Komplexe Wechselstromrechnung
Die komplexe Wechselstromrechnung wird in der Elektrotechnik angewendet, um Verhältnisse von Strom und Spannung in einem Netzwerkmodell zu bestimmen. Hierzu werden sinus- bzw. kosinusförmige Ströme bzw. Spannungen (Wechselstrom) vorausgesetzt.
Die komplexe Wechselstromrechnung geht auf Arthur Edwin Kennelly zurück.
Allgemein
Die Bestimmung des Verhältnisses von Strom zu Spannung in einem elektrischen Stromkreis ist eine der Grundaufgaben der Elektrotechnik.
Wird eine zeitlich konstante Spannung U vorgegeben und der Strom I bestimmt, so identifiziert man das Verhältnis U : I als den Widerstand R. Wird der Strom I vorgegeben und die Spannung U bestimmt, so identifiziert man das Verhältnis I : U als den Leitwert G. In der Wechselstromtechnik hat man mit zeitlich veränderlichen Spannungen und Strömen zu tun, die in diesem Fall einem sinusförmigen Verlauf folgen. Um diese Veränderlichkeit gegenüber den zeitlich fixen Größen auszudrücken, werden Momentanwerte, die sich zeitlich ändern, mit Kleinbuchstaben bezeichnet, Spannungen als kleines u und Ströme als kleines i. Deswegen wird in der Elektrotechnik j für die imaginäre Einheit verwendet, anstelle der in der Mathematik üblichen Bezeichnung i.
Als (passive) Elemente des Stromkreises können unter anderem ohmsche Widerstände, Induktivitäten oder Kapazitäten auftreten. Für diese Elemente gilt:
Ohmscher Widerstand (R): der Strom ist der Spannung proportional:
Induktivität (L): die Stromänderung ist der Spannung proportional:
Kapazität (C): die Spannungsänderung ist dem Strom proportional:
oder anders ausgedrückt:
Ist eine der vorgegebenen Größen (Spannung oder Strom) konstant, so ist die resultierende Größe nur bei rein ohmschen (im betrachteten Bereich) Stromkreisen ebenfalls konstant. Die angewendeten Verfahren der Berechnung sind dann, und nur dann, die der Gleichstromrechnung. Eine ideale Induktivität würde hier einen Kurzschluss, eine ideale Kapazität eine Unterbrechung des Stromzweiges darstellen. Das gilt natürlich nicht beim Einschalt- oder Ausschaltfall, da dann zeitweise keine konstanten Bedingungen vorliegen.
Ist die vorgegebene Größe nicht konstant, oder ist der Stromkreis nicht rein ohmsch, so ist die Strom/Spannungsbeziehung komplizierter. Kapazitäten und Induktivitäten müssten dann eigentlich über Differentialgleichungen in die Berechnung einfließen. Jedoch kann man es sich mit der Berechnung unter gewissen Umständen (Sonderfälle) einfacher machen.
Ein Sonderfall liegt beispielsweise vor, wenn die vorgegebene Größe einen sinusförmigen periodischen Verlauf hat, z. B. eine sinusförmige Spannung (siehe Wechselstrom)
oder ein sinusförmiger Strom
Dabei ist bzw. der Maximalwert, auch Amplitude oder Scheitelwert genannt, ω = 2 π f ist die Kreisfrequenz, ist die Phasenverschiebung der Wechselgröße.
Dann hat auch die sich einstellende Größe einen sinusförmigen, phasenverschobenen periodischen Verlauf, der sich allerdings in der Phasenlage und dem Amplitudenverhältnis mit der Frequenz (bzw. Periodendauer) verändert.
Die mathematische Behandlung diesbezüglicher Rechnungen erfolgt vorteilhaft unter Verwendung komplexer Zahlen, da diese die Lösung trigonometrischer Aufgaben wesentlich erleichtern.
Zeigerdiagramm
In einem Zeigerdiagramm kann eine harmonische Schwingung (Sinusschwingung) durch einen mit der Winkelgeschwindigkeit ω um den Nullpunkt rotierenden Zeiger in der komplexen Ebene dargestellt werden, dessen Länge die Amplitude repräsentiert. Der zeitliche Verlauf der Schwingung kann durch Projektion der Zeigerspitze auf die imaginäre (Sinusfunktion) oder reelle (Kosinusfunktion) Achse repräsentiert werden.
Für die imaginäre Einheit verwendet man in der Wechselstromlehre den Buchstaben j (mit j2 = - 1), um Verwechslungen mit dem Buchstaben i, der für den (zeitabhängigen) Strom verwendet wird, zu vermeiden.
Ein rotierender Zeiger für eine sinusförmige Spannung kann dargestellt werden als komplexe Spannung
Analog gilt für den komplexen Strom:
Der jeweils letzte Ausdruck stellt die sogenannte Versorschreibweise dar. Die komplexe Zahl wird dabei wie in dem Ausdruck direkt vorher in Polarkoordinaten angegeben.
Beispiel: Die Formel spricht sich: "c ist gleich a Versor Phi", wobei a der Betrag der komplexen Zahl c ist.
Die reellen Größen können als Realteil der komplexen Größen dargestellt werden:
Somit ergeben sich sowohl die komplexe Spannung, als auch der komplexe Strom aus zwei Teilen: Einerseits aus der Amplitude der Spannung bzw. des Stroms (dargestellt durch û bzw. î) und andererseits aus dem Winkel. Dieser wiederum setzt sich aus einem konstanten Teil, dem Nullphasenwinkel φ, und einem variablen Teil, der Winkelgeschwindigkeit ω multipliziert mit der Zeit t, zusammen.
Häufig werden die Amplituden (Scheitelwerte) und die Nullphasenwinkel zu den komplexen Effektivwerten
und
zusammengefasst, sodass man die komplexen Größen als
und
darstellen kann.
Ohmsches Gesetz im komplexen Bereich
Das Verhältnis der komplexen Spannung zur komplexen Stromstärke ist eine komplexe Konstante und wird als komplexer Widerstand oder Impedanz bezeichnet:
Damit gilt für das Ohmsche Gesetz im komplexen Bereich:
Ohmscher Widerstand
Stellt man den Strom als Zeiger i und die Spannung als Zeiger u dar, so sind diese am ohmschen Widerstand stets in Phase.
Der Widerstand ist dann:
Die zeitabhängigen Terme kürzen sich heraus, es bleibt also nur ein Winkel von 0 übrig. Daraus folgt, dass der komplexe Widerstand Z nur aus einem Realteil besteht, hier natürlich R.
Kondensator
Im Falle eines idealen Kondensators ist i gegenüber u um +90° in der Phase verschoben. Also:
- und
Der Widerstand ist dann
Hier wurden, wie bei einer Division im Komplexen üblich, die Winkel subtrahiert. Nun ergibt aber eine Phasenverschiebung von -90° nichts anderes als -j. Also folgt:
anders dargestellt:
Wie man unschwer erkennen kann, ergibt sich ein negativer Widerstand für den Kondensator, denn der komplexe Widerstand Z besteht hier nur aus einem negativen Imaginärteil. Also:
Der (komplexe) Widerstand eines Kondensators wird also auf der imaginären Achse in negative Richtung abgetragen. 2πf ist die Kreisfrequenz ω, sie entspricht der Winkelgeschwindigkeit des rotierenden Zeigers.
Der Formel kann man auch entnehmen, dass der Blindwiderstand des Kondensators umso kleiner wird, je höher man die Frequenz wählt.
Spule
Bei einer idealen Spule eilt der Strom der Spannung um 90° nach, also
- und
Der Widerstand ist dann
Nun ergibt aber eine Phasenverschiebung von 90° nichts anderes als j. Also folgt:
anders dargestellt:
Der komplexe Widerstand Z der Spule liegt nun, wie der Kondensator, auf der imaginären Achse. Allerdings wird er, anders als beim Kondensator, in positiver Richtung abgetragen. Das ergibt sich durch das positive j. Auch wird der Blindwiderstand der Induktivität mit steigender Frequenz immer größer, ganz im Gegensatz zum Kondensator. Diese gegensätzliche Eigenschaft lässt vermuten, dass eine Reihenschaltung aus Spule und Kondensator irgendwann einmal, bei einem bestimmten ω>0, einen Blindwiderstand gleich 0 haben kann, und genau das ist auch der Fall bei Resonanz im (idealen) Reihenschwingkreis.
Hinweise zur Berechnung
Die Wahl der vorgegebenen Größe hängt von der vorgelegten Aufgabe ab: Sind alle Bauelemente in Reihe geschaltet, so ist es zweckmäßig, den Strom vorzugeben, da man so für jedes Element, durch das derselbe Strom fließt, die angelegte Spannung bestimmen kann und dann alle Spannungen zusammenfasst. Sind jedoch alle Bauelemente parallel geschaltet, so wird man eine Spannung anlegen und den Strom durch die Elemente getrennt berechnen und dann addieren.
Ist die Schaltung eine Mischform, so ist man gezwungen, sie elementar zu zerlegen und jede Teilschaltung getrennt zu berechnen, bevor man sie wieder zusammensetzt. Ein Beispiel wird in Resonanztransformator beschrieben.
Beispiel
An einer Reihenschaltung eines Widerstands R = 150 Ω und eines Kondensators C = 10 μF = 0,00001 F liegt eine Wechselspannung mit ω = 500 s-1.
Dann ist
- und mit [F] = [A·s·V-1] = [s·Ω-1].
Da sich die Widerstandswerte bei einer Reihenschaltung addieren, ist der Gesamtwiderstand
Errata zum Bild:
Der Betrag des Gesamtwiderstandes (Betrag der Impedanz) ergibt sich nach dem Satz des Pythagoras zu
Er ist also das Verhältnis der Beträge von Spannung und Stromstärke. Für die Phasenverschiebung φ zwischen Spannung und Strom in dieser Schaltung folgt:
Damit kann man in Polarform darstellen:
Einschränkung
Es ist zu beachten, dass die komplexe Wechselstromrechnung nur für den eingeschwungenen Zustand anwendbar ist. Dies folgt unmittelbar aus der Forderung nach zeitlich sinusförmigem Verlauf aller Spannungen und Ströme in der zu untersuchenden Schaltung.
Dies bedeutet im Detail beispielsweise, dass das An- und Ausschalten durch die Methoden der komplexen Wechselstromrechnung nicht abgedeckt werden kann. Insbesondere kann die Wechselstromrechnung keine Pulse oder Pulsfolgen behandeln.
Weiter müssen auch alle Bauelemente einer Wechselstromschaltung wie Widerstände, Kondensatoren und Spulen lineare Eigenschaften zeigen. Dies trifft beispielsweise bei Spulen mit magnetischer Sättigung oder Kondensatoren, deren Dielektrizitätszahl von der elektrischen Feldstärke abhängt, nicht zu. In all diesen Fällen kann die komplexe Wechselstromrechnung daher nicht angewendet werden.