprachen, die lange Zeit wenig von außen beeinflusst wurden. Gründe hierfür sind etwa isolierte Lage (sog. „konservative Saumlagen“, z.B. isländisch) oder kulturelles Selbstbewusstsein (griechisch in der Romania gegenüber vielen anderen erhalten! Oder Hebräisch trotz Diaspora).
- In kurzer Zeit ausgestorben sind dagegen z.B.: die hethitische Sprache nach 1200 v.Chr., die Sprache vieler sog. Pygmäenstämme wegen stärkerer Außenbindung und wirtschaftlicher Abhängigkeit von benachbarten Bantustämmen; die Sprache der Veddas (Wedda) in Sri Lanka, die das Indische übernommen haben; das Gallische nach der Unterwerfung durch Caesar im heutigen Frankreich (bis auf wenige Reste), und viele, viele andere, alles völlig unabhängig von irgendeiner „Rate“.
- Dazwischen kennt der Sprachwissenschaftler noch eine unendliche Zahl von Zwischenstufen, sog. Pidgin- und Kreolsprachen, nicht nur heute Folge von Kolonisation und Deportation.
2.2. In vielen, wenn nicht den meisten Fällen des von Glottochronologen angenommenen "Sprachwandels" handelt es sich nicht um einen Wandel per Zeitraum, sondern um Substrate, die sich bei Übernahme einer neuen Standardsprache erhalten haben, aus verschiedensten Gründen: Bekannt ist z.B. das maritime Substrat der germanischen Sprachen (z.B. Mast, Kiel, Segel), also aus Bereichen, in denen die Eingesessenen eine höhere oder Vor-Kompetenz besaßen, als die zugewanderten Träger der indogermanischen Sprachen. Gleiches gilt für die Technologie des Webens.
Diese soziohistorische Abhängigkeit des Sprachwandels wurde und wird von allen führenden historisch-vergleichenden Sprachwissenschaftlern weltweit wieder und wieder betont. Viele weitere Belege dazu finden sich in Holm 2007. [8]
3. Auf der Voraussetzung einer Rate baut die zweite grundlegende Annahme der Glottochronologen auf, dass Sprachen desto näher verwandt seien, je mehr gemeinsame Erbwörter sie aufweisen. Diese auf den ersten Blick einleuchtende Ad-hoc-Annahme übersieht völlig die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen den 4 bestimmenden Parametern und konnte in Holm 2003 [9] schlagend widerlegt werden (Proportionalitätsfehler). Hier wird in allen glottochronologischen Arbeiten gegen grundlegende mathematische Regeln verstoßen, weil die stochastischen Verteilungen der benutzten Daten nicht analysiert wurden (hypergeometrische Verteilung, gedeckelte Zipf- oder Pareto-Verteilung).
4. Letztendlich halten die v.a. von Nichtlinguisten herangezogenen Swadesh-Listen, v.a. die lange Zeit frei im Internet verfügbare Dyen-list, kritischer Beurteilung nicht stand. In dieser bereits von Sh. Embleton 1995 [10] beanstandete Fehler im englischen Teil (!) wurden nie berichtigt. Ca. 12 % Fehler finden sich weiter mindestens im albanischen Teil. Die Liste wurde mittlerweile zurückgezogen.
Quellenangaben
- ↑ Bergsland, Knut & Vogt, Hans: On the validity of glottochronology. In Current Anthropology 3/1962:111-53
- ↑ Tischler, Johann: Glottochronie und Lexikostatistik=Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft, Bd. 11, a[7]:143-67.
- ↑ Sheila M. Embleton: Statistics in Historical Linguistics. Brockmeyer, Bochum 1986. ISBN 3-88339-537-4
- ↑ Embleton, Sheila: Lexicostatistics and Glottochronology: From Swadesh to Sankoff to Starostin. In Renfrew, C.; McMahon, A., & Trask, L.: TIME DEPTH IN HISTORICAL LINGUISTICS Cambridge GB, McDonald Institute for Archaeological Research, 2000. ISBN 1-902937-06-6.
- ↑ Václav Blažek:From August Schleicher to Sergej Starostin. On the development of tree-diagram models of the Indo-European languages. In The Journal of Indo-European Studies, Vol. 35-1:82-109
- ↑ V Blažek. From August Schleicher to Sergej Starostin. On the development of the tree-diagram models of the Indo-European languages. In: The Journal of Indo-European Studies 35,1-2/2007:85
- ↑ W. Euler: Körperteilbezeichnungen im Albanischen und ihre Herkunft; in Indogermanische Forschungen 90/1985: S. 104f.
- ↑ Hans J. Holm: The new Arboretum of Indo-European „Trees“; Can new algorithms reveal the Phylogeny and even Prehistory of Indo-European?; in: Journal of Quantitative Linguistics 14-2/2007; S. 1-50
- ↑ Hans J. Holm: The proportionality trap. Or: what is wrong with lexocostatistical subgrouping?; in: Indogermanische Forschungen 108/2003, S. 38–46
- ↑ Embleton, Sheila M.: Review of Dyen/Kruskal/Black: A Lexicostatistical Experiment; in: Diachronica 12-2/1995, S. 263-8
Siehe auch
Literatur
- Ambros, Arne A.: Linguistische und statistische Bewertung von lexikalischen Koinzidenzphänomenen. In: Karl-Heinz Best & Jörg Kohlhase (Hrsg.): Exakte Sprachwandelforschung. Theoretische Beiträge, statistische Analysen und Arbeitsberichte. edition herodot, Göttingen 1983, S. 21-43. ISBN 3-88694-024-1
- Arens, Hans : Die Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. 2., durchgesehene und stark erweiterte Auflage. Alber, Freiburg/München 1969, S. 471-473.
- Campbell, Lyle. (1998). Historical Linguistics; An Introduction [Chapter 6.5. Glottochronology]. Edinburgh: Edinburgh University Press. ISBN 0-7486-0775-7.
- Crowley, Terry: An introduction to historical linguistics, 3rd ed. Auckland: Oxford Univ. Press. 1998, pp. 171-193.
- Embleton, Sheila: Lexicostatistics /Glottochronology: from Swadesh to Sankoff to Starostin to future horizons. In: Renfrew C, McMahon A, And Larry Trask (Eds): TIME DEPTH IN HISTORICAL LINGUISTICS, The McDonald Institute for Archaeological Research, Cambridge, UK 2000, Vol 1 [7]: 143-167. ISBN 1-902937-06-6 (Beide Bände).
- Haarmann, Harald: Basic vocabulary and language contacts; the disillusion of glottochronology. In Indogermanische Forschungen 95/1990:7ff.
- Hoffmann, L., & R.G. Piotrowski: Beiträge zur Sprachstatistik. Verlag Enzyklopädie, Leipzig 1979, S. 162-174.
- Holm, Hans J.: Genealogische Verwandtschaft. In: Quantitative Linguistik = Handbuch Sprach- und Kommunikationswissenschaften, Bd.27, Kap. 45, Berlin: de Gruyter, 2005.
- Holm, Hans J.: The new Arboretum of Indo-European 'Trees'; Can new algorithms reveal the Phylogeny and even Prehistory of Indo-European? In: Journal of Quantitative Linguistics 14-2/2007:167-214.
- Lerchner, Gotthard : Lexikostatistik und Glottochronologie: Zur Angemessenheit eines statistischen Wahrscheinlichkeitskalküls in der Sprachgeschichtsforschung. In: Probleme der strukturellen Grammatik und Semantik. Hrsg. v. Rudolf Růžička. Karl-Marx-Universität, Leipzig 1968 (in Kommission: Niemeyer, Halle (Saale), S. 253-270.
- Swadesh, Morris : Towards greater accuracy in lexicostatistic dating. in: International Journal of American Linguistics. Univ. of Chicago Press, Chicago 21.1955, 121-137. ISSN 0020-7071
- Swadesh, Morris : The origin and diversification of language. Routledge & Kegan Paul, London 1972. ISBN 0-7100-7195-7
- Wiese, Harald: Eine Zeitreise zu den Ursprüngen unserer Sprache. Wie die Indogermanistik unsere Wörter erklärt, Logos Verlag Berlin, 2007.