Teutonismus (Sprache)
Teutonismus werden in der germanistischen Fachliteratur neuerdings Wörter der deutschen Standardsprache genannt, die sonst als Bundesdeutsch bzw. Bundesdeutsches Hochdeutsch bezeichnet werden: Wörter, die nur innerhalb des deutschen Sprachraums der Bundesrepublik Deutschland oder in Teilen davon verwendet werden und damit als sprachliche Eigenarten den so genannten Austriazismen als österreichischen und den Helvetismen als schweizerischen Eigenarten der deutschen Sprache gegenüberstehen.
Der Begriff ist umstritten: So weist Polenz[1] darauf hin, dass der Teutonismus einerseits ein Schmähwort sei, andererseits eine begriffliche Unklarheit besitze. Pohl bezeichnet auf seiner Website den Teutonismus 2008 als unscharfen Begriff, der noch dazu bei Nicht-Fachleuten falsche Vorstellungen erwecken könnte, er sollte daher tunlichst vermieden werden (wenn er auch in der Fachliteratur vorkommt).[2]
Vor allem in der Deutschschweiz und in Österreich sind manche bundesdeutschen Wörter entweder
- völlig unbekannt oder
- signifikant seltener als in der Bundesrepublik Deutschland oder
- sie werden zwar verstanden, aber nicht aktiv gebraucht (und wenn, dann höchstens, um einer Aussage oder einem Text absichtlich ein bundesdeutsches Gepräge zu geben).
Aus welcher Sprache ein bundesdeutscher Begriff letztlich stammt (also dessen Etymologie), ist für diese Art von Fragestellung nicht von Belang. Zur passiven Bekanntheit vieler bundesdeutscher Begriffe auch über deren ursprüngliches Verbreitungsgebiet hinaus haben die modernen Massenmedien viel beigetragen.
Kritiker halten den Begriff Teutonismus für irreführend, weil er von einem einheitlichen nationalen Sprachgebiet ausgehe, in der Realität aber auch innerhalb der Staaten Deutschland, Österreich und Schweiz beträchtliche regionale Unterschiede im hochdeutschen, aktiv angewandten Vokabular bestehen. Weiters kann der Begriff sehr leicht polemisch verstanden werden.
Begriffsgeschichte
Der Ausdruck Teutonismus stammt vom lateinischen Teutoni, welcher das seit rund 2000 Jahren nicht mehr bestehende germanische Volk der Teutonen bezeichnet. Das Vorbild für die sprachwissenschaftliche Nutzung des Ausdrucks Teutonismus war der Begriff Helvetismus (siehe oben). Wesentlich für die Wortprägung scheint zu sein, dass es sich im Unterschied zum neutralen Begriff Bundesdeutsch um einen auf -ismus endenden Begriff handelt.
Der analog zu Helvetismus und Austriazismus bestehende Begriff Germanismus bezeichnet ein anderes Phänomen und ist daher schon "besetzt":
- Germanismus oder Germanizismus geht an der Tatsache vorbei, dass das Deutsche eine von vielen germanischen Sprachen ist, außerdem bezeichnet Germanismus bereits das Übernehmen einer Eigenheit der deutschen Sprache in eine andere Sprache, z. B. I remember me statt I remember (wegen: Ich erinnere mich im Deutschen), vgl. Gallizismus, Anglizismus, Nederlandismus.
Drei andere mögliche Begriffe erscheinen politisch nicht korrekt bzw. unästhetisch:
- Binnendeutsch provoziert Gegensatzbildungen wie Außendeutsch; damit wird aber das Deutsche in Deutschland auf allzu deutliche Art ins Zentrum gerückt, währenddessen die Varianten der deutschen Sprache außerhalb von Deutschland implizit zu Randerscheinungen werden.
- Das seit der Reichsgründung von 1871 aufgekommene Reichsdeutsch ist aufgrund der veränderten Staatsbezeichnung und möglichen Assoziationen zum Dritten Reich heute nicht mehr zeitgemäß.
- Die Begriffe Deutschlandismus und deutschländisches Deutsch befriedigen aus ästhetischen Gründen nicht und sind zu lang.
Forschungssituation
Die drei Begriffe Helvetismus, Austriazismus und Bundesdeutsch (Teutonismus) sind Zeichen dafür, dass die deutsche Sprache (ebenso wie auch das Englische, das Französische und das Spanische) heute als plurizentrische Sprache angesehen wird.
Da für viele Sprecher des Deutschen das in (Nord-)Deutschland gesprochene und geschriebene Deutsch lange Zeit als die deutsche Sprache schlechthin galt, bestand die Tendenz, Helvetismen und Austriazismen als Abweichung von der Norm zu betrachten. Dies zeigt sich z. B. auch in Wörterbüchern wie dem Duden, der bislang nur Austriazismen und Helvetismen als solche markiert, aber auf Deutschland beschränkte Ausdrücke nicht als solche kennzeichnet. Dadurch entsteht beim Leser die Illusion, es gäbe keine deutschen Wörter, die nur in Deutschland gebräuchlich sind.
Die erwähnte mangelnde Sensibilität hat auch Auswirkungen auf den Stand der Forschung: Zwar stehen Helvetismen und Austriazismen seit längerer Zeit im Blickfeld der Forschung, doch existierte bislang keine eigenständige, wissenschaftlich verlässliche Sammlung von bundesdeutschen Wörtern. Diese Lücke wird, was den Wortschatz betrifft, durch das 2004 erschienene Variantenwörterbuch des Deutschen gefüllt.
Andere für Deutschland charakteristische Merkmale der deutschen Sprache (Aussprache, Morphologie, Wortbildung und Syntax) sind noch genauer zu erforschen.
Regionale Verbreitung
Allein schon auf Grund der Größe Deutschlands und wegen des relativ starken Regionalbewusstseins sind viele bundesdeutsche Wörter nur in Teilen Deutschlands bekannt. (Andererseits werden viele in Österreich als Austriazismen angesehene Wörter in Teilen Deutschlands ebenfalls verwendet.)
Der seit 1871 bestehende deutsche Nationalstaat hat mit der immer weiter gehenden Vereinheitlichung des öffentlichen Lebens auch sprachlich vereinheitlichend gewirkt. Gleichzeitig gingen jedoch die Schweiz und Österreich oftmals eigene Wege. Dies betrifft nicht bloß den spezifischen Wortschatz der öffentlichen Verwaltung im engeren Sinne (Statalismen), sondern auch andere, zunehmend zentral gelenkte Teile des Lebens, so zum Beispiel alle Bereiche der Ausbildung und den öffentlichen Verkehr, neuerdings auch die Freizeit.
Bundesdeutsch (Teutonismen) im Wortschatz
Küche
- Abendbrot (A: Abendessen, Nachtmahl; CH, Vbg. + NRW: Nachtessen)[3][4][5]
- Apfelsine (Orange)
- deftig (A: kräftig, tüchtig, saftig, gehaltvoll, nahrhaft, ausgiebig, fett, scharf, (deftig verbreitet sich langsam); CH: währschaft)[6]
- Eierkuchen (A: Palatschinke, CH: Omelette)
- Frühstückspause (vor allem RP und nördlich von Bayern), Vesper (BaWü, Bayern), Brotzeit (Bayern) (A: Jause, CH + allem. : Znüni)[7]
- Feldsalat, Rapunzel (Thüringen und Sachsen), Ackersalat (Schwaben) (A: Vogerlsalat; CH: Nüssli-Salat, Nüssler)[8]
- Hörnchen (Croissant; A: Kipferl (Hörnchen als Teigware); CH: Gipfel(i))
- Kloß (Knödel)
- Korinthe (A + süddt.: Rosine, Zibebe, CH: Weinbeere)
- kross (knusprig, süddt: rösch; A + bayr.: resch)
- Mohrrübe (überwiegend nördlich von Bayern; A: Karotte (auch in W-D bekannt), Ktn. Stmk.: vereinzelt Möhre, Vbg.: gelbe Rübe; CH: Rüebli)[9]
- Pampelmuse (Grapefruit)
- pellen (schälen)
- Pellkartoffeln (A: ungebräuchlich; CH: Geschwellte, Gschwellti)
- Pomeranze (Zitrusfrucht, Bitterorange)
- rote Bete (A + süddt.: rote Rübe, Rohne; CH: Rande)
- Rotkohl (Blaukraut, Rotkraut)
- Sahne (Rahm, A: Obers, Rahm, wenn geschlagen: Schlagobers; CH: Nidle, gschwungni Nidle)
- Sprudelwasser (A: Mineralwasser, CH: Blöterliwasser)
- Weißkohl (A: Kraut, CH: Kabis, Weisskabis)
Haus, Haushalt
- bohnern (polieren mit Wachs, CH: blochen)
- Bohnerwachs (CH: Bodenwichse, A:Bodenwachs)
- Gardine als Überbegriff für eine Fensterdekoration (süddt., A, CH: Vorhang, auch im gesamten Sprachraum, A: Gardine ist ein Gattungsbegriff für einen Store, einen dünnen Fenstervorhang)[10][11][12][13]
- Mülleimer (A: Müllkübel, Mistkübel CH: Abfallkübel, Kehrichteimer, Kübel, „Güselchübel“)
- Nudelholz (A: Nudelwalker; CH: Wallholz, schwäb. Wellholz)
- Reinemachen (Saubermachen, A: Putzen)
- Schnürsenkel (jeweils ab BaWü & Bayern südwärts: CH, Vbg. exklusiv: Schuhbänd(e)l, Rest-A exklusiv: Schuhband, Schuhband(e)l)[14][15][16][17][18]
- Tüte (CH: Sack; A: Sackerl, Sack - je nach Größe)
Staatsverwaltung
Die national unterschiedliche Benennung staatlicher Funktionen und Einrichtungen ergibt sich aus der unterschiedlichen Rechtstradition der drei Staaten. Diese Begriffe sollten daher ebenso wenig als Teutonismen / Austriazismen / Helvetismen bezeichnet werden, wie man die Bezeichnung President für den obersten Staatsfunktionär der USA als Amerikanismus bezeichnen würde. Die folgende Liste enthält nur wenige Beispiele.
- Bundestag (A, CH: Nationalrat (Österreich), Nationalrat (Schweiz))
- Ministerpräsident (in A und CH nur für ausländische Regierungsschefs; für Chefs von Landesregierungen in Österreich Landeshauptmann, für Schweizer Kantonsregierungen [zum Teil] Landammann)
- Senator (Minister in einem der drei deutschen Stadtstaaten und gleichzeitig Dezernent der jeweiligen Stadt, Wien: amtsführender Stadtrat; Senator in A Ehrentitel für Universitätssponsoren)
- Oberbürgermeister (CH: Stadtammann, Stadtpräsident, A: Bürgermeister)
- Personenstandsregister (CH: Zivilstandsregister)
Ausbildung
- Abitur (A: Matura; CH: Matur(a))
- Abiturient (CH: Maturand, Maturi/Maturae; A: Maturant)
- Auszubildender bzw. Azubi (A: Lehrling, CH: Lehrling/Lehrtochter, auch in der bundesdt. Umgangssprache; CH: Stift (regional), CH: Lernende/Lernender (ersetzt seit neustem Lehrling))
- die Eins (A, bair.: der Einser, CH: der Einer)
- Federmappe (-mäppchen/-mapperl), Federtasche (NO-dt.), Mäppchen/Mäpple (W-dt.) (CH: (Schul-)Etui, auch NRW, Niedersachsen; A: Federpennal, Federschachtel)[19][20]
- Grundschule (A: Volksschule; CH: Primarschule)
- Klassenfahrt (A: Schulausflug; CH: Schulreise)
- Zensuren (Noten)
Armee
- Feldwebel (A: Wachtmeister; CH: Feldweibel)
- ...kommandeur (A: ...kommandant)
Kirche
- Küster (A + süddt.: Mesner; CH: Mesmer, Sigrist)
Verkehr
- Bahnübergang (A nur juristisch, CH: Eisenbahnkreuzung, Zugkreuzung)
- Bürgersteig (A: Gehweg, Gehsteig; A, CH: Trottoir)
- Oberleitungsbus (A: O-Bus; CH: Trolleybus)
- Omnibus (A, CH: Autobus; in der österreichischen Rechtssprache auch Omnibus)
- Vorfahrt (A: Vorrang; CH: Vortritt)
- Rückfahrkarte (CH: Retourbillett)
- Schaffner (CH: Kontrolleur, "Kondukteur")
Handel, Gewerbe, Berufe
- Geldautomat (A: Bankomat, CH: Bancomat)
- Kneipe, Wirtschaft (süddt. bis westdt.) (CH: Beiz, Spunte (Grbd.), A: Beisel, Gasthaus, Wirtshaus (auch östliches Bayern))[21]
- Schreibwarengeschäft (CH: Papeterie, A: Papierhandlung)
- Tarifvertrag (CH: Gesamtarbeitsvertrag/GAV A: Kollektivvertrag)
Sitten, Gebräuche
- anmahnen
- abmahnen
- Sonnabend (überwiegend nördlich von Bayern, überall und in A, CH exklusiv: Samstag)[9]
Freizeit
- Freizeit (Gruppenunternehmung über mehrere Tage; in A ungebräuchlich, Synonym nicht bekannt; CH: Lager)
Verschiedenes
- gerade mal (nur)
- hoch gehen (A, CH: hinaufgehen, nach oben gehen)
- Korinthenkacker (Besserwisser)
- Mensch! (als Ausruf)
- bislang (A: bisher)
- vor Ort (A: an Ort und Stelle, dort)
Literatur
- Ulrich Ammon, Hans Bickel, Jakob Ebner, et al.: Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Walter de Gruyter, Berlin 2004, ISBN 3-11-016575-9 (Gebunden, ISBN 3-11-016574-0 Broschur).
- Ulrich Ammon: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Berlin/New York 1995.
- Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Band III: 19. und 20. Jahrhundert, Berlin/New York 1999. S. 412–453.
Quellen
- ↑ Peter von Polenz: Österreichisches, schweizerisches und deutschländisches und teutonisches Deutsch. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik Nr. 24/1996, S. 205-220
- ↑ http://members.chello.at/heinz.pohl/OesterrDeutsch.htm
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich, Nachtessen, das, Substantiv, Kompositum, Bedeutung: Abendessen, Abfrage: 22. März 2008
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich, Nachtmahl, das; Nachmähler (PL.), Substantiv, Kompositum, Bedeutungg: Abendessen, Abfrage: 22. März 2008
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich, abendessen, Verb, Kompositum, Bedeutung: abendessen, Abfrage: 22. März 2008
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich deftig, Adjektiv, Simplex, Bedeutung: deftig, Abruf: 22. März 2008
- ↑ Stephan Elspaß, Robert Möller: Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) - Vierte Runde: Ergebnisse , Frühstück am Arbeitsplatz, 21. Dezember 2007
- ↑ Stephan Elspaß, Robert Möller: Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) - Vierte Runde: Ergebnisse , Feldsalat, 21. Dezember 2007
- ↑ a b Stephan Elspaß: Pilotprojekt „Umfrage zum regionalen Sprachgebrauch“, 10. November 2006
- ↑ Stephan Elspaß, Robert Möller: Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) - Vierte Runde: Ergebnisse , Sichtschutz bzw. Sonnenschutz, 21. Dezember 2007
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich: Gardine, die, Substantiv, Simplex, Bedeutung: dünner Fenstervorhang, Abruf: 22. März 2008
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich: Vorhang, der, Substantiv, Ableitung, Bedeutung: (dünner) Fenstervorhang, Abruf: 22. März 2008
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich: Store, der, Substantiv, Simplex, Bedeutung: dünner Fenstervorhang, Abruf: 22. März 2008
- ↑ Stephan Elspaß, Robert Möller: Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) - Vierte Runde: Ergebnisse , Schnürsenkel/Schuhband, 21. Dezember 2007
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich: Schuhbändel, das, Substantiv, Kompositum, Bedeutung: Schuhband, Abruf: 22. März 2008
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich: Schuhband, das, Substantiv, Kompositum, Bedeutung: Schuhband, Abruf: 22. März 2008
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich: Schuhbandel, das, Substantiv, Kompositum, Bedeutung: Schuhband, Abruf: 22. März 2008
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich: Schuhbandl, das, Substantiv, Kompositum, Bedeutung: Schuhband, Abruf: 22. März 2008
- ↑ Stephan Elspaß, Robert Möller: Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) - Vierte Runde: Ergebnisse , Behältnis für Schreibutensilien, 21. Dezember 2007
- ↑ Gregor Retti: Datenbank zur deutschen Sprache in Österreich: Federpennal, das, Substantiv, Kompositum, Bedeutung: Etui für Schreibzeug, Abruf: 22. März 2008
- ↑ Stephan Elspaß, Robert Möller: Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) - Vierte Runde: Ergebnisse , Kneipe, 21. Dezember 2007